Das rechte Maß
Gegen Ende kam noch einmal richtig Bewegung in den vollbesetzten Taut-Saal des DAZ: Der Architekt, Social-Media-Aktivist und Lebenskünstler Van Bo Le-Mentzel führte die von einer Community gebauten Tiny Houses von sechs Quadratmetern in einer Art pantomimischen Einmann-Rollenspiel vor, bei dem er die Rolle seiner Kritiker gleich mitübernahm: Neoliberale Ausbeutung und hemmungsloses Selbstmarketing warf er sich selbst vor. Die Frage, ob die auf einem Trailer montierten und zum Wohnen nicht zugelassenen Minihäuser nicht nur eine Art temporäre Installation seien, parierte er unangreifbar mit: „Was wir hier anrichten auf der Welt, ist das nicht auch eine temporäre Installation?”

22. Berliner Gespräch des Bundes Deutscher Architekten BDA
am Samstag, den 2. Dezember 2017, im Deutschen Architektur Zentrum DAZ in Berlin
Eingeleitet hatte BDA-Präsident Heiner Farwick das 22. Berliner Gespräch „Das rechte Maß. Bedarf, Bedürfnis und die Architektur der Gegenwart” mit launigen Betrachtungen über das rechte Maß beim Wohnen, beim Wein-Einkauf und beim Gang durch Supermarktreihen, wo Convenience Food und Süßigkeiten dominierten und Grundnahrungsmittel fast schon gesucht werden müssten. „Die Spanne zwischen dem Notwendigen und dem Wünschenswerten, zwischen Überleben und Leben, prägt auch den Unterschied des ‚Bauens‘ zur ‚Architektur’”.
Auch Andreas Denk, der sich mit Marta Doehler-Behzadi die Moderation teilte, definierte die Architektur einleitend als „vermittelnde Funktion zwischen Leib und Umwelt”. Der Dortmunder Philosoph und Soziologe Christian Neuhäuser breitete dann die „ethischen Grundlagen des zeitgenössischen Konsums” aus und schwang dabei „die Moralkeule möglichst sanft”. Denn „Statuskonsum ist Teil der persönlichen Würde”; Konsum sei nicht vorwerfbar, da er Teil des Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung sei.
Der Dresdener Historiker Josef Matzerath unternahm dann einen spannenden Parforceritt durch die europäische Ernährungsgeschichte. Auch wenn er die ungerechten Mechanismen des globalen Handels mit Nahrungsmitteln kritisiert, glaubt er nicht an Moralappelle, möchte sich lieber auf die Ästhetik des Genusses konzentrieren. „Wo Gesundheit anfängt, hört Genuss auf”, zitiert er Wolfram Siebeck, der als linksliberaler, frankophiler Gourmet das „deutsche Küchenwunder der 1970er Jahre” mit ins Rollen gebracht hatte.
Die Kunsthistorikerin Bettina Köhler (Basel/Zürich) nahm sich dann die Modeindustrie mit ihren atemberaubend schnellen Kollektionswechseln vor, was zu der Erkenntnis führte: „Geld ist immer knapp, unabhängig davon, wie viel man besitzt.” Köhler führte verblüffende Analogien zwischen Avantgarde-Labels und traditionellen Trachtenkleidern vor und beschrieb das Dilemma der Bekleidungsbranche, von der „Mode für die arbeitende, reisende, tanzende Mutter mehrerer Kinder” erwartet werde.
Zum Schluss hielt der Berliner Architekt Rainer Hehl ein „Plädoyer für eine Verhandlung des Angemessenen”. Beginnend beim Gründungsmythos der Moderne, dem Bauen für das Existenzminimum, landete er schnell bei der in der Schweiz weit verbreiteten Genossenschaftsbewegung: „40 Prozent des Wohnraums in Zürich ist der Marktlogik entzogen”, aber auch: „Es reicht nicht, ein paar Baugruppen herumexperimentieren zu lassen!” Vor seriellem Bauen als Allheilmittel warnte er gleichwohl: „Die Standardisierung des Minimums hat den Armen nicht geholfen!”, um dann den Tag mit Peter F. Drucker zu beschließen: „Der beste Weg, die Zukunft vorherzusehen, ist sie zu gestalten!”
Benedikt Hotze
Dem Thema des Berliner Gesprächs widmet sich auch der architekt 1/18 „das rechte maß. bedarf, bedürfniss und die architektur der gegenwart“ mit Beiträgen von Bettina Köhler, Rainer Hehl, Josef Matzerath und einem Interview mit Van Bo Le-Mentzel.