Andreas Denk

Das Jahrhundert der Flüchtlinge

Er heißt Sissoko, ist 36 Jahre alt und kommt aus Mali. Er ist vor den Tuareg geflohen, die ihn und seine Familie erpresst und ihm mit dem Tod gedroht haben, über Libyen und das Mittelmeer nach Italien, von dort nach Deutschland: „Aber ich merke, dass ich auch hier nicht willkommen bin“… Sie heißt Egzona und ist zehn. Sie kommt aus dem Kosovo. Sie möchte einen guten Schulabschluss machen und dann studieren: „Dann kann ich mir irgendwann ein eigenes Zuhause leisten.“… Er heißt Mogbo, 30 Jahre alt und stammt aus dem Sudan… Er heißt Muhammed und kommt aus Marokko. Er ist 25 Jahre alt… Sie heißt Turha und kommt mit ihren 19 Jahren aus Somalia… Zais, 28, war Rechtsanwalt in Syrien und hat für Human Rights Watch gearbeitet. Jetzt ist er, wie die anderen auch, in Deutschland und lebt im Notaufnahmelager Herkulesstraße in Köln (www.wherearewegoing.net).

Der Krieg in Syrien führt das Schicksal von Flüchtlingen jeden Tag sehr deutlich vor Augen. Die Diskussion darum, die hierzulande und in Europa derzeit das öffentliche Leben prägt, ist längst fällig gewesen. Allerdings dürfte sie sich in Deutschland nicht darum drehen, ob und wie viele Flüchtlinge die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt aufnimmt. Eine Obergrenze für Flüchtlinge sei „absolut absurd“, hat der altersweise Heiner Geissler unlängst in einer Fernsehsendung gesagt. Und Elias Bierder, ehemaliger Chef von „Cap Anamur“ und Gründer des Hilfsprogramms „Borderline Europe“, meint, eine  möglichst umfassende Flüchtlingshilfe sei „ein Ruhmesblatt für unsere Gesellschaft“.

Die Komplexität von Lebenssituationen, die zu Flucht oder Auswanderung führen, sind oft so diffizil, dass sich mitunter nicht genau sagen lässt, ob ein Mensch in Not als Kriegs-, Katastrophen-, Klima-, Armuts- und politischer Flüchtling einzustufen ist: Im Ernstfall bilden mehrere Faktoren eine Kausalkette, die ihm ein Bleiben unmöglich gemacht hat. Ein Faktor trifft jedoch auf fast alle zu: Keiner verlässt seine Heimat gern.

In Deutschland hat man auf den Flüchtlingsstrom mit einer inoffiziellen und einer offiziellen Geste reagiert. Die halb-privaten Bürger- und Kircheninitiativen, die sich in vielen Städten gebildet haben, um die Ankömmlinge willkommen zu heißen, ihre Unterkünfte auszustatten, ihnen deutsche Sprachkenntnisse und Kontakte zu vermitteln, ihnen bei der Wohnungssuche zu helfen, sind die erfreuliche Seite der Medaille. Die offizielle Geste der Länder und Kommunen wirkt dagegen hilflos, weil sie durch Überforderung und Ideenlosigkeit geprägt ist. Die Unterbringung der Flüchtlinge in Notaufnahmelagern ist vielleicht ein Schritt, der aus der Situation heraus verständlich ist. Dass dabei aber Zeltlager zur Diskussion stehen und die Flüchtlinge mancherorts Angst vor Securities haben müssen, ist unerträglich. An einigen wenigen Stellen hat man versucht, durch die architektonische Gestaltung von Containersiedlungen (s. der architekt 5 / 14, S. 7) und ähnliches einen gestalterisch-räumlichen Mindestanspruch zu formulieren, um den Flüchtlingen und Migranten ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu ermöglichen: Sie müssen oft Jahre in solchen „Übergangsheimen“ leben, bis über ihr Bleiberecht entschieden worden ist.

Doch wie diejenigen, die bleiben dürfen und wollen, in das tägliche Leben in Deutschland integriert werden sollen, ist völlig unklar: Mit der Entwicklung einer langfristigen Integrationsstrategie sind – abgesehen von einigen wenigen und nicht auf Dauer angelegten „Leuchtturmprojekten – deutsche Behörden offensichtlich überfordert. Im Regelfall verweisen sie auf die ehrenamtlich tätigen Bürgerinitiativen. Das stimmt bedenklich, denn es ist nicht abzusehen, dass die Flüchtlings- und Zuwandererströme wieder abebben. Vielmehr geht man seit längerem davon aus, dass gerade die Zahl der so genannten Klimaflüchtlinge – jener also, deren Heimat aufgrund von Dürren, Wüstenbildung, steigendem Meeresspiegel und Küstenerosion unbewohnbar wird – in den kommenden Jahren enorm ansteigen wird. Der Hamburger Politikwissenschaftler Cord Jakobeit hat eine Wanderungswelle von bis zu 200 Millionen Menschen in den nächsten 30 Jahren vorausgesagt – wenn der Meeresspiegel erheblich ansteigen sollte.

Doch jenseits von Panikmache konstatieren alle Hilfsorganisationen eine zunehmende Bedrohung der Lebensressourcen: Im Zusammenspiel von schwindender menschlicher Sicherheit, schwacher Staatlichkeit und steigender Klimamigration wachse die Wahrscheinlichkeit für Gewaltkonflikte, hat eine Konferenz des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor einiger Zeit herausgestellt. Der Politik fehlt es indes nicht nur in Deutschland an geeigneten Instrumenten und Regeln, um vorausschauend und mit Bedacht auf die unterschiedlichen Formen der Migration einzugehen. Diejenigen, die über globale Wanderungen forschen, stehen nach eigenem Bekunden gerade erst am Anfang. Inzwischen jedoch ist es „allerhöchste Eisenbahn“, dauerhafte Konzepte zu entwickeln, wie man mit den weltweiten, erzwungenen und freiwilligen Wanderungen umgehen kann. „Ich glaube nicht, dass wir abwarten können“, hat die renommierte Migrationsforscherin Susan Martin von der Georgetown University in Washington kürzlich gesagt.

Genauso wichtig wie die globale Betrachtung ist es jedoch, Konzepte für den würdigen Umgang mit Menschen zu haben, die aus Lebensgefahr, aus Not, aus Verzweiflung mitunter ihr Leben riskiert haben, um in Deutschland sicheren Boden unter die Füße zu bekommen. Die respektvolle Integration ihrer Fähigkeiten, ihres Wissens und ihres Muts könnte auch eine Chance für die Entwicklung unseres gewohnten Gemeinwesens bieten. Das jedoch ist nicht allein eine politische Frage: Sie wird auch im Städtebau und durch Architektur entschieden. Egzona aus dem Kosovo wird es vielleicht einmal zu schätzen wissen…

Foto: Andreas Denk

 

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