Im Interview mit Anjan Chaterjee über Neuroästhetik in der Architektur

Kohärenz, Faszination, Heimeligkeit

Prof. Dr. Anjan Chatterjee ist Professor für Neurologie, Psychologie und Architektur an der Perelman School of Medicine, University of Pennsylvania, und Gründungsdirektor des Penn Center for Neuroaesthetics, das sich unter anderem der Forschung in grundlegender und angewandter Neuroästhetik widmet. Er ist Gründungsmitglied des Verwaltungsrats der Neuroethics Society, ehemaliger Präsident der International Association of Empirical Aesthetics und ehemaliger Präsident der Behavioral and Cognitive Neurology Society. 2013 erschien sein Buch „The Aesthetic Brain: How We Evolved to Desire Beauty and Enjoy Art“. Mit ihm sprach Die Architekt-Chefredakteurin Elina Potratz. Das Interview wurde auf Englisch geführt.  
 
Elina Potratz: Welche Perspektive haben Sie als Neurowissenschaftler auf Ästhetik? 

Anjan Chatterjee: Als Kognitions- und Neurowissenschaftler interessiere ich mich für die Grundlagen menschlicher Erfahrungen: Sprache, Wahrnehmung und Emotionen. Und innerhalb dieser breiten Bereiche beschäftige ich mich mit unseren ästhetischen Erfahrungen. Wenn Menschen den Dingen in dieser Welt Wert zuschreiben, ist der ästhetische Wert ein wesentlicher Bestandteil. Ästhetik ist also ein wichtiger Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein. 

Gibt es für Sie einen persönlichen Grund, sich mit Ästhetik zu beschäftigen? 

Ich liebe Kunst und mich mit Dingen zu umgeben, die ich als ästhetisch, als angenehm empfinde. Das macht das Leben interessanter, bedeutungsvoller, lohnender. Und ich denke, dass dies in einer stark kapitalistischen und produktiven Gesellschaft, in der die Werte von Effizienz und Produktivität hochgehalten werden, oft unterschätzt wird. 

Hat die neurowissenschaftliche Erforschung von Ästhetik, kurz: Neuroästhetik, das Ziel, diese Sichtweise aufzubrechen oder ist sie zunächst ungerichtet? 

Ich kann als einzelne Person nicht über die Zielsetzung eines ganzen Fachgebiets sprechen, denn diese kann sehr unterschiedlich sein. Man könnte genauso danach fragen, warum wir Sprache oder Wahrnehmung erforschen – was ist das Ziel davon? Grundlegende neurowissenschaftliche Fragen sind jedoch sicherlich: Wie funktioniert unser Gehirn? Wie leben wir in dieser Welt? Und darüber hinaus: Sind die Erfahrungen, die wir machen, veränderbar und variieren sie? Letzteres wirft wiederum kulturelle Fragen auf. Und dann gibt es noch die Frage, warum Ästhetik wichtig ist, was bereits eine praktische Dimension hat. All diese Fragen gehören zur Neuroästhetik. 
 
Ist Ästhetik in Ihrem Verständnis dasselbe wie Schönheit? 

Foto: Jules Verne Times Two, julesvernex2.com (CC-BY-SA-4.0)

Nein, nicht unbedingt, aber Schönheit ist ein großer Bestandteil von Ästhetik. Wenn Menschen in Umfragen Wortassoziationen zum Begriff „Ästhetik“ nennen, ist Schönheit zwar das häufigste Wort, aber die Konzepte unterscheiden sich dennoch. Es gibt beispielsweise den klassischen Begriff des Erhabenen, in jüngerer Zeit wird über Ehrfurcht als eine wichtige ästhetische Emotion oder Erfahrung gesprochen. In dieser Emotion spielt auch ein wenig Furcht hinein, oder dass man sich im Vergleich zu einer sehr großen Sache sehr klein fühlt. Darüber hinaus gibt es auch das Gefühl der Verbundenheit oder der Freude sowie eine ganze Reihe weiterer ästhetischer Emotionen, die nicht nur mit Schönheit zu tun haben. Gerade die Kunst ist manchmal sogar darauf ausgelegt, zu provozieren und Unwohlsein zu erzeugen. Ästhetik ist also keinesfalls dasselbe, wie Zucker zu essen. 
 
Wenn es in der Architektur um Schönheit geht, gibt es nachvollziehbare Vorbehalte. Hier wird oft argumentiert, dass es keine objektiven Kriterien für Schönheit gibt und sie daher nicht messbar oder definierbar ist. Schönheit liegt bekanntermaßen im Auge des Betrachters. Was denken Sie darüber? 
 
Schönheit liegt im Gehirn des Betrachters, nicht im Auge des Betrachters, und unsere Gehirne sind einander ähnlicher als dass sie sich voneinander unterscheiden. Als Forschende interessieren wir uns für Variabilität in den menschlichen Reaktionen, die variiert in Abhängigkeit davon, was betrachtet wird. Wenn es um natürlichere Gegebenheiten wie Gesichter und Landschaften geht, reagieren Menschen im Allgemeinen sehr ähnlich auf Schönheit. Bei menschlichen Artefakten jedoch, bei denen Kunstwerke als Extremform gelten, unterscheiden sich die Reaktionen von Menschen dagegen voneinander. Architektur wiederum scheint sich irgendwo zwischen Landschaft und Kunst zu bewegen – man kann sie als eine Art gestaltete Landschaft betrachten. Auch hier sind die Reaktionen der Menschen unterschiedlich. Doch dass die Reaktionen auf Architektur variabel sind, bedeutet nicht, dass es keine Prinzipien gibt, die diese Variabilität erklären. Das Ziel ist, zu verstehen, was diese Prinzipien sind, denn sie sind nicht willkürlich. Es geschieht nicht zufällig, dass Menschen bestimmte Dinge mögen, es gibt dafür Gründe, und diese zu verstehen, ist wichtig. Jemand, der im Autismus-Spektrum liegt, könnte ganz anders auf eine Umgebung reagieren als eine neurotypische Person, das heißt jedoch nicht, dass wir die wissenschaftliche Untersuchung aufgeben und sagen: Jeder ist anders. Wir wollen diese Variabilität verstehen und wie man Entwurfsprinzipien, basierend auf dieser Variabilität, anpassen könnte. 

Was haben Sie hinsichtlich objektiver Kriterien von Schönheit in der Architektur herausgefunden? 

„Architektinnen und Architekten (…) bauen eine Struktur, die verbunden ist mit Vorhersagen, wie sich Menschen in diesen Räumen verhalten und fühlen werden.“ Cobe, The Opera Park, Kopenhagen 2023, Foto: Francisco Tirado

Unsere Forschung legt nahe, dass es drei große psychologische Komponenten gibt, auf die Menschen reagieren, wenn sie mit der gebauten Umwelt konfrontiert sind. Wir nennen sie Kohärenz, Faszination und Heimeligkeit (Hominess). Kohärenz bezieht sich darauf, wie organisiert und lesbar der Raum ist. Die zweite Komponente ist die Faszination, also wie viel Information und Komplexität vorhanden ist, ob die Umgebung einlädt oder neugierig macht, den Raum zu erkunden. Der dritte Punkt ist die Heimeligkeit, ob man sich wohlfühlt, das Gefühl hat, dort hinzugehören. Wir glauben, dass diese drei Komponenten einen großen Teil der Varianz erklären, wie Menschen auf die gebaute Umwelt reagieren. Wir haben dabei auch festgestellt, dass Menschen, die in Architektur oder Design ausgebildet sind, Kohärenz mehr wertschätzen als andere. Es ist zwar noch nicht ganz untersucht, ob diese Differenz auf die Persönlichkeit der Menschen zurückzuführen ist, die in die Architektur gehen, oder auf ihre Ausbildung. Aber offenbar ist ihre Wahrnehmung und die Gewichtung der Kohärenz, die eher ein kognitiver Aspekt ist, etwas anders gelagert als bei Menschen, die nicht in der Architektur ausgebildet sind. 

Diese drei Aspekte scheinen also unabhängig von kultureller Prägung zu sein? 

Es wurde noch nicht genug Forschung betrieben, um diese Frage zu beantworten. Viele Architekten schreiben über Ästhetik, aber wirkliche empirische Forschung betreiben sie in dieser Hinsicht nicht. Unserer eigenen Einschätzung nach sind diese drei Komponenten wahrscheinlich universell. Dabei scheint jedoch der Aspekt der Heimeligkeit am variabelsten zu sein. Das heißt, die Art von Umgebung, in der man sich am wohlsten und am zugehörigsten fühlt, hängt wahrscheinlich vom Klima ab, in dem man aufgewachsen ist, von der Art der Häuser, in denen man gelebt hat, und ob sich diese in der Stadt oder auf dem Land befanden. Jemand, der in einer tropischen Umgebung lebt, kann beispielsweise ganz andere Vorstellungen von Heimeligkeit haben als jemand, der in der Arktis zuhause ist. Das Verlangen nach Heimeligkeit ist also universell, aber welche Umgebung dieses Gefühl erzeugt, ist vermutlich variabel. 
 
Sie haben schon erwähnt, dass die Studien in der Neurowissenschaft noch am Anfang stehen. Gibt es dennoch Erkenntnisse, die Architektinnen und Architekten nutzen können? 

Die genannten Erkenntnisse sind wahrscheinlich die nützlichsten. Aber wenn Architektinnen und Architekten diese Überlegungen ernst nehmen, sollten sie meiner Meinung nach Studien finanzieren. Oder sie sollten Leute einstellen, die sich mit Neuroästhetik oder Psychologie der gebauten Umwelt beschäftigen. Historisch waren Architektinnen und Architekten sehr gut darin, über Räume und Organisation von Raum nachzudenken – in den letzten 20 Jahren haben sie sich zudem mit dem Klima und mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Aber es ist ein wenig seltsam, dass Architekten, historisch gesehen, nicht sehr viel über Menschen nachgedacht haben. Das scheint ein blinder Fleck zu sein. Es gibt zwar die Idee, dass die gebaute Umwelt letztendlich für Menschen entworfen wird. Doch wenn man das ernst nimmt, muss man etwas von den Menschen verstehen, man muss etwas über Psychologie, über kognitive Neurowissenschaften wissen. Dieses Gebiet wurde jedoch größtenteils ziemlich ignoriert. Das ist von außen betrachtet seltsam: wie ein Schneider, der wunderschöne Kleidung entwirft, aber nichts über den menschlichen Körper weiß. Auf was ich Architektinnen und Architekten oft hinweise, ist eine Idee, die allgemein als Vorhersagefehler bezeichnet wird. Grundlage dieser Idee ist, dass wir Modelle und Hypothesen über die Welt in uns tragen, die immer auch mit Vorhersagen für die Zukunft verbunden sind. Wenn Sie beispielsweise einen Raum verlassen und einen Schalter betätigen, um das Licht auszuschalten, machen Sie eine Vorhersage. Sie haben ein Modell von der Welt im Kopf, in dem das Licht mit einem elektrischen Stromkreis verbunden und über den Schalter gesteuert ist. Wenn Sie den Schalter jedoch betätigen und das Licht nicht ausgeht, müssen Sie Ihr Modell ändern. Das ist eine fundamentale Art und Weise, wie wir alle ständig lernen. Und auch Architektinnen und Architekten machen gewissermaßen Prognosen für die Zukunft. Sie bauen eine Struktur, die verbunden ist mit Vorhersagen, wie sich Menschen in diesen Räumen verhalten und fühlen werden. Jedoch werden nach Bau und Bezug des Gebäudes selten bis nie Daten erhoben, die danach fragen: Sind die Vorhersagen tatsächlich eingetreten? Mögen die Leute den Raum oder hassen sie ihn? Es gibt sicher alle möglichen Gründe, warum dies nicht getan wird, aber dadurch geht die Möglichkeit verloren, Neues zu lernen und dies künftigen Entwürfen anzupassen.  
 
Wie gelingt es, etwas so Komplexes wie Architektur und städtische Umgebungen zu untersuchen und dabei zu zuverlässigen Ergebnissen zu kommen? 

Cobe, The Opera Park, Kopenhagen 2023, Foto: Francisco Tirado

In jedem Bereich der kognitiven Neurowissenschaften kann man sagen: Wie studiert man Emotionen? Emotionen sind doch so komplex. Wie studiert man Sprache? Sprache ist ebenfalls sehr komplex. Wenn sich etwas zu studieren lohnt, sollte es komplex sein, denn wenn es einfach ist, kennt man die Antwort in einem Jahr. Komplexität ist also nicht zwangsläufig ein Hindernis. Aber es bedeutet, dass man Modelle braucht. Und man muss damit beginnen, sich einzelne Komponenten anzusehen. Natürlich gibt es kein ideales Experiment, aber man versucht, ein Forschungsprogramm aufzubauen, in dem man kleine Teile herauslöst, diese untersucht und darauf immer weiter aufbaut. Das größte Hindernis liegt im Moment darin, dass nicht genug Menschen in diesem Feld forschen und es nicht genug Finanzierung gibt – es ist also noch ein sehr junges Feld. Aber zu Ihrer Frage: Wir verwenden vor allem Bilder, mit denen wir Studien im Labor durchführen. Wir haben etwa die funktionelle Magnetresonanztomographie für Studien genutzt, bei denen Menschen Bilder gezeigt werden. Natürlich hat das seine Einschränkungen, da Bilder zweidimensionale Konstrukte sind. Im Anschluss nehmen wir also die Laborbefunde und bringen sie ins Feld, um zu sehen, ob dieselben Ergebnisse auch in einer realen Umgebung gelten. In einer realen Umgebung kann man zwar nicht so einfach neuronale Daten sammeln, aber man kann Verhaltensdaten sammeln. Das Aktuellste, was wir derzeit tun, ist, einige dieser Erkenntnisse in virtuelle Realität umzusetzen. Die Idee dabei ist, dass wir ähnliche Kontrollmöglichkeiten wie in einer Laboreinstellung haben, aber auch eine etwas immersivere Erfahrung schaffen als bei zweidimensionalen Bildern. Um die Forschung voranzutreiben, muss man sie aus jeder Richtung angehen. Im Moment versuchen wir, eine Datenbank mit architektonischen Bildern zu erstellen. Das führt uns zurück zur kulturellen Frage, denn ein Großteil der Forschung in der Neuroästhetik und auch der Neuroarchitektur hat sich bislang auf Europa und Nordamerika konzentriert und nicht auf die Kunst und Architektur in Südasien, Afrika oder Lateinamerika geschaut. Von dieser sehr engen Sichtweise, dass großartige Architektur und Kunst immer aus Europa und Nordamerika kommen, möchten wir wegkommen. 

Es scheint naheliegend, dass Architektur, die wirklich nachhaltig sein will, nicht nur ökologisch, sondern auch sozial, wirtschaftlich und ästhetisch nachhaltig sein sollte. Was hat Ästhetik Ihrer Meinung nach mit Nachhaltigkeit zu tun? Beschäftigt sich die Neurowissenschaft überhaupt mit Nachhaltigkeit? 

Man muss kein Neurowissenschaftler sein, um sich für Nachhaltigkeit zu interessieren, man muss einfach Bewohner dieser Erde sein. Oft wird in Diskussionen über Nachhaltigkeit wenig über das Problem des Abrisses gesprochen. Ständig werden Gebäude abgerissen und durch neue ersetzt. Meist liegt der Fokus bei Nachhaltigkeit auf bestimmten Materialien und ihrer Anpassungsfähigkeit an das Klima. Dabei wird ausgeblendet, dass Gebäude oft innerhalb von 15 oder 20 Jahren abgerissen werden, wenn Menschen keine emotionale Bindungen zu ihnen aufgebaut haben. Die ökologischen Kosten des Abrisses und der Energieaufwand für den Wiederaufbau sind enorm. Der einzige Weg, diesem Trend entgegenzuwirken, ist meiner Meinung nach, dass Gebäude in der Gesellschaft wirklich geschätzt werden und Menschen eine emotionale Bindung zu ihnen haben – und darum geht es bei Ästhetik. Ein Gebäude, das nach den besten Prinzipien der Nachhaltigkeit entworfen ist, kann hässlich oder schön sein. Es gilt also, explizit über die Schönheit eines Gebäudes nachzudenken und darüber, wie Menschen darauf reagieren und ob sie es schätzen werden – das ist das Wort, das mir hier in den Sinn kommt: Schätzen die Menschen das Gebäude, im Sinne eines Schatzes, den sie schützen wollen? Das Nachdenken über langfristigen Abriss sollte zentraler Teil der Nachhaltigkeitsdiskussion sein: Wie wird es in 50 Jahren sein? Werden sich die Menschen noch um das Gebäude kümmern? 

Konzepte von Schönheit sind also einerseits von evolutionären Aspekten geprägt, andererseits aber auch von der jeweiligen Kultur. Viele Architekturschaffende sagen, dass wir unsere aktuellen kulturellen Konzepte von Schönheit in Frage stellen müssen, zum Beispiel die Vorstellung, dass alles glatt, weiß, neu und perfekt sein muss. Stattdessen sollten wir lernen, Schönheit im Umbau bestehender Gebäude und der Wiederverwendung von Materialien zu erkennen. Es geht darum, auch in vermeintlich unvollkommenen Dingen Schönheit zu sehen. Wie sehen Sie das aus wissenschaftlicher Sicht? 

Ein wichtiger Aspekt dabei ist die Frage nach unserem Verhältnis zur Natur. Die Eigenschaften, die Sie genannt haben, das Weiße, Glatte und Glänzende, das Rechteckige und vieles von dem, was mit modernen Bewegungen verbunden wird, war nicht besonders kompatibel mit der Natur. Man sollte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass unsere Gehirne sich während des Pleistozäns, etwa 1,8 Millionen Jahre, entwickelt haben, in Anpassung an eine bestimmte Art von Umwelt. Die städtischen Umgebungen, in denen wir uns heute aufhalten, existieren gerade einmal seit etwa 8000 oder 10.000 Jahren, insbesondere die großen, elektrifizierten Städte gibt es erst seit etwa 150 Jahren – das ist nur ein Wimpernschlag in unserer Entwicklungsgeschichte. Unsere Gehirne sind nicht darauf ausgelegt, mit dieser Art von Umwelt umzugehen. Hinzu kommt dann noch die digitale Umgebung und die zunehmende Digitalisierung unseres Lebens, die uns noch weiter weg führt von der Natur. Ein bekanntes Konzept in Design und Architektur ist die biophile Bewegung, bei der es darum geht, Elemente der Natur in die gebaute Umwelt zu integrieren. Dabei scheint es drei Möglichkeiten zu geben. Die erste besteht darin, tatsächlich belebte Natur in die Gestaltung einzubringen, also Pflanzen, Bäume, Moose. Die zweite Möglichkeit liegt darin, Dinge zu nutzen, die die Natur nachahmen, etwa Bilder, andere Darstellungen oder sinnliche Effekte aus der Natur. Und drittens gibt es die Möglichkeit, Formen aufzugreifen, die abstrakte Muster aus der Natur imitieren. Momentan werden fraktale Muster diskutiert, insbesondere im Bereich des Innendesigns. 

Die andere Perspektive wäre, Menschen beizubringen, Dinge schöner zu finden, die im Moment nicht als schön gelten. Denn sicher nehmen beispielsweise viele Menschen derzeit Dinge, die glänzend, neu und weiß sind, tatsächlich als schön wahr, obwohl sie sich stark von natürlichen Phänomenen unterscheiden. 

Ja, das könnte sein. Ich bin absolut dafür, Menschen gegenüber ihrer ästhetischen Umgebung zu sensibilisieren. Aber ich würde genauso sagen, dass auch Architektinnen und Architekten in dieser Hinsicht eine Schulung benötigen – und ein besseres Verständnis für die menschliche Psychologie. 

Für Sie ist es also ein Thema, das aus unterschiedlichen Richtungen angegangen werden muss. Glauben Sie auch, dass Ästhetik aus psychologischer Sicht ein Weg sein könnte, um die Angst der Menschen vor einer ökologischen Transformation zu mindern und sie stattdessen zu motivieren? 

Anjan Chaterjee

Ich denke schon. Wenn wir über ästhetische Erfahrungen sprechen, teilen wir diese in drei Gruppen auf, wir nennen es auch „ästhetische Triade“. Erstens sind da die sinnlichen Qualitäten der Dinge, zweitens die Emotionen, die hervorgerufen werden – typischerweise Vergnügen, wenn wir über Schönheit sprechen, aber es können auch andere Dinge sein –, und drittens die Semantik und die Bedeutung der Dinge. Wenn Menschen bestimmte Konzepte und Ideen als gut empfinden, dann beginnt das auch, in ästhetische Überlegungen überzugehen. Man könnte sich vorstellen, dass, wenn Menschen Nachhaltigkeit und ökologisches Verantwortungsbewusstsein als schöne Ideen betrachten, sich diese Konzeptualisierung auch auf die sinnliche Wahrnehmung auswirkt. Ich warne jedoch davor, sich nur auf das schöne Konzept, die schöne Idee zu berufen, und dabei nicht auf die Sinnlichkeit des Gebauten und die Emotionen zu achten, die es hervorruft. Die Schönheit der Nachhaltigkeit ist nicht nachhaltig, wenn sie nur eine Idee bleibt. 

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Ein Gedanke zu “Kohärenz, Faszination, Heimeligkeit

  1. In der Zeit der 68er Bewegung haben wir Studierenden an der Architekturabteilung der ETH in Zürich auf eine transdisziplinärere Ausbildung gepocht und sowohl Soziologie als auch Psychologie, und Verhaltensforschung, Architekturgeschichte und Ethnologie als auch Ökonomie und Politik in unser Blickfeld genommen. Als prominentester Gastprofessor sei der Basler Soziologe Lucius Burckhardt genannt, der unserem Ruf gerne gefolgt ist und der unser Berufsbild und unsere Entwurfsentscheidungen zumindest im Wohnungsbau stark mitgeprägt hat.
    Als Gegenreaktion haben die nachfolgenden Entwurfsprofessoren den „innerarchitektonischen Diskurs“ ausgerufen – Martin Steinmann sei hier als Fahnenträger genannt – und die Architektur als Disziplin der „reinen Raumkunst“ proklamiert.
    Nach dem Revival des „less is more“ der Moderne, welches zu einer Banalisierung geführt hat, kam das „anything goes“ der Postmoderne, welches zu einer Willkür, Beliebigkeit und Sprachverwirrung in der Architektur geführt hat.
    Das Grundlagenwerk Christopher Alexanders und seines Forschungsteams, „A Pattern Language“ wurde erst viele Jahre später ins Deutsche übersetzt, seine anderen zentralen Bücher wie „The Timeless Way of Bildung“ und „The Oregon Experiment“ sind bis heute nie auf Deutsch erschienen.
    Die Folgen sind fatal. Der Laie traut sich kein Urteil über Architektur mehr zu und die Schweiz ist – verglichen mit den 50er Jahren ästhetisch stetig banaler, hässlicher und liebloser geworden.

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