Simplify your life
Der Soziologe Julian Müller nimmt uns mit auf einen Parcours durch die Komplexitäten unseres Lebens – Komplexitäten, die keineswegs bloß Ausdruck heutiger Unübersichtlichkeiten sind, sondern das Menschsein seit jeher prägen. In unserer Gegenwart hat sich daraus zunehmend der Versuch entwickelt, das eigene Leben bewusst einfacher zu gestalten – als eine Art Überlebensstrategie. Es wird gefastet, entrümpelt, achtsam geatmet – in Coachings, Ratgebern und Selbstexperimenten soll gezeigt werden, wie man das Leben individuell vereinfachen kann. Doch gerade dieser Fokus auf das Persönliche lässt das kollektiv-politische Leben paradoxerweise oft noch komplizierter erscheinen.
Dass die Welt immer komplexer wird, ist eine Binse. Kaum jemand würde dem wohl ernsthaft widersprechen. Und nicht wenige dürften sich derzeit beim morgendlichen Blick in das Smartphone oder in die Tageszeitung nach jenen Zuständen zurücksehnen, die Jürgen Habermas Mitte der 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Titel „Die Neue Unübersichtlichkeit“ zu fassen versuchte.(1) Die Verhältnisse scheinen seither noch viel komplexer und unübersichtlicher geworden zu sein: Bedrohungen diffuser, Bündnisse fragiler, Kriege hybrider, politische Mehrheiten unbeständiger und die Zukunft immer düsterer. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Denn parallel zu dieser Zunahme an Komplexität wird man, wohin man auch blickt, gegenwärtig auch auf eine Feier des Einfachen und auf ganz unterschiedliche Strategien der Simplifizierung des eigenen Lebens stoßen. Das gilt etwa für diverse Formen der Askese und des Verzichts oder für bestimmte Techniken der Selbstbeschränkung, die ideologisch und ästhetisch bisweilen ganz unterschiedlich grundiert sein mögen, aber dennoch vergleichbar sind. Es ist die Gleichzeitigkeit einer alltäglichen Konfrontation mit Komplexität und die wachsende Sehnsucht nach Einfachheit, die sich derzeit nicht nur in der Architektur, sondern in unterschiedlichen Bereichen beobachten lässt und die ein Signum der Gegenwart zu sein scheint.
Entlastung und Stabilisierung von außen
Nun ließe sich kritisch einwenden, dass Komplexität kein Sondermerkmal der Gegenwart ist und dass Gegenwarten seit jeher dazu tendieren, die eigene Lage zu dramatisieren. Das stimmt sicherlich. Schon immer sah sich menschliches Dasein mit Komplexität und Kontingenz konfrontiert und musste es irgendwie schaffen, diese im Alltag handhabbar zu machen. Wie das geschieht, war so etwas wie die Ausgangsfrage von Ethnologie, Anthropologie und Soziologie als modernen Wissenschaften. Die Philosophische Anthropologie, ein eigener Forschungsansatz im 20. Jahrhundert, bestimmte den Menschen als ein schwaches, ja geradezu lächerliches Lebewesen, das weder besonders schnell laufen noch gut schwimmen oder gar fliegen kann und mittlerweile ganze zwei Jahrzehnte benötigt, bis es soziale Reife erlangt. Der Mensch als „Mängelwesen“, wie es bei Arnold Gehlen, einem wichtigen Vertreter der Philosophischen Anthropologie, heißt, könne aber all diese biologischen Schwächen dadurch kompensieren, dass er in der Lage ist, Institutionen aufzubauen. Damit sind zunächst einmal die Sprache, die Familie, verbindliche Rituale, Tausch- und Normensysteme, später auch Organisationen, der Staat und erwartbare Biografien gemeint, ohne die der Mensch nicht überlebensfähig wäre.
Solche Institutionen sorgen für die dauerhafte Erfüllung primärer menschlicher Bedürfnisse. Diese, wie Arnold Gehlen sie nennt, „Hintergrundserfüllung“, führe nicht nur zu einer allmählichen Stabilisierung menschlichen Verhaltens, sondern vor allem auch – und das ist der entscheidende Zusatz – zur Unterbrechung von Reflexion. Man muss also nicht den ganzen Tag darüber nachdenken, woher man etwas zu essen bekommt, wo man ein Dach über dem Kopf findet und wieviel eine Münze wert sein könnte. Das Zauberwort bei Gehlen ist an dieser Stelle „Entlastung“. Institutionen entlasten die Einzelnen, indem sie Bereiche der alltäglichen Sorglosigkeit und des Nicht-Hinterfragens errichten und dadurch „Außenhalt“ schaffen.(2)
Dass Gehlen die Unterbrechung von Reflexion also positiv bewertet und auf die Entlastungsfunktion von Institutionen abstellt, hat diesem durch und durch konservativen Denker, wenig überraschend, viel Kritik eingebracht, gerade von linken Autorinnen und Autoren. Warum Entlastung etwas Begrüßenswertes sein soll, ob nicht gerade die Steigerung von Reflexion das große Versprechen der Moderne sei und ob Institutionen eher Agenten der Entlastung oder Agenten der Entfremdung seien, war Gegenstand hitziger Auseinandersetzungen.(3)
Diese mittlerweile ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Debatten wirken aus heutiger Sicht ein wenig aus der Zeit gefallen. Und das hat zwei Gründe: Erstens scheint Institutionenkritik heute die politischen Lager gewechselt zu haben. Während derzeit nicht selten Konservative mit „Disruption“ liebäugeln und Institutionen zerschlagen wollen, sind es umgekehrt selbsternannte Progressive, die das Bewahren der institutionellen Ordnung zum Ziel erheben und dabei nicht mit Pathos sparen. Zweitens fällt es zunehmend schwer, Institutionen noch so selbstverständlich als „stabilisierende Gewalten“ zu beschreiben, wie es Gehlen getan hat.(4) Kirchen, Parteien, Vereine und Gewerkschaften ringen um Mitglieder und sind längst keine verbindlichen Instanzen im Alltag mehr; Biografien und Karrieren sind keineswegs mehr durch Erwartbarkeit gekennzeichnet und lassen sich daher auch nicht mehr als „Normallebensläufe“ beschreiben; die Wissenschaft wird immer häufiger zur Zielscheibe teils heftiger Kritik, weswegen wissenschaftliche Expertise zunehmend mit nicht-wissenschaftlicher Gegenexpertise rechnen muss; und Politik, Polizei und Recht haben in den letzten Jahren erhebliche Reputations- und Vertrauensverluste erlebt. All jene klassischen Institutionen also, an die wir im Zusammenhang mit modernen Gesellschaften üblicherweise denken, die lange Zeit das Zusammenleben rahmen und Verbindlichkeit herstellen konnten, sind spürbar unter Druck geraten.
Populäre Askese und die Suche nach Einfachheit
Stattdessen lässt sich jedoch das Entstehen neuartiger Institutionen feststellen, die eine andere Form annehmen und die nicht länger Außenhalt, sondern eher Innenhalt versprechen. Damit sind etwa viele jener gegenwärtig beobachtbaren Lebensstilentscheidungen gemeint, die durch ein gewisses Maß an Rigorismus gekennzeichnet sind und dadurch biografischen Halt versprechen. Man denke etwa an derzeit populäre Formen von Askese, etwa den Verzicht auf bestimmte Produkte und Praktiken (Fleisch, Plastik, Alkohol, Zucker, Pornographie, Social Media) und entsprechende Rituale des Fastens. Dry January, No-Nut-November oder Digital Detox sind längst Bestandteile des liturgischen Kalenders in spätmodernen, nachsäkularen Gesellschaften.
Es ist sicherlich nicht übertrieben, darin Versuche zu sehen, unter Bedingungen allgemeiner Unverbindlichkeit und Unsicherheit zumindest im eigenen Leben Sicherheit und Bindung selbst herzustellen.(5) Ähnlich verhält es sich auch mit dem Erfolg unterschiedlicher Alltagsminimalismen. Wo das Fasten eine Entgiftung der Leber, der Lunge, des Gehirns oder des Gewissens verspricht, dürften sich Leserinnen und Leser von Fumio Sasaki und Marie Kondo eher eine Entgiftung ihrer Wohnungen und Kleiderschränke erhoffen. So nachvollziehbar dieser Wunsch ist, so wenig sollte außer Acht gelassen werden, wie privilegiert man sein muss und welche historischen Wohlstandssteigerungen notwendig waren, damit das Wegwerfen von Dingen derart aufgewertet werden kann.(6)
Auch die diversen Bezugnahmen auf Natur, als Chiffre einer unverfälschten und überzeitlichen Einfachheit, dürfen nicht unerwähnt bleiben. Ob im Vertrauen auf die Paleo-Diät, in der Feier von Sauerteig, den zehn Minuten Steinzeit-Hocken pro Tag oder der neuen Lust am Fermentieren, die Natur bietet sich auch deshalb so gut als Ratgeber für das eigene Leben an, weil sie sich im Gegensatz zu Experten gegen kritische Nachfragen sperrt. Das ist der strategische Vorteil der „Steinzeit“ gegenüber jedem Argument aus der Ernährungswissenschaft. Gleiches gilt auch für die Vergangenheit als Retrofiktion eines vermeintlich einfacheren Lebens, das derzeit in vielen dezidiert nostalgischen Projekten bemüht wird. Es gibt es noch, das gute Leben. Das ist es, was uns im Manufactum-Katalog oder in The Heritage Post präsentiert wird, womit aber durchaus auch manch unschöne politische Kampagne spielt.
Rigorose Vereinfachung als Kompensation
Ein weiterer interessanter Fall sind die vielen Bekehrten, die sich in den letzten Jahren zu Wort gemeldet haben und die gerade deshalb so laut sprechen können, weil sie in der Lage sind, an der Komplexität der Welt gewissermaßen vorbei zu sprechen. Auf unterschiedliche Weise sind sie – im Übrigen handelt es sich zumeist um Männer – zum Katholizismus, zum Bitcoin, zur radikalen Staatsskepsis oder gleich ganz nach rechts konvertiert und berufen sich in ihrer persönlichen Wandlung nicht selten auf Erweckungserlebnisse, also quasi-religiösen Erfahrungen. Das können Schicksalsschläge, wissenschaftliche Vorträge, Youtube-Videos oder Alltagserfahrungen sein, die dazu geführt haben, die Welt endlich klar und in ihrer Einfachheit sehen zu können. Diese neu gewonnene Klarheit ist auch deshalb so schön, weil sie durch Kritik von außen kaum mehr zu erschüttern ist.(7)
Diese biografischen Rigorismen und Formen des radikalen Lebenswandels, die derzeit eine erstaunliche Konjunktur haben, sollen hiermit keineswegs lächerlich gemacht werden. Man sollte sie sehr ernst nehmen und fragen, welche Probleme durch diese Vereinfachung des eigenen Lebens bearbeitet werden und was diese über die Herausforderungen der Gegenwart verraten. Eine Ethik des Verzichts ist schließlich ebenso unterstützenswert, wie die unterschiedlichen Versuche, Reizüberflutung zu begegnen, nachvollziehbar sind; auch weil sich darin auf interessante Weise diffuse ethische, ökologische, politische und ästhetische Absichten treffen. Vor allem aber scheinen viele der aufgelisteten Phänomene etwas zu kompensieren, was durch den Rückgang klassischer institutioneller Elemente in der Gegenwart verschwunden ist.
Entlastung ist nicht länger etwas, was von außen kommt, Entlastung ist etwas, was selbst aktiv hergestellt werden muss. Sei es durch Selbstbeschränkungen, durch Techniken der Lebensführung oder durch ein selbst auferlegtes Korsett an individuellen Verhaltensregeln: Ich weiß zwar nicht, in welcher Firma ich nächstes Jahr arbeiten und in welcher Stadt ich wohnen werde, aber ich weiß mit Sicherheit, keinen Alkohol mehr zu trinken, keine Pornographie mehr zu konsumieren oder täglich 10.000 Schritte gehen zu müssen.
Privatorthodoxien in der Multioptionsgesellschaft
Der Schweizer Soziologe Peter Gross hat die moderne Gesellschaft Mitte der 1990er-Jahre zutreffend als „Multioptionsgesellschaft“ charakterisiert, in der die Einzelnen gezwungen sind, sich permanent zwischen nahezu unendlichen Optionen entscheiden zu müssen.(8) Und das betrifft keineswegs nur Fragen des Konsums, sondern auch Lebensmodelle, Sexualpartner, Geldanlagen, moralische Positionen und politische Meinungen.
Daran hat sich seitdem nichts geändert, Plattformen wie Tinder, Ebay, Trade Republic und Instagram haben die Vergleichbarkeit von allem und jedem sogar noch um ein Vielfaches erhöht. Allerdings stechen derzeit vor allem die unterschiedlichen Strategien, Multioptionalität auszuschalten und zu umgehen, ins Auge. Die Fähigkeit, das eigene Leben zu simplifizieren, ist längst zu einer notwendigen Überlebenstechnik geworden – und der Markt an konkurrierenden Strategien in diesem Zusammenhang ist kaum zu überblicken. Sie reichen vom Fasten über das Aufräumen, das Wegwerfen, das Atmen, das Abschalten und das Ausschalten. Ähnlich sind sie sich allesamt darin, dass sie versprechen, den Möglichkeitsspielraum der Außenwelt einzuschränken und damit Komplexität zu reduzieren. Darin liegt unzweifelhaft die Leistung und auch der Reiz dieser unterschiedlichen Praktiken. Gefährlich sind sie jedoch insofern, als diese Strategien zumeist höchst individuell bleiben. Es handelt sich um Privatorthodoxien, die zwar individuell höchst wirksam sind und den Einzelnen Halt geben, sich aber ihrer Verallgemeinerung widersetzen und auch gar nicht in kollektive oder politische Programme übersetzt werden sollen. Sie machen zwar das eigene Leben einfacher, das kollektiv-politische Leben dadurch aber zunehmend komplizierter.
Dieser Text begann mit einem Hinweis auf Jürgen Habermas’ Buch „Die Neue Unübersichtlichkeit“ aus dem Jahr 1985. In diesem Buch findet sich auch eine Auseinandersetzung mit postmoderner Architektur, die dem Autor so zuwider ist wie die postmoderne Philosophie, gegen die er zeitlebens ankämpfte. In ihrem eitlen Spiel mit Formen, historischen Zitaten und ihrem Einsatz von Ironie wollte Habermas ein letztlich reaktionäres Programm und einen ästhetischen wie ideologischen Rückfall hinter die rationalen Potentiale der Moderne erkennen. Ob er dem Kritisierten dabei gerecht wurde, steht auf einem anderen Blatt. Sicher ist jedoch, dass wir uns heute nicht mehr in dieser von Habermas kritisierten Postmoderne befinden – weder in der Architektur noch im Denken und auch nicht im Alltag. Die oben aufgelisteten Phänomene scheinen eher auf eine post-postmoderne Situation zu verweisen, in der es gerade nicht mehr um ein Spiel mit Formen und eben auch nicht länger um Ironie geht, sondern um ein entschlossenes und bisweilen ziemlich humorloses Bemühen, im eigenen Alltag Einfachheit herzustellen und so in bestimmten Bereichen des eigenen Lebens die Komplexität der Welt zu verringern. Das zumindest scheint den Reiz dieser neuen Institutionen im Privaten und der damit einhergehenden biografischen Rigorosität in der Gegenwart erklären zu können.
Prof. Dr. Julian Müller ist Soziologe. Nach Stationen an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Philipps-Universität Marburg und der Universität Duisburg-Essen arbeitet er derzeit als Gastprofessor an der Leuphana Universität Lüneburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Themen der Soziologischen Theorie, der Politischen Soziologie und der Kultursoziologie, hier insbesondere das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft. In diesem Zusammenhang wurde er zweimal, 2022 und 2023, für Gastprofessuren an die Fakultät für Architektur der TU Graz eingeladen.
Fußnoten
1 Habermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985.
2 Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt a. M. 1979, S. 50, 28 und 42.
3 Etwa Habermas, Jürgen: „Nachgeahmte Substanzialität“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 24 (1970), S. 313 – 327.
4 Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen. Reinbek 1961, S. 71.
5 Siehe hierzu Diederichsen, Diedrich: „Ich bin ein Mensch, der …“, in: Müller, Julian / Groddeck, Victoria von (Hrsg.): (Un)Bestimmtheit. Praktische Problemkonstellationen. Paderborn 2013, S. 221 – 230.
6 Groebner, Valentin: Reine Leere als Ware: der schöne Schein des Minimalismus, in: geschichte der gegenwart 2023, online unter: https://geschichtedergegenwart.ch/reine-leere-als-ware-der-schoene-schein-des-minimalismus/.
7 Müller, Julian: Der politische Konvertit als Fürsprecher seiner selbst, in: Mittelweg 36, Nr. 1 (2023), S. 17 – 27.
8 Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1994.