Ein diffuses Gefühl der Überforderung
„Weil einfach einfach einfach ist“ – mit diesem einigermaßen sinnentleerten Slogan hat ein Mobilfunkanbieter es vor einigen Jahren auf die Spitze getrieben. Doch auch abseits davon gehört „Einfachheit“ vermutlich zu den beliebtesten Werbeversprechen unserer Zeit. Wen wundert es, denn in der Tat sehnen sich die meisten Menschen nach Vereinfachung. Ausgerechnet ein bekannter Technikhersteller hat vergangenes Jahr eine repräsentative Studie in Auftrag gegeben, die ergab, dass 72 Prozent der Deutschen „die Welt aktuell als anstrengend, komplex und überfordernd“ empfinden.(1) Fast genauso viele beziehen dieses Gefühl auch auf ihren Alltag.
Dass unsere Welt komplexer wird, ist dabei nicht nur ein subjektiver Eindruck. Jeder Mensch ist heute mit einer ungeheuren Menge an Informationen, Optionen und Erwartungen konfrontiert, die schwierige und ermüdende Auswahlprozesse abverlangen. Zudem steckt mittlerweile hinter beinahe jedem noch so banalen Alltagsgegenstand eine ungeahnte Komplexität: von der Produktentwicklung über die Rohstoffgewinnung und Fertigung bis hin zur Logistik – wobei all diese Schritte wiederum eine Vielzahl an Technologien, Prozessen und Akteuren umfassen. Ganz zu schweigen von den ökologischen oder sozialen Auswirkungen, die damit einhergehen.
Selbst hinter der „einfachen“ Tasse Kaffee, die laut oben genannter Studie viele Menschen als den wichtigsten „bewussten Entspannungsmoment“ vom überkomplexen Lebensalltag wahrnehmen, verbirgt sich ein ganzes Universum aus Herstellungs- und Verarbeitungsschritten: Züchtung, selektive Kreuzungen zur Optimierung von Ertrag, Resilienz und Aroma, Farm- und Plantagenmanagement, maschinelle Ernte oder Picking- oder Stripping-Verfahren, Nass- und Trockenaufbereitung durch Depulper, Fermentationstanks, Waschanlagen und solar- oder mechanisch betriebene Trocknungsbetten, Sortierung per Vibrationssieb, Dichtesortierer oder optische Sortierer mit Farberkennung, komplexe Handelsstrukturen mit Zertifikaten wie Fairtrade oder Rainforest Alliance, wechselkursabhängige Auktionen, vollautomatisierte Chargenröster, Gassensoren zur Aromaanalyse, Entsteinungsmaschinen, Abfüll- und Stickstoffverpackungsanlagen, Hygieneregelwerke nach HACCP-Standard, Lagerlogistik unter Schutzatmosphäre (2) – all das, bevor die Bohne im Supermarktregal oder in der Siebträgermaschine landet.
Selbst für Sachgeschichten-aus-der-Sendung-mit-der-Maus-geschulte Hirne ist diese Vielschichtigkeit kaum mehr zu überblicken – dabei sprechen wir noch nicht einmal von „großen Brocken“ wie Quantencomputern, künstlicher Intelligenz oder Social-Media-Algorithmen. Und so bleibt – angesichts der bloßen Ahnung vom Ausmaß dieser Verflochtenheit und Kleinteiligkeit – oft nur ein diffuses Gefühl der Überforderung, dem wir im Privaten womöglich mit minimalistischer Inneneinrichtung, Meditation oder Capsule Wardrobe begegnen.
Ganz neu ist das sicherlich nicht. Schon früher empfanden Menschen ihre Gegenwart als überfordernd und reagierten mit dem Wunsch nach Vereinfachung. Auch in der Architektur gab es immer wieder Strömungen, die Klarheit und Reduktion propagierten, jedoch mit je eigenen ideengeschichtlichen und gestalterischen Herleitungen.
Der heutige Ruf nach einfacherer Planung und Architektur ist dabei ein durchaus berechtigtes und nachvollziehbares Anliegen – nicht zuletzt angesichts der enormen Ressourcenverbräuche und Emissionen, die mit dem Bauen einhergehen. Umso wichtiger ist es, die Forderung nach Einfachheit als Teil eines größeren, historisch gewachsenen gesellschaftlichen Diskurses zu betrachten, ihr damit Tiefe zu verleihen und nicht in populistische Fallen zu tappen. Diese Ausgabe will dazu beitragen, das Thema Einfachheit ernst zu nehmen – ohne es sich dabei zu einfach zu machen.
Elina Potratz
Fußnoten
1 Neue Sehnsucht nach Einfachheit. Trendstudie im Auftrag von Siemens Hausgeräte, 2024.
2 Hierzu etwa: www.kaffeeverband.de/de/kaffeewissen