Regine Leibinger im Gespräch mit Juliane Richter und David Kasparek

Geheimnis im Innern

Prof. Dipl. Ing. Regine Leibinger (*1963) studierte Architektur an der Technischen Universität Berlin und an der Harvard University. 1993 gründete sie mit Frank Barkow das Büro Barkow Leibinger in Berlin mit den Schwerpunkten öffentliche Bauten, Bürogebäude sowie Bauten für Produktion, Logistik und Verwaltung. Regine Leibinger lehrte unter anderem an der Architectural Association in London und der Harvard University. Seit 2006 ist sie Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an der TU Berlin.

Wir treffen Regine Leibinger an einem Ort nahe Berlin, der sich dennoch nach „janz weit draußen“ anfühlt: Der Park Sacrow in Potsdam, von der Havel begrenzt, die sich hier zum Jungfernsee verbreitert; gegenüber können wir Glienicke und den Neuen Garten erkennen. Das Areal wurde 1840 von König Friedrich Wilhelm IV. erworben und von Peter Joseph Lenné zum Landschaftspark umgestaltet. Ziel unseres Spaziergangs ist die 1844 nach Plänen von Ludwig Persius im neo-romanischen Stil errichtete Heilandskirche, die, auf einer kleinen Landzunge liegend, in den See hineinragt.

Juliane Richter: Frau Leibinger, warum haben Sie sich diesen Treffpunkt ausgesucht?
Regine Leibinger: Es ist ganz einfach schön hier. Verschiedene Dinge kommen zusammen: das Wasser, die Natur, die Beziehung zwischen Architektur und Landschaft, die Ruhe und das Geräusch des Schilfs – das berührt und verzaubert mich. Für mich ist der Begriff der Schönheit allerdings nicht objektiv, sondern immer subjektiv. Die Heilandskirche ist in meinen Augen eine schöne Architektur. Das bewegt einen im Innersten, daher ist es gerechtfertigt zu sagen: Das ist schön. Es ist sehr schwierig, zeitgenössische Architektur zu finden, über die man das sagen kann.

Regine Leibinger, 2009, Foto: Corinne Rose

Regine Leibinger, 2009, Foto: Corinne Rose

David Kasparek: Was genau bewegt Sie hier?
Regine Leibinger: Als Architektin fasziniert mich die Situation sehr: Man schaut sich den Umlauf der Kirche an, die Materialien, die Lage. Die Architektur kommt in diesem Fall zusammen mit der Landschaft – und man stellt fest: Das Gesamtbild stimmt, es gibt eine Harmonie.

David Kasparek: Geht es auch Nicht-Architekten so?
Regine Leibinger: Ja, ganz bestimmt, sie berührt es vielleicht unter anderen Aspekten. Das ist oft so bei Ikonen, sie faszinieren Laien genauso…

Juliane Richter: Ist dieser Eindruck objektivierbar, so dass sich bestimmte Prinzipien daraus ableiten lassen? Warum empfinden viele Menschen ähnlich?
Regine Leibinger: Viele Menschen haben ein ähnliches Verlangen nach Ausgewogenheit und Ruhe. Da geht es um Stimmung und Gefühle, es fühlt sich richtig oder gut an. Bei der Heilandskirche ist die Gesamtsituation stimmig: die Lage, der Ort, die Säulenreihe, der Baukörper, der wie ein Schiffsbug ins Wasser ragt, die Verzierungen der Säulen. Das führt mich zu einem anderen wichtigen Aspekt der Schönheit: Ein Bauwerk ist schön, wenn das Handwerkliche, die Detaillierung und das Durchdenken stimmt. Hier ist alles durchdacht, wie bei einem Gesamtkunstwerk.

David Kasparek: Ist das Beherrschen des Handwerks eine Grundlage dafür, etwas Schönes zu schaffen?
Regine Leibinger: Hier kann ich mit einem Beispiel aus der Kunst antworten: Donald Judd ist Nicht-Kennern vielleicht nicht so leicht vermittelbar, aber wir könnten ihnen erklären, dass seine Kunst hervorragend detailliert ist und sein Minimalismus aus dem Handwerk herrührt. Ich glaube, es spricht einen an, wenn man weiß: Das ist gut gemacht, es fühlt sich gut an, man kann es anfassen – das berührt viele Sinne.

Juliane Richter und Regine Leibinger im Gespräch, Foto: David Kasparek

Juliane Richter und Regine Leibinger im Gespräch, Foto: David Kasparek

Juliane Richter: Braucht es manchmal Wissen und Beschäftigung mit der Kunst, damit man sie schön findet?
Regine Leibinger: Sicherlich, aber dann ist es kognitiv. Dann weiß man, wo es herkommt – und trotzdem berührt es einen vielleicht immer noch nicht…

Juliane Richter: Wo ist die Grenze zum Kitsch, der ja auch viele Menschen berührt?
Regine Leibinger: Die Grenze ist schmal. Zum Beispiel das Berliner Schloss: Das ist totaler Kitsch. Es berührt jedoch die Menschen, deswegen wollen es so viele wieder haben.

David Kasparek: Vermissen Sie einen Appell zur Schönheit in der Moderne-Kritik? Es werden zwar Kriterien der Moderne kritisiert, aber einen Aufruf zur Schönheit gibt es nicht – und wenn, kippt es eben schnell in Richtung Kitsch…
Regine Leibinger: …das ist auch eine Frage der Zeit. Derzeit gibt es ein absolutes Revival von 1960er-Jahre-Architektur, die noch vor 15 Jahren verfemt war. Es ist gut, dass sie verstärkt Aufmerksamkeit bekommt, auch wenn es vielen noch schwer fällt, sie „schön“ zu finden. Der bloße Begriff der Schönheit wird nicht gern angefasst, weil er so subjektiv ist.

Juliane Richter: Dabei sind einige Ästhetiker der Überzeugung, dass er auch objektiv betrachtet werden kann.
Regine Leibinger: Jetzt, genau in diesem Moment, mag er einem auch objektivierbar vorkommen: Wir stehen zusammen an der Heilandskirche, sind uns einig, haben ähnliche Auffassungen, alles scheint zu stimmen – der Raum, die Proportionen. Trotzdem gilt das nicht für jeden zu jeder Zeit. Denken Sie an die Grenzsoldaten der DDR, die ihre Betonplatten direkt an den Glockenturm angebaut haben und hier auf Leute geschossen hätten, um sie an der Flucht zu hindern. Denen war unsere Vorstellung von der Schönheit dieses Ortes völlig egal. Schönheit funktioniert für mich nicht als absoluter Begriff. Ich bin so erzogen und ausgebildet worden, dass man Dinge begründen muss. Nur die Form hinzuwerfen und zu sagen: „Das ist schön“, befriedigt mich nicht. Man muss eine solche Aussage immer wieder hinterfragen. Man ändert sich selbst mit der Zeit, und damit ändert sich die Idee von Schönheit. Vor zehn Jahren hätte ich nicht unbedingt den Wunsch gehabt, am Wochenende in eine solche Idylle zu fahren, da war der Kurfürstendamm „schön“. Heute ist es mir ein Bedürfnis, der Dichte der Stadt zu entkommen. Man bekommt mit dem Älterwerden eine andere Sensibilität und ordnet die Dinge anders, weil man schon viel gesehen und Erfahrungen gesammelt hat.

Ludwig Persius, Heilandskirche am Port von Sacrow, Potsdam-Sacrow 1841 – 1844, Foto: David Kasparek

Ludwig Persius, Heilandskirche am Port von Sacrow, Potsdam-Sacrow 1841 – 1844, Foto: David Kasparek

Juliane Richter: Inwiefern spielt Ihr Begriff von Schönheit in Ihrem Schaffen eine Rolle?
Regine Leibinger: Der Raum, die Materialität und die richtige, angemessene Reaktion auf die Aufgabe ist uns ein großes Anliegen. Kürzlich habe ich in einem Interview mit der Choreographin Lucinda Childs gelesen, wie eine Kostümbildnerin nach einem Stück von ihr zu ihr kam und sagte, es sei „einfach schön“. Childs war glücklich über diesen Kommentar, meinte aber, sie gehe nicht ins Studio mit dem Ziel, etwas Schönes zu schaffen, sondern etwas, dass richtig ist und zum richtigen Zeitpunkt gemacht wird. Architekten – auch wir – werden immer mehr auf Fassaden reduziert, oft kommen wir gar nicht mehr zu den Innenräumen. Wenigstens spielen die Fassaden stark in den Stadtraum hinein. Unser Projekt des ‚Tour Total‘ beispielsweise ist städtebaulich bewusst gesetzt, die Fassade soll „etwas“ mit dem Stadtraum machen, je nach Lichteinfall erscheint sie immer anders. Wenn wir Rückmeldungen von Leuten erhalten, die mit der S-Bahn daran vorbeifahren und gern hinschauen, freut uns das. Unser Hauptanliegen ist immer noch, dass sich jemand in diesen Räumen wohlfühlt, dort gut arbeiten und leben kann. Die Architektur gibt ihnen etwas zurück, sie ist also nicht nur für uns relevant, sondern auch für andere. Darin liegt auch ein Aspekt des Schönheitsbegriffs.

Juliane Richter: Haben Sie schon einmal ein Gebäude geplant, das Ihrer heutigen Vorstellung vom „Gut-Gemachten“ nicht mehr entspricht? Hat sich Ihre Einschätzung des eigenen Werks im Laufe Ihrer Arbeitsbiographie verändert?
Regine Leibinger: Früher waren wir sicher radikaler. Bei der ‚Biosphäre‘ in Potsdam stand neulich zur Debatte, ob sie abgerissen wird – wenn nach 16 Jahren so etwas passiert, fragt man sich schon, ob man etwas falsch gemacht hat. Aber ich finde das Gebäude nach wie vor sehr gut, obwohl es ziemlich heruntergekommen ist. Das jedoch ist jenseits unserer Kontrolle. Wenn das Budget knapp ist und das Handwerk nicht richtig ausgeführt wird, kommen die Dinge herunter – und sind nicht mehr schön. Die Heilandskirche hat Substanz und ist sehr aufwendig gearbeitet, sie wurde mühevoll und sicher auch sehr teuer saniert – und deshalb steht sie jetzt so makellos da. Es ist ein Problem der Architektur heute, dass sie für viel zu kurze Zeit gedacht wird.

Barkow Leibinger, Fellows Pavilion der American Academy, Berlin 2014 – 2015, Foto: Corinne Rose

Barkow Leibinger, Fellows Pavilion der American Academy, Berlin 2014 – 2015, Foto: Corinne Rose

David Kasparek: Es ist auch eine Frage, ob man die Patina der Architektur mitdenkt…
Regine Leibinger: …und wie sie benutzt oder eingesetzt wird. Rückblickend würde ich vielleicht manche Details anders planen. Beispielsweise haben wir 1997 ein Jugendfreizeitheim in Buchholz gebaut, das ich heute mit diesen feinen Materialien nicht mehr bauen würde, sondern mit mehr Beton. Die Jugendlichen gehen anders mit Materialien um, die möchten mal etwas bemalen, besprühen. Aber als junger Architekt will man alles hineinbringen, was man gelernt hat, und alle Ideen loswerden, weil man froh ist, endlich bauen zu können. Heute sehe ich manches anders. Wichtig ist, auch mit einfachen Mitteln gute Architektur zu machen.

Juliane Richter: Hat Schönheit auch etwas mit Geld zu tun?
Regine Leibinger: Ja natürlich. Und mit Reglementierung, die es der Schönheit nicht einfacher macht. Damit Investoren möglichst unkompliziert kleinere und größere Büros einbauen können, geben sie Rasterfassaden von 1,35 Metern vor. Es gibt die neue Wärmeschutzverordnung, die einen bestimmten Anteil von geschlossener zu offener Fassade vorgibt. Das führt zur Gleichmacherei, deshalb sehen unsere Städte heute so aus, wie sie aussehen.

Juliane Richter: Wie kommen Sie zu Ihrer Auffassung von Schönheit, hatten Sie Vorbilder und wovon wurden Sie geprägt?
Regine Leibinger: Ich wurde im Studium sehr geprägt. An der TU Berlin zum Beispiel von Jörn-Peter Schmidt-Thomsen in den achtziger Jahren, der uns auf Werner Düttmann und Ludwig Leo aufmerksam machte. Es war ideal, in Berlin zu studieren, weil es hier alles gibt – vom Klassizismus über die Zwanziger-Jahre-Architektur bis hin zu allem, was damals neu war – kurz: bahnbrechende Beispiele, die man studierte. In Amerika habe ich auch viel gelernt, zum Beispiel über den schwedischen Architekten Sigurd Lewerentz. Dabei wurde ich für Raum und Materialität sensibilisiert. Später kam noch die Zusammenarbeit mit meinem Mann, Frank Barkow, hinzu. Ich bin in einem modernen Haushalt aufgewachsen – wir waren umgeben von schönen Dingen, auch Knoll-Möbeln, das prägt. Wäre ich im „Gelsenkirchener Barock“ aufgewachsen, hätte ich eine andere Prägung.

Ludwig Persius, Heilandskirche am Port von Sacrow, Potsdam-Sacrow 1841 – 1844, Foto: David Kasparek

Ludwig Persius, Heilandskirche am Port von Sacrow, Potsdam-Sacrow 1841 – 1844, Foto: David Kasparek

David Kasparek: Wenn das Schöne etwas ist, das emotional berührt, ist es Ihr Ziel, Gefühle zu wecken?
Regine Leibinger: Es ist ein hohes Ziel, dass Architektur andere Menschen so bewegt wie sie uns selbst bewegt – dass die Architektur berührt. Ein Beispiel: Ich war kürzlich wieder einmal in der Louis-Kahn-Bibliothek in Exeter – und war sprachlos. Wenn man selbst Architektur macht und weiß, wie schwer es ist, gute Architektur zu machen, kann man solche Leistungen ganz anders wertschätzen. Ich habe großen Respekt vor Architekten, die so etwas hinbekommen. In solchen Momenten ist Architektur wirklich nichts als Emotion. Dazu passt, was die Künstlerin Agnes Martin gesagt hat: „Wenn ich an Kunst denke, denke ich an Schönheit. Schönheit ist das Geheimnis des Lebens, sie liegt nicht im Auge, sondern im Inneren. In unserem Inneren liegt das Geheimnis von Vollkommenheit.“ Es geht wirklich um’s Gefühl – warum sollen wir das nicht einfach mal so stehen lassen?

Juliane Richter M.A. studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und Journalistik an der Universität Leipzig. Sie arbeitet als Journalistin, für den D21 Kunstraum und weitere Kunst- und Kulturprojekte in Leipzig. Derzeit ist sie Volontärin bei der architekt.

Dipl.-Ing. David Kasparek (*1981) studierte Architektur in Köln. Er war Mitarbeiter an der Kölner Kunsthochschule für Medien und als Gründungspartner des Gestaltungsbüros friedwurm: Gestaltung und Kommunikation als freier Autor, Grafiker und Journalist tätig. Nach einem Volontariat in der Redaktion von der architekt ist er dort seit 2008 als Redakteur beschäftigt. David Kasparek lebt und arbeitet in Berlin.

Fotos: Corinne Rose/David Kasparek/Stefan Müller

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