Buch der Woche: Vertiefte Einblicke in kalifornische Lebenskunst

Erlebte Geschichten

Im Juni 2017 machten sich der Kunsthistoriker und Kurator der Architektursammlung des Wien Museums, Andreas Nierhaus, ein ausgemachter Fachmann für Wohnkultur der Moderne, und Architekturfotograf David Schreyer, seines Zeichens ausgebildeter Architekt, auf die Suche nach vertieften Einblicken „in eine hochentwickelte Wohnkultur der 1930er bis 1960er Jahre“. Unternommen werden sollte der Versuch, die zu Ikonen der Architektur und Architekturfotografie verklärten Bauten des österreichisch-stämmigen Architekten Richard Neutra vor den Zeichen unserer Zeit neu zu beleuchten.

Richard Neutra, Oyler House, Lone Pine, 1959. Foto: David Schreyer

Richard Neutra, Oyler House, Lone Pine, 1959. Foto: David Schreyer

Ausgangspunkt für Nierhaus‘ und Schreyers Reise nach Los Angeles war nach eigenem Bekunden also nicht, die bekannten ikonischen Bauten des „LA Modernism“ ein weiteres Mal in ihrer auf Flächen und Kanten reduzierten Abstraktion zu zeigen, sondern sie auf ihren tatsächlichen Gebrauchswert als sparsame Häuser im Hier und Jetzt ebenso abzuklopfen, wie ihre Zukunftsfähigkeit als unkompliziert konzipierte Versprechen eines „Neuen Wohnens“ zu überprüfen. Zunächst nur auf der Suche nach Bauten aus der Feder Neutras, erweiterten die Reisenden ihren Fokus bald auf weitere Zeitgenossen der kalifornischen Moderne in und um LA: Es folgten Bauten von Rudolph Schindler, im Weiteren dann auch mehr oder weniger bekannte Protagonisten wie Ray Kappe, John Lautner, A. Quincy Jones – nicht zu verwechseln mit dem legendären Songwriter und Produzenten gleichen Namens – und Whitney R. Smith, Craig Ellwood, Leland Evison oder Gregory Ain.

Richard Neutra, Miller House, Palm Springs, 1936/37. Foto: David Schreyer

Richard Neutra, Miller House, Palm Springs, 1936/37. Foto: David Schreyer

Natürlich sind die Klassiker Neutras und Schindlers dabei: Miller House in Palm Springs und McIntosh House in Silver Lake von Neutra, oder Lechner House in Studio City und Oliver House ebenfalls in Silver Lake von Schindler. Doch schon diese scheinbar bekannten Häuser wirken durch die Linsen von David Schreyer neu, ja teils ungesehen. Zum einen weil, wie im Text verdeutlicht, sich die Bewässerungssituation auf der einen und die Düngemitteltechnik auf der anderen Seite so gewandelt haben, dass die Vegetation rund um die Bauten in den meisten Fällen sehr üppig ist, zum anderen, weil sie hier eben nicht als mehr oder minder belebte Musterhäuser des „Neuen Wohnens“ dargestellt werden, sondern tatsächlich genutzte Räume des alltäglichen Lebens geworden sind. Das sind zum einen sehr schöne Fotos, zum anderen aber erhellende Aufnahmen.

Richard Neutra, Ohara House, Silver Lake, Los Angeles 1961. Foto: David Schreyer

Richard Neutra, Ohara House, Silver Lake, Los Angeles 1961. Foto: David Schreyer

Den teils intimen Einblicken in das Leben der heutigen Bewohnerinnen und Bewohner stellt das Buch die Texte von Andreas Nierhaus gegenüber. Sie ergänzen die Nähe, die Schreyers Bilder aufbauen, kongenial, beruhen sie doch nicht nur auf dem Wissen um die Bauten und ihre Bedeutung selbst, sondern auf Gesprächen mit ihren Nutzerinnen und Nutzern. Die Texte beschreiben die Bauten, ordnen sie historisch ein und legen dar, in welchem Gebrauch sie sich heute befinden. So Nierhaus die entsprechenden Rückschlüsse zwischen Intention der Architekten damals und dem Ist-Zustand heute nicht selbst zieht, stellen sie sich unmittelbar durch die Zusammenschau aus Bild und Text ein. Abgerundet wird das auch grafisch schön in Szene gesetzte Buch durch fein aufbereitete Grundrisszeichnungen aller gezeigten Häuser im Maßstab 1:200. Alle Zeichnungen sind einer gemeinsamen Legende zugeordnet, so dass diese Sammlung einmal mehr einen tatsächlich vergleichenden Charakter erhält und sich ablesen lässt, wo jeweils Wohnraum, Küche, Ess- und Schlafraum, Bad, Garage und Studio angeordnet sind. Alleine diese Zusammenschau hätte das Buch gelohnt.

Richard Neutra, McIntosh House, Silver Lake, Los Angeles 1937–1939. Foto: David Schreyer

Richard Neutra, McIntosh House, Silver Lake, Los Angeles 1937–1939. Foto: David Schreyer

Die Autoren machen aber dankenswerter Weise schon in ihrem klugen Einführungsbeitrag auf die absurd anmutende Dialektik aufmerksam, in der sich diese Ikonen gewordenen Bauten stets bewegten. Zwar schwangen sich Shulman und Neutra auf, die Bauten durch die Fotografien und ihre Verbreitung mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz aufzuladen, doch spielen sie, meist gut versteckt hinter üppigem Grün, im Bild der Stadt ebenso keine Rolle wie in der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen. Die Häuser, die dank Shulmans Kamera rund um die Welt gingen, waren stets nur einem sehr kleinen Kreis von Menschen zugänglich, die zudem fast ausschließlich dem reichen weißen Amerika entstammten. So werden aus den unnahbaren Inkunabeln des „Los Angeles Modernism“ durch den Wiederbesuch von Schreyer und Nierhaus Häuser, die den ihnen innewohnenden Gebrauchswert jenseits einer rein formalästhetisch oder assoziativ-räumlichen Oberflächlichkeit offenbaren und als tatsächliche Anschauungsobjekte für heutige Architekturproduktion dienen können.
David Kasparek

David Schreyer, Andreas Nierhaus: Los Angeles Modernism Revisited. Häuser von Neutra, Schindler, Ain und Zeitgenossen, 256 S., 199 farb. und sw. Abb. und Grundrisse, gebunden, 48,- Euro, Park Books, Zürich 2019, ISBN 978-3-03860-160-9

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