Was ist eigentlich Architektur?
Es ist ein warmer Tag in Mainz-Kastel, jenem paradoxen Flecken Rheinhessens, der zwar nach rheinland-pfälzischer Hauptstadt klingt, aber Teil der hessischen ist. Ein aus der Zeit gefallenes Schild warnt die Autofahrenden vor den hier spielenden Kindern. Das Areal, das einst von der „Kastel Housing“ genannten Einrichtung der US-Armee genutzt wurde, wird seit 2015 umgewandelt. Die Wiesbadener Stadtentwicklungsgesellschaft (SEG) und die Wohnungsbaugesellschaft der Landeshauptstadt (GWW) entwickeln das Areal. Ein Modellquartier für nachhaltige Stadtentwicklung soll hier entstehen. Zwei Bausteine dafür hat der Kölner Architekt Lars Otte in Arbeitsgemeinschaft mit Klaus Leber Architekten aus Darmstadt entworfen: Ein achtgeschossiger Wohnturm und einen fünfgeschossigen, langgezogenen Gebäuderiegel. Gemeinsam mit einem sanierten Kasernenbau an der Straße rahmen die beiden neuen Häuser nun einen kleinen Park mit wunderschönen, alten Bäumen.
Der flachere Riegel im Süden mit großen Kastanien und Linden zeigt sich mit einem massiven Sockel, auf dem drei Stockwerke mit einer Holzfassade ruhen, die wiederum von einem Dachgeschoss mit Flugdach abgeschlossen werden. Otte betont den Haupteingang als zweigeschossiges Portal genau in der Gebäudemitte. Auf der Rückseite findet dieses Motiv seine Entsprechung in einem Gemeinschaftsraum, das als kleines Haus aus dem eigentlichen Bauvolumen herausgerückt ist. Bei genauerer Betrachtung sind auf der Parkseite weitere Eingänge zu erkennen, die Aufschluss über die Organisation des Hauses geben: Eine Mischung aus insgesamt 24 Wohnungen und gestapelten Reihenhäusern findet sich hier, die sowohl in die Tiefe des Hauses als auch in die Höhe ineinander verschachtelt das Gebäude füllen. Dabei wissen die Grundrisse ebenso zu überzeugen wie die tektonisch nachvollziehbar gegliederte Fassade. Im Detail ist jedoch zum einen immer wieder zu erkennen, welch immenser Kostendruck dem geförderten Wohnungsbau unserer Tage aufgebürdet wird.

Arbeitsgemeinschaft Klaus Leber Architekten + LOA | Lars Otte Architektur, Wohnriegel, Mainz-Kastel 2019 – 2022, Foto: Lars Otte
Gegenüber steht der Turm, der selbstbewusst in der Hauptachse des einstigen Militärareals steht und mit seinem hölzernen Kleid aus verschiedenen Perspektiven der Umgebung als Hochpunkt angemessen, weil nicht auftrumpfend, über die Nachbarbebauung lugt. „Mir war wichtig, dass die Gestalt des Hauses mit seiner inneren Ordnung übereinstimmt und dass seine Fügung dem Material entspricht“, erklärt Otte mit Blick auf den Turm. In drei mal drei Feldern ist der Bau organisiert, jedes Feld wird in der Fassade mit zwei Achsen belegt, sodass sich ein sechsachsiges Bild mit hellen, tiefen Lisenen auf dunklem Holzgrund ergibt. In der Tiefe des Gebäudes wird diese Struktur verdoppelt, um im Erdgeschoss einer bestehenden Kinderkrippe den notwendigen Raum für ihre Erweiterung zu geben. Damit ergibt sich im Erdgeschossgrundriss ein Baukörper, der sich im Verhältnis 2 zu 1 teilen lässt.
Die geplanten Austritte, um den Raum zwischen den tiefen Lisenen zu nutzen, konnten dem Kostendruck nicht standhalten, wie Otte konstatiert, dafür überzeugt hier endlich einmal wieder ein Bau mit souveräner Gliederung und einem sauberen Abschluss nach oben, wo die Fassadengestaltung deutlich macht, dass das Haus nicht mutwillig abgeschnitten, sondern bewusst beendet wird. Das Traufgesims ist angemessen dimensioniert und bietet dem Auge ebenso Orientierung wie die Gesimse auf Höhe der Geschossdecken, die gleichermaßen als Witterungsschutz für das Holz wie als Brandschutzelement dienen – verhindern sie doch das Übergreifen etwaiger Fassadenfeuer von einem Stockwerk aufs andere. Ottes Entwurfszeichnungen zeigen das Dach der Kita als zugänglichen Ort, der im Bereich der hinteren drei Achsen von einer Pergola abgeschlossen wird, die dem Gleichgewicht des Hauses gut getan hätte, aber nicht ausgeführt werden konnte.
Auch den Eingang des Turms fassen Leber und Otte architektonisch – nicht über zwei Geschosse, aber ebenso wirksam über zwei Achsen des Gebäudes. Neben der Krippe findet sich im Erdgeschoss ein von allen Anwohnenden nutzbarer Gemeinschaftsraum mit dazugehörigen Toiletten. Den zentralen Quadranten des Turms bildet ein Betonkern, der das Treppenhaus und den Fahrstuhl aufnimmt und für die notwendige Aussteifung des Holzbaus sorgt. 21 Wohnungen sind in den Turm eingeräumt, neun davon gefördert. Alle sind in gleicher Weise konfiguriert und rotierend um den Erschließungskern angeordnet. Die Gebäudeecke wird stets von einer Wohnküche mit Loggia besetzt, ergänzt um ein Bad sowie ein, zwei oder drei weitere Räume – alle mit den gleichen Ausbaustandards. „Im Detail hätte vieles besser gelöst werden können auch und vor allem mit Blick aufs Material“, sagt der Architekt selbstkritisch. Die Leitdetails, die Klaus Leber und Lars Otte entwickelten, haben den Weg nicht in Gänze in die Umsetzung gefunden.
Dass Lars Otte die schlüssige Folge vom Material über die Konstruktion zum Raum beherrscht, zeigt ein merklich kleineres Projekt. Im Norden Darmstadts, im Stadtteil Arheiligen, steht umgeben von alten Obstbäumen eine kleine Sauna. Während der Covid-Pandemie hat der gelernte Schreiner sie für die eigenen Eltern entworfen und gemeinsam mit Freunden eigenhändig errichtet. Ein hölzernes Exoskelett ruht auf handelsüblichen Schraubfundamenten und trägt den eigentlichen Saunaraum: Der hiesigen Bauordnung entsprechend nicht größer als 30 Kubikmeter und ohne Feuerstätte. Links des Eingangs findet sich eine Liegefläche, rechts eine kleine Sitzbank, die Wärme erzeugt ein Elektroofen. Eine große Scheibe gibt den Blick frei in den schönen Garten. Der kleine Bau weckt dabei Erinnerungen an Peter Zumthors Zink-Minen-Hütten in den Felsen von Allmannajuvet – eine bewusste Referenz, wie Otte schmunzelnd erzählt: „Die Art und Weise, wie dort Handwerk, Material und Konstruktion zu gebautem Raum werden, beeindruckt mich.“ Dabei ist der Bau ausschließlich geschraubt, kommt ohne Klebung aus und ließe sich im Fall der Fälle restlos demontieren.
Neben Fragen nach Nachhaltigkeit durch Schönheit auf der einen und Wiederverwendbarkeit auf der anderen Seite beschäftigt den gebürtigen Darmstädter, der nach seinem Studium an der dortigen Fachhochschule lange als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der benachbarten TU arbeitete, die Frage, was Architektur zu Architektur macht. Unweit der kleinen Sauna steht ein weiteres Projekt in den Startlöchern: ein altes Haus, dem man die Zeitschichten und die damit einhergehenden Überformungen ansieht, soll saniert und erweitert werden. „Die Struktur des Hauses ist großartig: einfach und funktional. Und das geht sicher nicht auf einen Architekten zurück.“ Die dreigeteilte Struktur des Bestands wird durch den Eingriff Ottes präzisiert und bildet die strukturelle Vorlage für die rückseitige Erweiterung, die im besten Fall zwei Familien Lebensraum bietet und der Bauherrin die Investitionen langfristig wieder einspielt. Die alten Stakendecken wurden ausgebaut, der Lehm von der Bauherrin nach und nach ausgewaschen und vom Stroh getrennt. Er bildet nun die Basis für den neuen Lehmputz.
Derart rurale Architektur beschäftigt Otte auch im Odenwälder Fischbachtal, wo sukzessive ein alter Hof ertüchtigt und umgebaut wird. Seit Jahren schon findet hier ein Festival statt, nach und nach sollen die alten Räumlichkeiten für Kultur und Gemeinschaft erschlossen werden. „Das oder die beiden Projekte in Arheiligen sind Reallabore, eine bauende Forschung, die ohne die enge Zusammenarbeit mit den Bauleuten undenkbar wären,“ so Otte. Dabei orientiert sich Lars Otte stets an den vorgefundenen Ordnungen. „Und wo keine ist, muss man eben eine schaffen“, erklärt der Architekt, der sich im Rahmen seiner Universitätszeit lange und intensiv mit einer Forschungsarbeit zu Herman Hertzberger, Aldo van Eyck und dem Strukturalismus beschäftigt hat.
Dass das kein Selbstzweck ist, wird beim Blick auf den Entwurf für das Dorfgemeinschaftshaus in Lich-Bettenhausen in Nordhessen deutlich. Am südlichen Ortsausgang galt es, ein altes Feuerwehrgerätehaus zu erhalten und um ein Haus für die Dorfgemeinschaft zu erweitern. Lars Otte reagiert hier mit einem System aus Raumschalen, die sich um den alten Kern des Bestands und einen neuen Versammlungsraum in gleicher Breite legt. Einer Kolonnade gleich, verbindet ein innenliegender Rundweg alle Räume des Hauses und wird umgeben von einem Mantel unterschiedlicher Räume: Vom Lager über den Thekenbereich bis zur Loggia der Außenterrasse finden sich unterschiedliche Funktionen in dieser Ordnung ein. Dabei nimmt der Architekt das Gefälle des Geländes auch im Inneren auf und erzeugt so eine geschickte Zonierung der verschiedenen Bereiche. Betont wird das durch das große Satteldach, das den großen Saal krönt. Der Wettbewerbsjury war das 2023 den ersten Preis wert, Baubeginn soll im Herbst 2025 sein.
David Kasparek

LOA | Lars Otte Architektur, Wettbewerb, 1. Preis Dorfgemeinschaftshaus, Bettenhausen 2023, Foto: Lars Otte
https://larsottearchitektur.de/
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