editorial

das ende der illusion

Die globalisierte Gesellschaft hat trotz ihrer regional unterschiedlich entwickelten Systeme, trotz der im Detail verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systeme ein gemeinsames Credo: Es ist der Glaube an die Eigengesetzlichkeit von Waren- und Geldströmen, die am besten und am meisten nützen, wenn sie frei fließen. Diese bei genauerem Hinsehen anachronistische „Säftelehre“, die auf der irregulären Vorstellung der Welt als eines sich selbst regulierenden, kreislaufhaften Organismus beruht, hat jenseits des Bekenntnisses zum Materialismus fast zwangsläufig eine psychologisch-mentale Ebene entwickelt. In Ermangelung eines geeigneten traditionell-religiösen Überbaus, der sich glaubhaft mit den materialistischen Rahmenbedingungen der Gegenwart verknüpfen ließe, hat der Glaube an das Recht des Menschen auf größtmögliches individuelles Wohlergehen in weiten Teilen der menschlichen Gesellschaft die bis dahin gängigen Formen der Religiosität ersetzt. Diese gesellschaftliche Disposition wird durch die Corona-Pandemie grundsätzlich in Frage gestellt.

Das Individuum, das Selbst als Objekt des Glaubens, ist keine Neuentdeckung der Jetztzeit: Ludwig Feuerbach erkannte 1839 in seinen Überlegungen zum „Wesen des Christentums“ die Religion als „die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst.“ Gott sei „der Spiegel des Menschen“, das „offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.“ Der Soziologe Émile Durkheim konstatierte 1912 in seinen „elementaren Formen des religiösen Lebens“ einen kontinuierlichen Bedeutungsverlust der tradierten Religionen, der mit einem Kontrollverlust über das gesellschaftliche Handeln verbunden ist. Da die Gottesverehrung in der Gesellschaft nichts anderes sei als eine Verehrung eines ausgewählten Teils ihrer selbst, setzte Durkheim an die Stelle einer immer mehr sich aus der gesellschaftlichen Realität entfernenden Gottesidee den „Kult des Individuums“ als säkulare Religion, in der der Mensch „zugleich Gläubiger und Gott ist“. Unstrittig blieb bei Durkheim der moralisch integrierende Faktor der „modernen“ Religion: Auch der „Kult des Individuums“ erfüllt die Funktion einer kollektiven moralischen Autorität für den Einzelnen.

Diese Hoffnung des französischen Religionssoziologen hat sich nur sehr bedingt eingelöst. Zwar hat sich die gesellschaftliche Entwicklung – sogar in grundsätzlich anti-individualistisch ausgerichteten Staatsformen – tatsächlich so ergeben, wie Durkheim sie beschrieben hat. Jedoch ist durch die einseitige Betonung des Primats des Einzelnen gegenüber der Gruppe und dem Ganzen eine moralische Idealisierung des Individuums als religiösem Kultobjekt ausgeblieben. Stattdessen sind es die Vorherrschaft des eigenen, wie auch immer begründeten freien Willens, die wirtschaftliche Prosperität und eine äußerliche Idolisierung des Individuums, die die Inhalte des neuen „Glaubens“ definieren. Die Befriedigung der Eigenliebe und die Unverletzlichkeit der Interessen des Einzelnen sind in weiten Teilen der Erde an die Stelle eines Glaubens an die Bedeutung eines kollektiven Wohlergehens getreten.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Die Corona-Epidemie erweist jedoch etwas völlig anderes. In der fortgeschrittenen Individualisierung scheint das Schicksal der Menschen je nach Maßstab von Glück, Befähigung, sozialer Einbettung, der Verfügbarkeit materieller Ressourcen, Intelligenz, Schlauheit, Gewissenlosigkeit oder dem Zufall abzuhängen. Die immer weiter um sich greifende Krankheit lässt erkennen: Wenn eine Bedrohung groß genug ist, bestimmte, für die Versorgung aller Individuen notwendigen Abläufe zu behindern oder gar zu unterbrechen, spielt das Los des Einzelnen nur noch eine untergeordnete Rolle. Wir können jetzt erkennen, dass das Virus eben nicht nur Einzelne schwächt oder sogar umbringt, sondern die Gesellschaft und ihre Funktionsmechanismen als Ganzes.

Nur, wenn alle sich dem gemeinsamen Ziel, der Verlangsamung der Ausbreitung und der schließlichen Abwehr des lebensbedrohenden Virus mit allen persönlichen Konsequenzen anschließen, wird unser systemisch angelegtes Zusammenleben in einer erträglichen Form erhalten bleiben. Angesichts der Katastrophe ist offenbar den meisten inzwischen klar geworden, dass der Verzicht auf persönliche Freiheit, die Reduktion des eigenen Wollens, die Beschränkung auf das Sinnvolle und Notwendige der Schlüssel ist zur Funktionserhaltung des Gemeinwesens. Diese Erkenntnis hätte sich auch schon angesichts des Klimawandels gewinnen lassen, die aber offenbar vom unmittelbaren Erleben einer existenziellen Bedrohung für die meisten immer noch zu weit entfernt ist.

Insofern ist die Erkenntnis neu, dass der Körper des Gemeinwesens, den wir Staat oder Gesellschaft nennen, in der globalisierten Welt genauso verletzlich ist wie unser eigener Leib. Es wird möglicherweise Jahre dauern, bis unser Land, bis die Welt, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Epidemie überwunden hat. Diese Zeit jedoch sollte uns in die Lage versetzen, darüber nachzudenken, wohin wir unsere gesellschaftlichen, und – vor allem – wohin wir unsere individuellen Anstrengungen richten sollten, um uns und unsere Gemeinschaft überlebensfähig zu machen. Das Corona-Virus wird nicht die letzte Herausforderung sein, der wir uns stellen müssen.
Andreas Denk

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