Homo spatialis?
Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“ (1957) zählt zu den einflussreichsten philosophischen Werken über die Beziehung des Menschen zum Raum, insbesondere zum bewohnten Raum. Mit feinem Gespür untersucht Bachelard, wie Menschen Räume wahrnehmen und sie emotional wie psychologisch erleben. Dabei legt er den Fokus auf die tiefe Verbindung zwischen räumlichen Erfahrungen, menschlicher Existenz und Identität. Der Sozialgeograph Thomas Dörfler greift diese Überlegungen auf und fragt in seinem Beitrag, ob Bachelards Vorstellungen auch heute noch Gültigkeit besitzen – in einer Zeit, die mitunter von zunehmender Mobilität, Ausdifferenzierung und flüchtigen Räumen geprägt ist.
Je suis l’espace où je suis („Ich bin der Raum, wo ich bin“)
– Noël Arnaud
Lange Zeit fristete der Raum ein Schattendasein in den Debatten der Sozial- und Kulturwissenschaften. Dies hat sich seit den frühen 2000er-Jahren grundlegend gewandelt und man spricht seit dieser Zeit sogar von einem spatial turn, der sich in diesen Disziplinen ereignet haben soll. Gemeint ist damit, dass es mittlerweile als unproblematisch angesehen wird, bei räumlichen Aspekten des Lebens – etwa Wohnen, Treffen oder Bilden – den Einfluss spatialer Konstituenten selbst zu beachten und angemessen zu theoretisieren, also den Einfluss des Räumlichen auf das Soziale zu thematisieren. Dies war, etwa in der Soziologie oder der Humangeographie, bis vor circa 20 Jahren diskursiv nahezu unmöglich – man hätte sich unweigerlich Vorwürfe der Essentialisierung, der quasi-metaphysischen Ontologisierung oder des reaktionären Denkens eingefangen. Die Kritik am Raum war und ist also stark vom konstruktivistischen Zeitgeist abhängig, der in den Sozialwissenschaften immer noch vom linguistic turn dominiert wird, also von Ansätzen und Paradigmen, die die sprachliche, zeichenhafte oder diskursive „Konstruktion“ (oder wahlweise auch „Produktion“) der Welt in den Mittelpunkt rückt. Dieses Paradigma kann aber konkrete Materialität in ihrer direkten materiellen Qualität (Oberflächen, Farben, Dimensionen, Atmosphären) nicht erfassen, da diese aus deren Perspektive immer nur als (Aus-)Wirkung von sozialen und sprachlichen Praktiken verstanden werden – niemals aber als das Wirken des Räumlichen auf den Menschen selbst, egal ob Materie eher als gegeben oder als gestaltete Umwelt menschengemacht aufgefasst wird. Eine Relektüre von Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“ kann verhindern, in diese Sackgassen der Postmoderne zu gehen und die Prägekräfte räumlicher Arrangements auf den Menschen besser zu verstehen.
Mein hier präsentierter Blick auf die Raumdebatte ist deshalb stark von der politischen Ökonomie des Diskurses in diesem Feld geprägt, der – übrigens anders als in der Architektur, wo die Wirkmacht des Räumlichen natürlich niemals bestritten werden würde – von der Vorherrschaft bestimmter Paradigmen geprägt ist. Ich möchte nun aber nicht in intellektuellem Jargon oder epistemologischen Grabenkämpfen verweilen, sondern mit mehr oder weniger pragmatischen Worten die Inspiration von Bachelards „Poetik des Raumes“ erläutern, die das Buch auf unser neu entfachtes zeitgenössisches Denken über Raum, Materie und Menschsein haben könnte.
Zum Werk
Gaston Bachelards Werk „Poetik des Raumes“ (La poétique de l’espace, 1957) zählt zu den bedeutendsten philosophischen Abhandlungen über die menschliche Beziehung zum Raum, insbesondere zum bewohnten Raum. Im Zentrum des Buches steht die Frage, wie der Mensch Räume wahrnimmt, sie emotional und psychologisch erlebt und wie diese Wahrnehmung eng mit seiner Existenz und Identität verknüpft ist. Bachelard untersucht die intime Beziehung des Menschen zu Räumen wie dem Haus als Ganzem (das gilt ihm gewissermaßen als Norm, was gerne kritisiert wird), dem Dachboden oder der Ecke und entwickelt eine relativ unorthodoxe Phänomenologie des Wohnens dieser sozialräumlichen Teile der Existenz. Dabei greift er allerdings auf Konzepte der Psychoanalyse und der Lyrik zurück, wenn er vor allem auf die Kraft des Imaginären oder der „Raumbilder“ abzielt, die sich bei jedem Menschen herausbilden und ihn ein Leben lang begleiten sollen und im Unterbewussten wirken. Dem dichterischen Bild (als „seelisches Geschehen“, S. 9) schreibt er dabei besondere Erkenntnismöglichkeiten zu, weil das (poetische) in Sprache bringen solcher räumlichen Erfahrungen eine starke suggestive Wirkkraft hat und eigene Erfahrungen dazu abrufen kann (wie alleine es etwa Aussagen wie „dunkle Ecke“ zu leisten vermögen, oder „Harry Potters Bibliothek“). Damit wird das Räumliche – ungeachtet seiner notwendigen Materialität – als etwas Subjektives, Imaginatives und Poetisches verstanden, das tief in der menschlichen Psyche verankert ist, aufgrund einer lebensweltlichen Vermittlung, ohne die im Grunde kein Menschsein möglich wäre; was bedeutet, dass wir nicht nur Höhlenmenschen sind, sondern uns im Grunde immer noch so einrichten und in der Welt und im Raum verhalten (Bettdecke, abgeschlossene Haustür, Rücken zur Wand und so weiter).
In der heutigen Zeit, geprägt von zunehmender Digitalisierung und Ortlosigkeit, stellt sich die Frage, inwiefern Bachelards Vorstellungen vom Raum noch von Relevanz sind. In diesem Beitrag werden zunächst die zentralen Aspekte seiner Überlegungen vorgestellt, um sie anschließend im Kontext der heutigen Raumwahrnehmung und -nutzung zu reflektieren. Die Leitfrage, wie sie bereits anklang, lautet: Inwieweit lässt sich der Mensch der Gegenwart als homo spatialis verstehen, als der räumliche Mensch, die leiblich fundierte Existenz, die in und mit dem Raum lebt – und seine Identität und sein psychologisches Wohlbefinden weitestgehend – wenngleich oft übersehen oder negiert – über den Raum definiert (beispielsweise Ruheräume zum Lernen, Intimsphären, Wirtshaustische für Geselligkeit).
Die „Psychologie des Wohnens“
Bachelards „Poetik des Raumes“ geht von der Grundannahme aus, dass der Raum nicht einfach eine geometrische oder physikalische Entität ist, sondern eine psychologische Dimension besitzt – anders aber vielleicht als es die zeitgenössische (naturwissenschaftlich gefärbte) Psychologie ausdrücken würde: Der von Bachelard betrachtete Raum ist nicht nur der dimensionale Raum, der messbar und abgrenzbar ist, sondern ein Raum der Erinnerung, der Imagination und des Gefühls. Der wohl bekannteste Gedanke seiner Theorie ist die Vorstellung des Hauses als zentraler Ort der menschlichen Existenz, als „Wegweiser“ für das Verständnis des Selbst. Die Bilder, die dessen Erleben evozieren – in allen Schattierungen und Nischen – haben dabei „transsubjektive Geltung“ (S. 12) in dem Sinne, dass sie im Anderen die gleiche Erlebnisdimension hervorzurufen vermögen, wie bei einem selbst.
Bachelard beschreibt das Haus als „einen unserer größten Gedanken“, als einen Ort, der Schutz, Intimität und Geborgenheit bietet und damit für das Menschsein im Gesamten steht. Das Haus ist für ihn nicht nur ein physischer Raum, sondern ein psychischer Rückzugsort, auf welchen wir unsere tiefsten Träume und Ängste projizieren. Es kann in diesem Sinne eine Erweiterung des Selbst sein, eine Korrespondenz des Leiblichen, und stellt eine Art „Sphäre des Wohlbefindens“ dar. Damit gibt es dem Individuum nicht nur ein Gefühl von Sicherheit – Heimeligkeit im besten Wortsinne –, sondern fungiert auch als Speicher der Erinnerungen, die unsere Identität prägen (das Gleiche lässt sich natürlich auch mit einer „Wohnung“ durchspielen – auch hier müssen die Architekten geschickt solche Erfahrungsräume ermöglichen, wenn man sich wohlfühlen und „zu Hause“ fühlen will).
Besonders bedeutend ist in Bachelards Werk die Unterscheidung zwischen verschiedenen Räumen im Haus, wie dem Dachboden und dem Keller (in einer Wohnung vergleichbar: Balkon und Abstellraum). Diese beiden Räume symbolisieren für ihn die unterschiedlichen Schichten der menschlichen Psyche: Während der Dachboden für das suchende Ich und das Bewusstsein steht, repräsentiert der Keller das Unbewusste, das Verborgene und Dunkle. In solchen nicht nur metaphorischen Räumen spiegeln sich die Dimensionen der menschlichen Existenz wider, und sie bieten auch einen – für Architektinnen und Architekten: gestaltbaren – Schlüssel zum Verständnis, wie der Mensch mit seiner inneren Welt umgeht, wo er sich im Raum wiederfindet, beziehungsweise wie er diese innere Welt daran erst ausbildet.
Bachelard betont ferner die Bedeutung der Imagination bei der Wahrnehmung des Raums. Räume werden nicht nur über ihre Architektur erlebt, sondern vor allem durch die Art und Weise, wie der Mensch sie imaginativ auflädt. So wird der Raum zu einem „erlebten Raum“ (Bollnow 1960, in Anlehnung an Minkowski), der in dieser phänomenologischen Denktradition in engem Dialog mit den emotionalen und psychologischen Zuständen des Individuums steht („Wohnzimmer“, „Angsträume“ et cetera).
Der homo spatialis der Gegenwart: Bachelards Raumkonzept im Spiegel heutiger Raumwahrnehmung
Bachelards raumpsychologische Überlegungen wirken eng an die Vorstellung eines festen, stabilen und intimen Ortes geknüpft, an Raumerfahrungen, die alle irgendwie teilen können sollen. Doch wie verhält es sich mit dieser Vorstellung in einer Zeit, die von Ausdifferenzierung, Mobilität und flüchtigen Räumen geprägt ist? In der modernen, globalisierten Welt sind viele Menschen zunehmend „funktional“ unterwegs, sei es durch Migration, ihre Arbeitswelt oder temporäre Lebensverhältnisse. Wohnräume werden oft nicht mehr als feste Orte der Verwurzelung, sondern als vorübergehende Aufenthaltsorte erlebt, gar als „Nicht-Orte“ im Sinne Augés.
Diese Entwicklung wirft die Frage auf, ob die tiefe psychologische Bindung des Menschen an einen spezifischen Raum, wie sie Bachelard beschreibt, noch dieselbe Relevanz hat. Das „Zuhause“ hat in vielen Fällen nicht mehr den Charakter eines stabilen, dauerhaften Rückzugsortes, sondern wird oft fragmentarisch und temporär wahrgenommen. (Digitale) nomadische Lebensweisen, Coworking Spaces oder temporäre Wohnformen wären Phänomene, die Bachelards Konzept des Hauses als intimen Lebensraum, der quasi alles von Grund auf prägt, infrage stellen.
Und dennoch lässt sich dialektisch einwenden: Keine der beschriebenen neuen Lebens- und Arbeitsformen macht das Erleben konkreter Räumlichkeit obsolet. Wie kein Mensch ohne reale, leibliche Sozialbeziehungen erwachsen werden kann, so ist notgedrungen auch niemand ohne die damit inkorporierten Raumerfahrungen vorstellbar. Keine Emotionalität oder Intimität ohne Nahraum, keine Urbanität ohne Gedränge, von dem man sich distanziert, kein Rave ohne drogeninduzierten Gefühlsozean des Grenzenlosen.
Um nicht bei mehr oder weniger spektakulären Sonderphänomenen zu verweilen, muss man ebenso anmerken, dass die Entwicklungspsychologie der Piaget-Schule deutlich herausgearbeitet hat, dass sich „die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde“ als pragmatisch orientierte Kognition in Auseinandersetzung mit der umgebenen Räumlichkeit etabliert. Und diese ist, daran ändert Digitalisierung so wenig wie nomadenhaftes Freelancing, natürlich überall auf diesem Planeten im Grunde gleich: Sobald man zu stehen und zu laufen vermag, ist die Welt für das Kleinkind eine völlig andere. Gleiches gilt auch für die Raumerfahrungen, die bei Bachelard im Zentrum stehen, etwa Enge, Nähe, die Schublade oder das Dach – sie müssen alle „räumlich“ erfahren werden, also als subjektive Einverleibung seiner spatialen Seinsweise. Und um dann vielleicht anders – digital, vernetzt – leben und arbeiten zu können, muss man zuerst jenes erfahren und sich erarbeitet haben: Ohne realweltliche Grundlage ist kein „digitaler Mensch“ vorstellbar, ja überlebensfähig.
Zudem sind alle Räume der Pflege und Vorsorge, vom Baby bis zum schwerkranken Menschen auf der Palliativstation, immer sozio-psychologische Nahräume, die auf leiblicher Interaktion beruhen – alles andere wird zu Recht als entfremdend und instrumentell angesehen. Die Grundlage hierfür scheint wieder „im Haus“ zu liegen, also zum Beispiel an den Orten der Kindheit, die Bachelard so eindringlich ins Bewusstsein holt, und die etwa in der phänomenologisch geprägten Therapiearbeit als leiblich vermittelte Gesundungstechniken diskutiert werden (Fuchs 2010). Etwas weiter gefasst gilt dies natürlich auch für Schulen, Kindergärten und Betriebsbüros, die sich durch eine subtile räumliche Psychologie auszeichnen (und deshalb „ganze Arbeit“ von einer Architektur erfordern, die dies adressieren und vor allem körperlich-imaginativ umsetzen kann). So lässt sich vielleicht als Quintessenz der Relektüre von Bachelard lernen, was Merleau-Ponty philosophisch-erkenntnistheoretisch aufgezeigt hat: Im Grunde ist keine Möglichkeit vorstellbar, die Welt (Menschen, Umwelt, Gebäude) anders wahrzunehmen als auch über ihre Räumlichkeit, ihre Erscheinungsweise, sei sie vermittelt über die mal plastische, mal imaginative Weise ihrer Existenz.
Zeitlose Relevanz von Bachelards Raumphilosophie?
Trotz dieser Herausforderungen und Veränderungen bleibt Bachelards „Poetik des Raumes“ also von hoher Relevanz, da sie eine universelle, menschliche Dimension berührt. Auch in der modernen, mobilen und digitalisierten Welt sucht der Mensch nach Orten, die ihm Schutz und Geborgenheit bieten, schaffen intelligent gestaltete Lernräume eine bessere Schule. Und selbst wenn das physische Haus diskursiv nicht mehr denselben Stellenwert hat wie in früheren Zeiten (der Immobilienmarkt sagt im Übrigen etwas anderes), bleibt das Bedürfnis nach einem „Zuhause“, nach einem „Raum des Seins“ bestehen, wo man die Welt einüben kann und sollte. Der Mensch bleibt aus dieser Perspektive also ein homo spatialis, da seine Existenz in Beziehung zum Raum definiert ist, auch wenn sich die Form und Natur dieser Beziehung verändert haben.
In diesem Sinne können Bachelards Überlegungen weiterhin als wertvolle Grundlage für das Verständnis von Räumen dienen, insbesondere im Hinblick auf die Frage, wie Räume in einer sich verändernden Welt gestaltet werden sollten, um das psychische Wohlbefinden zu fördern. Gerade in Zeiten der Entwurzelung und Entfremdung kann die Schaffung von intimen, psychologisch aufgeladenen Räumen einen Gegenpol zu den anonymen, funktionalen Räumen der „kapitalistischen Supermoderne“ bilden.
Bachelards „Poetik des Raumes“ bietet tiefgehende Einsichten in die psychologische und poetische Dimension des menschlichen Raumerlebens. Auch wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen in der heutigen Zeit stark verändert haben, bleibt der Mensch ein „Raum-Wesen“, dessen Identität und Wohlbefinden in enger Verbindung mit der Wahrnehmung von Raum stehen. Die Herausforderung für den modernen homo spatialis besteht darin, neue Formen von Räumen zu finden – sowohl physisch als auch virtuell –, die es ihm ermöglichen, die intime, psychologische Bindung an den Raum aufrechtzuerhalten. Bachelards Werk bleibt damit eine zeitlose Reflexion über die Bedeutung des Raums im Leben des Menschen.
Dr. Thomas Dörfler arbeitet an der Schnittstelle von Geographie und Soziologie mit Fokus auf sozialwissenschaftliche Methodologien und Raumtheorien. In seiner Dissertation führte er eine ethnographische Sozialraum-Studie in Ost-Berlin durch, basierend auf Bourdieus Klassentheorie, um Veränderungen der gesellschaftlichen Milieus nach dem Mauerfall zu analysieren. Derzeit schließt er seine Habilitation zur Phänomenologischen Humangeographie ab. Von 2012 bis 2022 vertrat er die Professur für Humangeographie an der Universität Heidelberg. Seit Herbst 2022 ist Thomas Dörfler wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe für Sozialgeographie an der Universität Jena.