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Was s-pricht dageegen?!

Auf der Reeperbahn nachts um halb eins kann man auch heute noch in kurzer Zeit fast ohne eigenes Zutun viele Bekanntschaften machen. Nur ein paar Meter Weg auf der Davidstraße reichen aus, um 40 neue Freundinnen zu haben, die „eigentlich nur eine Minute reden möchten“ oder wissen wollen, ob man „vielleicht ein paar Minuten mit aufs Zimmer“ ginge. „Was spricht dagegen?!“, heißt der Standardschlusssatz der intensiven Kurzansprache der Frauen, die bei der Herrgottskälte dieser Tage mit Moonboots, Strumpfhosen, kurzen Röcken, Hotpants und knappen Oberteilen nicht vollständig zweckmäßig bekleidet sind. Beteuerungen, dass etwas dagegen spricht, und Erklärungen, was das sei, wirken, auch wenn sie stimmen, in diesem Zusammenhang unbeholfen.

Auf dem Schaubudenplatz wird es etwas ruhiger: Hier begegnet man abends wie morgens den gruppenweise anrückenden Touristen, die ausschwärmen, um die soziale und funktionale Gemengelage Sankt Paulis zu erkunden. In einem der Musikclubs, in denen sich bis spät in die Nacht Combos aller Tonarten versuchen, spielen leicht überalterte Hardrocker alte ACDC- und Black-Sabbath-Nummern gar nicht mal schlecht nach. Gut fünfzig meist junge Leute, Studenten, Touristen, Profi-Trinker sind noch da. Einige Vollstrategen haben schon glasige Augen, einer versucht, für Sekunden mit Erfolg, einen Bierkrug auf dem Kopf zu balancieren und gleichzeitig im Takt zu wippen. Im Vordergrund tanzen zwei Zuhälter mit ihren Nutten, die nach einer Viertelstunde Aufwärmzeit zur Weiterarbeit in die kalte Nacht abgeführt werden. Gegenüber flackert das „Klubhaus“ mit seiner knalligen, aber dem Ort angemessenen Medienfassade, zwei Pärchen stehen vor der „Boutique Bizarre“, „Hamburgs größtem Fachgeschäft für alles, was unter der Gürtellinie ist“ (wie die „Hamburger Morgenpost“ meint) und bestaunen die SM-Auslagen, ein paar Jungs haben sich im „Imbiss Lucullus“ mit Currywürsten eingedeckt, andere sind auf dem Weg in den „Silbersack“ oder zum „Home of Burlesque“ in der Gerhardstraße. „Dageegen s-pricht“ nichts.

Die Melange von Typen und Originalen, Situationen und Begebenheiten ist das, was den Hamburger Stadtteil St. Pauli immer ausgezeichnet hat: „Milieu“ ist das richtige Wort dafür, auch wenn es in Wirklichkeit im sozialwissenschaftlichen Sinn um das Aufeinandertreffen verschiedener „Milieus“ geht. Inzwischen fürchten viele Paulianer eine Eventisierung und Gentrifizierung ihres Stadtteils: Die Existenz der „Planbude“ ein paar Häuser neben der Davidswache zeigt, wie labil das Gleichgewicht der Interessen von Szene und Immobilienentwicklern, Kultur und Kommerz, Underground und Tourismus eigentlich ist. Dieses legendäre Self-Made-Bürgerbeteiligungsbüro in einem Container vor dem Bauzaun des Areals der inzwischen abgerissenen „Esso-Häuser“ kündet immer noch vom Willen der Paulianer, die Gentrifizierung ihres Stadtteils nicht widerstandslos hinzunehmen. Jetzt ist das Büro meist geschlossen, aber immer mittwochs kann man noch hierher kommen, um sich über Planungen zu informieren und Beschwerden vorzubringen.

Foto: Andreas Denk

Der Wandel des Stadtteils geschieht schleichend, aber unübersehbar: Im Westen wird St. Pauli heftig von BotheRichterTeheranis monumentalen „Türmen“ angetanzt, die die Restformate des Spielbudenplatzes vorstädtisch erscheinen lassen. Zur Elbe hin hat David Chipperfield mit dem 75 Meter hohen Empire Riverside Hotel, das seit 2005 die ehemalige Bavaria-Brauerei ersetzt, der St. Pauli Gemengelage ebenfalls einen mehr oder minder gelungenen Schlusspunkt verpasst. Dort entstand auch ein neues Wohnquartier mit 300 Wohnungen und zwei Bürotürme mit 55.000 Quadratmetern Büros, Einzelhandel und Gastronomie. Das „neue“ St. Pauli um den Gebrüder-Wolf-Platz im Südwesten wirkt so, wie viele neue Quartiere in Deutschland: In einem Rutsch ge-plant, gebaut und bezogen, haben sie und ihre Bewohner nichts mehr von Kiez oder Milieu. Nicht einmal eine soziale Mischung oder ein lebendiger öffentlicher Raum lassen sich rund um die qualitativ guten Wohnbauten feststellen. Am Hans-Albers-Platz, ebenfalls Prostituierten-Standort und am Wochenende Zentrum der nächtlichen Partymeile, und anderswo auf Sankt Pauli werden inzwischen mitunter 16 bis 18 Euro Kaltmiete je Quadratmeter verlangt, was auf Dauer nicht ohne Auswirkungen bleiben wird. Schon jetzt denkt man darüber nach, wie sich der Platz tourismusfreundlicher gestalten ließe.

Kritiker werfen der Stadt vor, nicht nur den St. Pauli Kiez, sondern die gesamte Stadtentwicklung allein unter dem Blickwinkel einer möglichst profitablen Positionierung im internationalen Standortwettbewerb und im Kampf um die Ansiedlung neuer Investoren und Konzerne zu betrachten. Feststellbar sei schon jetzt eine Verdrängung von Schlechterverdienenden, Hartz-IV-Empfängern und Migranten aus dem Rotlicht-Stadtteil. Immerhin kann die „Planbude“ einen Erfolg vorweisen: Beim Gesamtkonzept für die Neubauten, die nach Plänen von mehreren Architekten anstelle der „Esso-Häuser“ entstehen sollen, haben Anne-Julchen Bernhard und Jörg Leeser (BeL Architekten, Köln) eine Unterbringung aller Cafés und Kneipen berücksichtigt, die bisher hier ansässig waren. Das Stückchen Stadt kommt zwar auch nicht ohne ein Hochhaus aus, hat aber mit seiner hochverdichteten Struktur am ehesten die Chance, ein neuer Teil des alten St. Pauli zu werden. „Was s-pricht dageegen?!“

Andreas Denk

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