Editorial 23-2

Architektur unter Kriegsbedingungen

Anlässlich des Jahrestags der russischen Invasion in die Ukraine sprach Chefredakteurin Elina Potratz mit dem ukrainischen Architekten Oleg Drozdov. Er ist Mitbegründer der unabhängigen und privaten Kharkiv School of Architecture; mit seinem Architekturbüro Drozdov & Partners, das bis Kriegsbeginn ebenfalls in Charkiw ansässig war, entwarf er unter anderem das Podil-Theater in Kiew, das 2019 für den Mies van der Rohe-Award nominiert wurde.

Elina Potratz: Welche Folgen hatte der Krieg für Sie und Ihr Büro in Charkiw?

Oleg Drozdov

Oleg Drozdov: Die Folgen waren dramatisch. Unser Büro hatte 30 Mitarbeiter, wir haben in den letzten Jahren viele öffentliche, darunter auch zahlreiche kulturelle Gebäude gebaut. Unser Büro war zudem ein Ort für unabhängige Diskussionen und Experimente. Zu Beginn des Krieges zerstreuten sich plötzlich alle in der Ukraine und der ganzen Welt. Wir zogen dann mit dem Büro nach Lviv um – wie viele meiner Architektenkollegen auch. Die erste Woche waren also von Fragen der Logistik bestimmt, man half sich gegenseitig und tauschte sich oft aus. Am Ende der zweiten Woche hatte meine Tätigkeit nichts mehr mit Architektur zu tun, alle waren damit beschäftigt, zu helfen, Personen irgendwo einzuquartieren. In der dritten Woche realisierten wir, dass es einen enormen Bedarf an temporären Unterkünften gibt. Und so haben wir die Arbeit mit unserem Büro – etwa die Hälfte unserer Mitarbeiter sind ebenfalls nach Lviv gegangen – in den Räumlichkeiten eines befreundeten Architekturbüros wieder aufgenommen. Hauptsächlich konnten wir, sowohl in der Stadt als auch außerhalb, öffentliche Gebäude für kurzfristige Unterbringungen umgestalten, beispielsweise Turnhallen mit Trennwänden unterteilen.

Also ist auch Ihre Arbeit als Architekt jetzt stark mit den Herausforderungen und dem Leid des Krieges verbunden?
Ja, natürlich. Mit wenigen Ausnahmen setzen sich die meisten unserer Projekte inzwischen zudem mit der medizinischen Versorgung und der Rehabilitation von Menschen auseinander, die aus dem Krieg zurückkehren.

Charkiw ist eine der am stärksten vom Krieg betroffenen Städte der Ukraine. Waren Sie wieder dort seit Kriegsbeginn?
Ja, immer mal wieder habe ich die Stadt besucht – auf der Suche nach Pilotprojekten für die Zukunft. Es ist vielleicht noch zu früh, um dort etwas zu starten, aber zumindest kann man darüber nachdenken. Das hat auch mit meiner Tätigkeit für die NGO Ro3kvit – Urban Coalition for Ukraine zu tun, die ich 2022 zusammen mit anderen Fachleuten gegründet habe. Es handelt sich vor allem um eine Wissensplattform für den Wiederaufbau der städtischen und ländlichen Umwelt. Wir forschen, entwickeln visionäre Planungen für die Städte sowie ein Programm zur Befähigung von Verwaltungsmitarbeitern und öffentlichen Vertretern.

Welche Rolle spielt Architektur in einer Situation, in der es in erster Linie um das Überleben und ganz existentielle Bedürfnisse von Menschen geht?
Die Rolle des Architekten hat sich in dieser Zeit dramatisch verändert. Die Arbeit hat viel mehr mit Initiierung, Verhandlung sowie Moderation zu tun, weil es oft um einen Kompromiss zwischen Qualität und dringendem Bedarf geht. Hinzu kommen viele verschiedene Interessengruppen und sehr begrenzte technische Möglichkeiten. Die Rolle der Architekten ist es daher, zwischen Technischem und Humanitärem zu vermitteln. Die Vermittlerrolle ist für mich mittlerweile ziemlich alltäglich geworden…

Spielt das Thema Wiederaufbau bei Ihnen bereits eine Rolle?
Ja, es gibt Pläne, bei denen es darum geht, den Aufbau der Zivilgesellschaft mit dem Wiederaufbau von Gebäuden zu verbinden. Wir wollen ein Beteiligungsprogramm starten, das soziale Bedürfnisse mit kommerziellen Interessen verbindet. Dieses Pilotprojekt starten wir gerade mit verschiedenen privaten Akteuren.

Letztes Jahr bot Norman Foster seine Hilfe für den Wiederaufbau von Charkiw an. Wie bewerten Sie das?
Das ist wohl eher eine typische Werbestrategie, das machen die großen Namen oft. Für mich ist das ein Verfahren ohne Diagnosephase. Meiner Ansicht nach wird es darum gehen, die Gesellschaft und Gemeinschaft wieder aufzubauen, und das vielleicht innerhalb eines neuen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhangs – mit dem Menschen im Zentrum. Um den Wiederaufbau der Stadt anzugehen, müssen wir aber zunächst einmal ein Modell für unser zukünftiges Leben entwickeln

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