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die augen

Und dann sind da noch zwei Augen. Sie blicken über den Rand des blauen Tuchs, das die untere Gesichtshälfte mit Nase und Mund bedeckt, weit geöffnet in die Welt. Gerahmt von Augenlidern mit Wimpern und Augenbrauen erkenne ich im weißen Augapfel mit der graugrüngelb schillernden Iris die kreisrunde schwarze Pupille. Ich kann mir den passenden Mund und die Nase dazu nicht vorstellen, selbst die Kinnpartie ist vom Tuch bedeckt. Die Augen sind weit offen, sodass das Weiße des Auges die Iris fast vollständig umgibt – nicht wie sonst, wo die Lider Teile des Auges lichtschützend verdecken. Dieser Mensch ist konzentriert. Er versucht, den Geruchssinn und die Sprachfähigkeit, die durch das Tuch beeinträchtigt sind, durch eine Steigerung der Sehanstrengung zu kompensieren. Der Mensch ist ganz Augenmensch geworden.

Die Reduktion der Physiognomie unseres Gegenübers auf die obere Gesichtspartie ist die Folge der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes (MNS) in öffentlichen Verkehrsmitteln und an anderen Orten, die für viele zugänglich sind. Nach fünf Monaten Pandemie ist die „Maske“, die gar keine ist, zu einem weltweit üblichen Kleidungsstück geworden.

Die Beobachtung, die ich am Gesicht eines unbekannten Gegenübers gemacht habe, gibt meine Wahrnehmung wieder. Ähnlich könnte ich auch eine Landschaft oder ein Gebäude beschreiben. Diese Form der Wahrnehmung ist eindeutig an mein Bewusstsein gekoppelt, das es ermöglicht, den visuellen Reiz der Gesichtsform meines Gegenübers in einer mehr oder weniger objektiven sprachlichen Form zum Ausdruck zu bringen. Zugleich aber hat der Blick in die Augen eine zweite Komponente. Man muss nicht unbedingt soweit gehen, dass es der Blick in die Seele des Menschen sei. Die Augen sind nicht nur Wahrnehmungs-, sondern auch Ausdrucksorgane. Wir sind von Geburt an daran gewöhnt, den Gesichtsausdruck anderer Menschen durch das Zusammenspiel von Mund, Nase und Augen als Ausdruck einer Stimmung zu interpretieren. Eine ge­kräuselte Stirn, zusammengezogene Augenbrauen und geschürzte Lippen verstehen wir als Ärger oder Missbilligung des anderen. Hochgezogene Lippenenden, gefältelte Nasolabialfalten und offene Augen interpretieren wir als Lächeln oder Lachen und damit als freundliche Stimmung des Gegenübers.

Die „Maskenpflicht“ der Corona-Pandemie erschwert die Interpretation der Physiognomien unserer Mitmenschen, weil das Zusammenspiel der Gesichtsmuskeln nicht mehr sichtbar wird. Freude, Ärger, Zustimmung, Ablehnung, Zuneigung oder Abscheu, Liebe oder Hass, alle Empfindungen, die unklarer, subjektiver, weniger an das Bewusstsein gebunden sind als die Wahrnehmung, vermitteln sich jetzt nur über Augen und Augenbrauen. Die Wahrnehmung dieser Empfindungen prägt uns seit frühester Kindheit. Die zivilisatorische Überforderung der Menschen in den bestehenden Massengesellschaften aber lässt mitunter die Feinfühligkeit verlorengehen, die wir eigentlich für menschliche Stimmungen haben. Angesichts von Hunderten Blickkontakten mit Menschen auf der Straße fehlt uns die Kapazität für die Aufnahme von mehr als einigen wenigen aus der Masse der physiognomisch gesteuerten Gefühlsausdrücke. Der Blick ins Gesicht des Fremden ist selten geworden.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Untersuchungen von Adam Adamson am Cornell College of Human Ecology 2014 legen nahe, dass viele Effekte der Mimik im Laufe der Evolution entwickelt worden sind. Die Augen des Menschen weiten sich bei Angst oder Schrecken, um den Lichteinfall zu erhöhen und das Gesichtsfeld zu erweitern. Bei Ekel werden unsere Augen schmaler, verringern so den Lichteinfall und lassen das Objekt des Abscheus besser fokussieren. Diese Verbindung zwischen Umweltwahrnehmung und Körperreaktion haben die Menschen offenbar im Laufe der Evolution auch auf soziale Beziehungen übertragen. Anderson glaubt, eine Teillösung gefunden zu haben, warum die Augen eine Basis sind, um die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu „lesen“.

Wir können es also noch. Der Blick in die Augen reicht aus, um Neugierde, Trauer, Freude, Zuneigung oder Hass, Schrecken oder Langeweile intuitiv zu erkennen. Eine andere Studie der National Institutes of Natural Science in Tokyo hat 2015 festgestellt, dass einander unbekannte Versuchspaare nach einer kurzen Zeit des gegenseitigen Anblickens begannen, zur gleichen Zeit zu blinzeln. Die Forscher schlussfolgerten daraus, dass der gegenseitige Augenkontakt eine entscheidende Komponente für soziale Interaktionen ist und es Individuen ermöglicht, sich zu einem singulären sozialen System zusammenzuschließen. Ein ähnliches Ergebnis ergaben 2017 auch Testreihen an der Universität Cambridge / Mass. mit Eltern und ihren Babys, deren Gehirnwellen sich bei wechselseitigem Augenkontakt miteinander synchronisiert haben. Dieser Effekt scheint Kommunikationsbereitschaft zu bewirken – ähnlich wie der „Augengruß“, bei dem wir, auf mehrere Meter erkennbar, die Augenbrauen für etwa eine Sechstelsekunde heben und dann wieder senken, was der Verhaltensethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt in den 1960er Jahren als atavistischen Ausdruck „freudigen Wiedererkennens“ interpretierte.

Insofern kann der pandemisch erzwungene Umgang mit uns selten bewussten, meist nur empfundenen nonverbalen Kommunikationsformen ein Hinweis zu einem erneuerten Baustein für unser Zusammenleben sein. Die Humanethologie geht davon aus, dass solche angeboren geltende Verhaltensgrundlagen durch Erziehung und kulturelle Prägung verstärkt werden, wenn sie sozial vorteilhaft sind. Andere Eigenschaften können sich als hinderlich für das Zusammenleben erweisen und durch kulturelle Einflüsse abgeschwächt oder überlagert werden. Deshalb können unsere Städte nicht nur aus Häusern und dem Raum dazwischen bestehen. Sie brauchen den öffentlichen Raum, der den Kontakt zwischen Freunden und Fremden ermöglicht. Nur hier kann (auch) die Sprache der Augen einen offenen Kontakt, ein lautloses Einverständnis oder vielleicht auch eine stille Auseinandersetzung mit anderen ermöglichen. Auf solche subtilen Begegnungen sind wir nämlich angewiesen, wenn es auch in Zukunft mit unserer polyethnischen Gesellschaft „gutgehen“ soll.
Andreas Denk

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