Aufgehoben
Elina Potratz: In der Architektur hantieren wir oft mit einer Vielzahl von Begriffen – sozusagen mit „Begriffswolken“, die sinnverwandt sind oder erscheinen. Oft werden Begriffe eher gedankenlos als Synonyme verwendet, zum Beispiel „Nutzung“, „Funktion“, „Gebrauch“ oder „Zweck“. Ganz grundsätzlich: Warum halten Sie es für wichtig, diese Begriffe präziser zu verwenden?
Uwe Schröder: Zu Beginn der Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen der Architektur stand die Beobachtung, dass es oft schwierig ist, über bestimmte Themen zu sprechen und sich darüber zu verständigen – zum Beispiel über den Begriff des Raums –, weil jeder eine andere oder, sagen wir, eine sehr allgemeine Vorstellung hat, die jedoch nicht weiter differenziert oder im Hinblick auf die Architektur hinterfragt wird. Der Ausgangspunkt für die Suche nach Grundbegriffen war eine Erforschung der Disziplin: einerseits eine Erforschung der Architektur, wie wir sie beschreiben und definieren könnten, und andererseits ein Hinterfragen, ob wir tatsächlich alle dieselbe Sprache sprechen, wenn wir uns über Architektur verständigen. Mit der Zeit haben sich dann acht Grundbegriffe herausgebildet.
Diese haben Sie noch einmal in zwei Gruppen unterteilt, die Sie „äußere“ und „innere Grundlagen“ nennen…
Richtig, die „inneren“ – Material, Konstruktion, Form, Funktion und Raum – beschreiben die Eigenschaften eines jeden Gebäudes. Aber das ist natürlich nicht alles. Viel interessanter sind die „äußeren“ Begriffe, die zwar als Grundlagen der Architektur erkennbar sind, aber nicht gleichzeitig Eigenschaften eines Gebäudes darstellen, wie etwa der Ort – dieser Punkt ist, denke ich, für jeden offensichtlich. Weitere Beispiele wären die Zeit oder der Zweck. Sie sind allesamt Grundlagen, die nicht zugleich Eigenschaften der Architektur sind.
Was wäre denn das Ziel dieser Präzisierung?
Im Grunde genommen gibt es zwei Ansätze. Der eine besteht in der genauen Beschreibung der Architektur anhand dieser Begriffe. Der andere Ansatz versteht diese begriffliche Annäherung als Methodologie. Das bedeutet, dass man mithilfe der Begriffe Hinweise für das Entwerfen und den Entwurf erhalten kann. Gleichzeitig kann man aber auch – quasi rückwärts – Hinweise für eine Kritik der Architektur gewinnen, indem man zum Beispiel eine Architektur danach hinterfragt, inwiefern sie der Bedeutung des Ortes gerecht wird oder wie sie mit der Gegenwart verknüpft ist.
Ich finde es interessant, sich dem Begriff des Zwecks in Abgrenzung zum Begriff der Funktion anzunähern und die Unterschiede zwischen beiden zu beleuchten. So wie ich es verstehe, beschreibt die Funktion – auch abseits der Architektur – die Möglichkeiten eines Objekts, das es für eine Nutzung bereitstellt. Es geht um eine Art theoretisches Potenzial zur Nutzung. Ein Beispiel: Das Küchenmesser hat die Funktion, etwas zu schneiden. Das ist die Möglichkeit, die dieses Objekt bietet. Der Zweck hingegen bezeichnet das Ziel oder das gewünschte Ergebnis des Einsatzes eines Mittels. Hier wird es schon schwieriger. Beim Küchenmesser könnte man zum Beispiel sagen, sein Zweck sei es, Lebensmittel zu zerkleinern, damit sie verzehrbar werden. Man könnte aber auch sagen, das Küchenmesser dient letztlich dazu, etwas zuzubereiten, das uns ein kulinarisches Erlebnis verschafft. Das zeigt, dass der Zweck sich je nach Perspektive und Kontext unterschiedlich definieren lässt. In der Architektur finde ich es ähnlich schwierig, diese Begriffe voneinander abzugrenzen. Es wäre spannend, das an einigen Beispielen genauer zu erläutern.
Der Begriff „Wohnen“ eignet sich hervorragend, um die Unterscheidung zwischen Zweck und Funktion zu verdeutlichen, weil er weder den Zweck noch die Funktion im engeren Sinne direkt beschreibt, sondern irgendwo dazwischenliegt. Wie Sie sagen, verweist die Funktion auf ein Potenzial, das einem Ding oder einem Gebäude innewohnt. Dieses Potenzial bietet die Möglichkeit einer bestimmten Nutzung – eine Art Angebot des Gebäudes. Zum Beispiel könnte ein Gebäude so gestaltet sein, dass es die Möglichkeit bietet, darin zu wohnen. Der Begriff „Wohnen“ selbst ist jedoch nicht die Funktion. Die Funktion wäre hier vielmehr die inhärente Fähigkeit des Gebäudes, Wohnen als Nutzungsweise zu ermöglichen. Das Potenzial ist etwas, das dem Gebäude anhaftet, ein Teil seiner Eigenschaften, der sich in Form von Gebrauchsabsichten, Gebrauchsanweisungen oder Affordanzen zeigen kann – als unterschiedliche Angebote, die das Gebäude macht. All diese Aspekte bleiben jedoch im Vorfeld dessen, was „Wohnen“ im eigentlichen Sinne ausmacht.
Was bedeutet der Zweck in Abgrenzung dazu?
Der Zweck hingegen ist immer in Bezug auf das Subjekt zu verstehen. Es geht nicht darum, dass das Wohnen selbst der Zweck ist, sondern vielmehr darum, dass es Wohnenden ermöglicht wird, ihrer Lebensweise oder Seinsweise entsprechend aufgehoben zu werden. Der Zweck verweist also auf das Ziel oder die Absicht, die hinter der Nutzung steht, und diese ist immer subjektbezogen. Interessant ist dabei auch, dass der Begriff „Wohnen“ in einem größeren, umfassenderen Sinn verstanden werden kann, als wir ihn im Alltag begreifen. Wenn wir etwa sagen, dass wir vorübergehend in einem Hotel wohnen, beschreiben wir lediglich eine pragmatische Nutzung. Doch das eigentliche Wohnen ist viel weitreichender – es ist ein existenzieller Zustand, der über die bloße Nutzung eines Raums hinausgeht. In diesem Sinne ist Wohnen ein vielschichtiger Begriff, der sowohl Funktion als auch Zweck übersteigt.
Eine grundlegende Funktion eines Wohngebäudes ist, dass man Schutz vor Witterung, Kälte, Hitze, Tieren, anderen Menschen, Lärm, Gerüchen finden kann. Es geht also in erster Linie um Schutz, wenn auch vielleicht nicht immer vollständigen Schutz. Zudem werden räumlich bestimmte Aspekte des Wohnens ermöglicht, wie Schlafen, Ausruhen, Anziehen, Essen und Waschen – wobei letztere Dinge vielleicht sogar auch an anderen Orten erfolgen könnten. All das wären Aspekte, die Sie als Funktionen eines Wohngebäudes verstehen würden, oder?
Ja, zudem könnte zum Beispiel auch die Möglichkeit bestehen, dass man anderen Menschen begegnet…
Das ist aber immer noch die Funktion?
Ja, das ist immer noch die Funktion – also die hinterlegte Möglichkeit. Zum Beispiel durch eine bestimmte Eigenschaft des Gebäudes, etwa, dass es einen Hof gibt, in dem man Feste feiern und mit anderen in Beziehung treten kann. All diese Möglichkeiten sind jedoch selbstverständliche Gegebenheiten. Es wird interessanter, wenn wir darüber nachdenken, wie wir Architektur auch als eine Form der Vergesellschaftung betrachten. In diesem Fall werden die Dinge schnell komplexer und noch relevanter als die primäre Funktionalität.
Was also könnte der Zweck des Wohnens sein?
Der Zweck des Wohnens ist dementsprechend, dass wir als Wesen, die sowohl räumlich als auch zeitlich determiniert sind, in einer bestimmten räumlichen Form existieren. Wohnen ist ein Wesenszug, der uns auszeichnet und unsere Verfasstheit repräsentiert und widerspiegelt – und zwar nicht nur in der Architektur, sondern auch an allen Orten und in allen Situationen auf der Erde. Wir wohnen überall, das bedeutet, Wohnen, wie Heidegger es definiert hat, ist die Art und Weise, wie wir auf der Erde sind. Und ebenso wie wir räumlich im Wohnen determiniert sind, sind wir auch zeitlich durch die Sorge, die wir tragen, determiniert. Die Sorge prägt uns zeitlich und lässt uns orientiert vorangehen. Wohnen ist somit unsere räumliche Verfassung. Es gibt natürlich verschiedene Arten des Wohnens oder Kulturen des Wohnens. Diese Kulturen des Wohnens sind auf den Zweck ausgerichtet, und in der Architektur kann diesem Zweck Rechnung getragen werden, indem unterschiedliche Möglichkeiten geschaffen werden, sich auf verschiedene Weisen wohnlich einzurichten, indem diese Möglichkeiten als Potenziale vorgehalten werden.
Genauso könnten Potenziale auch räumlich verwehrt werden…
Wir stellen oft fest, dass wir in bestimmten räumlichen Gegebenheiten auf Situationen stoßen, die uns nicht zusagen oder unpassend erscheinen, weil sie uns bestimmte Möglichkeiten verwehren. Zum Beispiel, wenn man die Möglichkeit verwehrt, auch mal für sich zu sein, dann merken wir vielleicht am stärksten, wie mächtig Funktion im Zusammenhang mit Architektur sein kann, wenn diese Option, nach der wir suchen, vielleicht nicht zu den angebotenen gehört. Wenn man sich also nicht in der allgemeinen Kultur des Wohnens widergespiegelt sieht, in den vorhandenen Möglichkeiten, so würden wir vielleicht sagen, dass es hier nicht gut funktioniert. Also, der Zweck heißt, nicht danach zu suchen, wie die Architektur beschaffen ist – Sie haben es vorhin Potenzial genannt –, sondern vielmehr nach der Verfasstheit derjenigen, die in der Lage sind, dieses Potenzial zu erschließen: die Wohnenden.
Aber die Wohnenden sind erst einmal eine Imagination der Entwerfenden, oder?
Ja, das stimmt, das ist es. Deshalb habe ich zu Beginn gesagt, dass wir im Grunde genommen zwei Wirkrichtungen haben, mit denen wir umgehen können, wenn wir diese Begriffe erschließen. Man kann vorwärts in Richtung Entwerfen fragen, was für Eigenschaften ein Gebäude haben muss, damit es einer bestimmten Kultur entsprechende Möglichkeiten bietet. Aber man kann ebenso in einer kritischen Beurteilung von bereits Entworfenem feststellen, dass ein Gebäude in der Weise nicht funktioniert, wie ich es mir wünschen würde. Übrigens fällt einem die Funktion eines Gebäudes immer dann auf, wenn sie nicht gut umgesetzt ist.
Würden Sie noch ein Beispiel für den Zweck geben?
Wenn ich meine Wesenszüge beschreiben würde, könnte ich sagen, dass ich für mein Dasein solche Räume brauche, in denen ich anderen begegnen kann, in denen ich bestimmte Dinge mit anderen in Gemeinschaft tun kann. Und genauso brauche ich auch Räume für mich, in denen ich für mich selbst oder allein sein kann. Gemeinsam und „alleinsam“ sein zu können, wären also solche Beschreibungen. Wir könnten weitergehen und sagen, dass wir auf einer gesellschaftlichen Ebene soziale Wesen sind, die in bestimmten Zusammenhängen wohnen, zum Beispiel in der Stadt. Diese Zusammenhänge, in ihrer gestuften Segregation, müssen auch im dialogischen Dasein der Räume zwischen dem Gemeinsam- und Alleinsein Berücksichtigung finden. Da gibt es dann auch Abstufungen, die gesellschaftliche Konnotationen mit hineinbringen und das Ich zusammen mit der Kultur des Wohnens prägen. Der Zweck wäre also das Aufgehobensein in der Architektur, das Wohlbefinden darin, das Entgegenkommen der Architektur und so weiter. Das wären die Zwecke.
Könnte man sagen, dass mit dem Zweck im Grunde etwas Höheres oder Tiefgreifenderes gemeint ist, das sich eher emotional fassen lässt? Ist es etwas wie Wohlbefinden, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit?
Das Gebäude soll im Grunde genommen genau das ermöglichen, was Sie eben erwähnten – Geborgenheit, Aufgehobensein und so weiter. Diese Dinge sind die Zwecke. Der Zweck eines Schwimmbads ist nicht einfach nur das Schwimmen. Vielmehr geht es darum, dass es ein öffentlicher Ort ist, an dem Begegnungen stattfinden, und die Architektur hat in erster Linie diese Begegnungen zu ermöglichen. Das Schwimmen selbst, der Sport, ist ebenfalls wichtig, so wie auch das Dach über dem Kopf vorhanden sein muss, aber darum geht es nicht in unmittelbarer, direkter Ansprache. Vielmehr müssen wir überall diese übergeordneten Verfasstheiten berücksichtigen.
Wie stark schreiben sich Funktion und Zweck in die Architektur ein? Es gibt doch oft den Fall, dass sich durch relativ kleine Änderungen oder Maßnahmen eine Wohnung beispielsweise so umbauen lässt, dass sie dann zum Arbeiten dient. Oder eine Fabrikhalle wird plötzlich zu einer Festhalle. Und welche Rolle spielen Funktion und Zweck in einer Welt, in der wir immer mehr umbauen oder umbaufähig bauen wollen?
Genau, deswegen würden wir darin kein Manko sehen, wenn etwas gut umgenutzt werden kann. Im Gegenteil, wir würden dies sogar als eine Forderung an die Architektur formulieren. Sie fragen mich, wie stark diese Einschreibungen in die Architektur sind, wie wirksam sie sind und wie ausschließend sie vielleicht für eine Wandlung sein können. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Aspekt dieser Überlegungen. Wir müssen darüber nachdenken, dass bestimmte räumliche Konstellationen nicht unbedingt eine so stark definierte Konnotation für ihre Nutzung mit sich tragen. Wenn ich das Beispiel eines Hofs betrachte, so kann dieser in einem häuslichen Kontext eine förderliche Situation für das Stiften von Gemeinschaft haben. Der gleiche Hof hat immer schon, auch in anderen Kontexten, ähnliche oder sogar die gleichen Funktionen übernommen, zum Beispiel im Schulbau, im Hospitalbau oder in klösterlichen Gemeinschaften. Überall treten also räumliche Konstellationen auf, an die archaische Bräuche und Nutzungen erinnern oder noch gebunden sind, die in anderen Kontexten sofort wieder funktionieren. Das heißt, je weniger zugespitzt die Funktion ist, desto offener bleibt der Raum für Interpretation. Man sucht die Offenheit, um darin die eigene Interpretation von Wohnen wiederzufinden…
…die Funktion sollte also offen gehalten werden, damit verschiedenste Lebensentwürfe in einem Raum Platz finden können.
Ein weiteres Thema, das auch Aldo Rossi behandelt hat, ist das der Permanenz. Er sprach davon, dass bestimmte Gebäude so grundlegende Konstellationen und starke Formen transportieren, dass sie einen Funktionswechsel problemlos überstehen können, ohne zerstört zu werden. Ein Beispiel dafür ist das Marcellus-Theater in Rom, das ursprünglich ein antikes Theater war und später zu einem Wohnpalast umgewandelt wurde. Das ist natürlich eine sehr dramatische Veränderung. Aber es stellt sich die Frage: Kann so etwas auch in kleinerem Maßstab geschehen? Wir müssen über diese Zusammenhänge nachdenken, zum Beispiel über das Thema Arbeit und Wohnen, und überlegen, wie wir diese Dinge miteinander verbinden können. Es sollte möglich sein, dass das eine in das andere übergeht oder dass wir zumindest diese Übergänge ermöglichen können.
Wie ordnen Sie es ein, wenn der Zweck eines Gebäudes nicht in erster Linie auf die Verfasstheit der Wohnenden ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf finanzielle Gewinne?
Das wäre ein missbräuchlicher Zweck, den wir hier nicht anerkennen würden. Ich würde immer betonen, dass es im Vordergrund stehen muss, dass Architektur einem kulturellen, gesellschaftlichen, individuellen und gemeinschaftlichen Kontext verpflichtet ist. Es geht darum, etwas zu verbessern, das hat durchaus auch mit Idealismus zu tun. Wir sprechen hier ja nicht über alle Phänomene, die in der Stadt wirken, sondern vielmehr über ein kleineres, theoretisch exemplarisches Feld.
Aber dennoch kommt dies beim Nachdenken über den Zweck einschränkend hinzu, dass wir uns in einem Bereich bewegen, in dem Architektinnen und Architekten oft nur sehr begrenzten Einfluss haben.
Ja, wir sind Zwängen ausgeliefert und es kommt eben auch auf die Einsicht und die Klugheit der Bauherrschaft an, inwiefern man den Notwendigkeiten angemessen nachkommen kann, das ist in den allermeisten Fällen eingeschränkt. Aber deswegen können wir ja nicht müde werden, darauf hinzuweisen, was sein sollte, müsste und was unverzichtbar ist.
Zwänge – etwa, günstigen Wohnraum bereitzustellen – können möglicherweise sogar dem entgegenwirken, was wir als Geborgenheit und Zugehörigkeit empfinden, oder zumindest diesen Aspekten nicht gerecht werden…
Ich denke, dass wir in diesem Zusammenhang auf keinen Fall Abstriche machen dürfen. Nur weil wir versuchen, Wohnungen zu einem günstigeren Preis anzubieten – was zweifelsohne notwendig und wünschenswert ist –, ist es nicht weniger wichtig, räumliche Verhältnisse so zu gestalten, dass sie dieses Gefühl von Geborgenheit vermitteln, von dem wir gesprochen haben. Ebenso müssen die Materialien angemessen gewählt werden. Wir können sicherlich Dinge kostengünstiger gestalten, aber wir dürfen nicht auf alles verzichten. Es ist vielmehr eine schöne Herausforderung und lohnende Überlegung, wie man diese Aspekte berücksichtigt und gleichzeitig darauf hinarbeitet, auch einem breiteren gesellschaftlichen Kreis ein schönes und funktionierendes Wohnen zu ermöglichen. Dabei sollte man über das Gebäude hinaus denken und nicht nur die Wohnung an sich betrachten, sondern auch das Wohnumfeld miteinbeziehen. Was in der Architektur vielleicht aus Kostengründen nicht realisiert werden kann, könnte möglicherweise im Umfeld oder im räumlichen Zusammenhang der Wohnungen ausgeglichen werden. Darauf dürfen wir nicht verzichten.
Vielleicht kann man noch ein anderes Beispiel heranziehen: Sie haben vom Festsaal gesprochen…
Damit wollte ich verdeutlichen, wie das mit dem Entwerfen funktioniert und wie man, wenn man eine übergeordnete Idee, wie den Zweck der Aufgehobenheit, verfolgt, diesen Gedanken in den Entwurf einfließen lässt. Wie wird dieser Zweck beim Entwerfen auf die Architektur übertragen? Um das zu erklären, habe ich das Beispiel des Festsaals verwendet. Es geht darum, dass Feste – religiöse Feste, aber auch alle möglichen anderen Arten von Feiern – ein bestimmtes Raumgefühl erfordern. Der Wiederholungsfaktor spielt sicher eine Rolle. Wenn diese Feste auf eine bestimmte Art und Weise gefeiert werden, kann ein typischer Raum für solche Anlässe entworfen werden. Das Nachdenken über das Fest und darüber, wie die Menschen sich während dieses Festes verhalten, wird dann in die Architektur übertragen. Umgekehrt können wir durch Architektur auch etwas von der Bedeutung des Brauchs oder des Gebrauchs ihrer Räume erfahren, selbst wenn das Fest nicht stattfindet.
Angenommen, man entwirft nun einen Festsaal nach der gängigen Vorstellung und entsprechend einer bestimmten Auffassung davon, wie ein Fest sein soll: Geht es für Sie darum, dass man Gefahr läuft, Klischees oder überkommene Vorstellungen zu reproduzieren, ohne diese noch einmal zu hinterfragen? Beispielsweise müsste ein Festsaal nicht unbedingt ein klassischer Saal mit Empore sein, bei dem es um das Sehen und Gesehenwerden geht, sondern es könnten zusätzlich auch Orte geschaffen werden, die mehr Rückzug oder Privatheit ermöglichen – weil man weiß, dass sich nicht jeder Mensch in einer exponierten öffentlichen Situation wohlfühlt.
Absolut, das muss natürlich gefunden werden. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: und zwar ein studentisches Wohnheim, das ich gebaut habe. Der Gedanke war im Wesentlichen, darin einen Hof zu schaffen sowie einen Querriegel, der diesen Hof unterteilt und in dem Feste stattfinden können und sollen. Und wie sieht dieser Festsaal aus? Er ist in diesem Fall wie eine große gemeinschaftliche Küche gestaltet. Es geht also nicht darum, einen Spiegelsaal à la Versailles zu entwerfen. Ein Fest ist einfach eine schöne Form des gemeinschaftlichen Zusammenkommens, es muss nicht darum gehen, dass alle in Formationen tanzen oder Ähnliches, sondern es ist eher in übertragener Form zu verstehen.
In Küchen finden bekanntlich die besten Partys statt.
Ja, das sind auch immer die wichtigsten Orte – die Küche, eigentlich in jeder Wohnung. Nun, es gibt ja auch die Frankfurter Küche, die ist für den dauerhaften Aufenthalt vielleicht nicht ganz so geeignet…
Sie haben eben von den Hinweisen gesprochen, die uns die Begriffe auf das Entwerfen geben. Gibt es einen Hinweis, den Sie mit Blick auf den Zweck den Entwerfenden mit auf den Weg geben würden?
Der Hinweis wäre, darüber vertieft nachzudenken und es nicht einfach abzutun. Dabei stoßen wir oft genug an Grenzen, aber wir sollten das weiterhin erforschen und es zur Grundlage des eigenen Entwerfens machen. Ich meine damit nicht nur den Zweck. In meinem Text spreche ich auch von Topologie, was bedeutet, dass der Ort noch viel größer aufgefasst wird, an dem die Architektur entworfen, angeordnet oder gebaut wird. Zudem schließt die ganzheitliche Beschreibung des Ortes selbstverständlich auch zeitliche Bedingungen mit ein sowie die Menschen, die bereits an diesem Ort leben, aber auch die, die vielleicht neu hinzukommen. Auch diese Menschen sind schon im Voraus ein Teil dieses Ortes, für den man etwas entwirft.
Wenn wir davon sprechen, einen Zweck in einen Entwurf einzuschreiben, tun wir das zunächst als eine Art Vorstellung oder Versprechen, die sich jedoch erst noch bewahrheiten müssen. Wir können anhand des Entwurfs noch nicht sagen, ob sich dieses Versprechen tatsächlich einlöst.
Es wäre vielleicht ein guter Hinweis, dem nachzugehen: zur Stätte zurückzukehren, zu dem Ort, den man vielleicht selbst maßgeblich mitgestaltet hat, und zu beobachten, ob dort tatsächlich ein gutes, ein gelingendes Leben, ein gelingendes Wohnen stattfindet.
Prof. Dipl. Ing. Uwe Schröder (*1964), Architekt BDA, studierte Architektur an der RWTH Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 – 2010), an der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ (2016), am Politecnico di Bari (2016), an der Università degli Studi di Catania (2018), am Politecnico di Milano (2019) und an der Università di Parma (2020 – 2021). Er war von 2000 bis 2024 Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift.
Elina Potratz studierte Kunst- und Bildgeschichte in Leipzig und Berlin. Seit 2016 ist sie tätig in der Redaktion dieser Zeitschrift, seit 2021 als Chefredakteurin.