Im Kornversuchsspeicher
BDA-Präsidentin Susanne Wartzeck und Die Architekt-Chefredakteurin Elina Potratz trafen sich zu einem Gespräch über die Rolle des Reisens in der Architektur im ehemaligen Kornversuchsspeicher, gelegen am Rande des Quartiers Europacity in Berlin. Das mehrfach umgebaute und erweiterte Bauwerk von 1897 erhielt 1915 einen Anbau in Stahlskelettbauweise und ist damit eines der frühesten Zeugnisse dieser Konstruktionstechnik in Berlin. Der Kornversuchsspeicher diente der wissenschaftlichen Erforschung verschiedener Getreidelagerungsmethoden – von dieser Nutzung zeugen heute noch die prägnanten Betonschütten an den Decken. 2018 bis 2023 wurde das Gebäude von AFF Architekten umgebaut und aufgestockt und soll Büros sowie ein Café beherbergen.
Zur Architekturbiennale in Venedig 2023 sind Sie in einer kleinen Gruppe mit dem Fahrrad angereist. Was war der Grund dafür?
Ein Stück weit, um ein Zeichen zu setzen und danach zu fragen: Wie viel CO2 verbrauchen wir eigentlich alle, um an diesen Ort zu kommen und mit welcher Selbstverständlichkeit? Das sollte zumindest einmal hinterfragt werden. Man muss dabei aber natürlich auch ehrlich sein, denn wenn man die sieben Reisetage mit sechs Übernachtungen in die Rechnung mit aufnimmt, dann ist die CO2-Bilanz nicht mehr ganz so toll. Zum anderen ging es aber auch um das Erlebnis. Ich wollte schon immer mal mit dem Rad über die Alpen fahren. Denn das ist ja was ganz anderes: Man spürt, wie sich die Landschaft langsam verändert, wie sich die Sprache langsam ändert. Und ich war erstaunt, wie gut man mit dem Fahrrad über die Alpen fahren kann, denn alle Pässe sind darauf angelegt, diese wahnsinnig hohen Berge zu überwinden, insofern war es gar nicht so anstrengend, wie ich gedacht hatte.
Was hatte denn Ihre Entscheidung, mit dem Fahrrad zu fahren, für Begleiterscheinungen oder Konsequenzen?
Zunächst einmal, dass wir in einer Gruppe gefahren sind, denn ich wollte nicht alleine fahren. Und das hat erstaunlich gut funktioniert, obwohl wir sehr unterschiedlich waren, auch von den Trainingsständen. Zudem hatten manche E-Bikes, manche nicht. Es haben sich immer wieder neue Konstellationen gefunden, wer mit wem radelt, so dass man immer andere Gesprächspartner hatte und damit natürlich auch andere Sichtweisen auf das, was man gerade tut oder sieht. Das macht mir auch Mut, es noch einmal zu machen.
Aber Sie mussten sich auch eine Menge Zeit nehmen…
Ja, mit dem Fahrrad braucht man eine Woche. Früher ist man in anderthalb Stunden geflogen oder eben über Nacht mit dem Zug angereist…
Achten Sie beim Reisen grundsätzlich auf die Mobilitätsform?
Ich frage mich schon: Was will ich mir eigentlich in meinem Leben noch erlauben? Wo will ich unbedingt hin? Hier würde ich es auch in Kauf nehmen, dass ich einen Abdruck hinterlasse. Aber ich mache das nicht mehr völlig unbedacht. Davon abgesehen, fahre ich meist mit der Bahn an einen Ort und fahre dann von dort aus mit dem Fahrrad weiter. Reisen ist für mich immer großartig, das muss für mich nicht nach Übersee sein, sondern kann auch ins Vogtland gehen, das ist nur 150 Kilometer von uns entfernt, aber man ist schon komplett woanders. Und es kommt eigentlich immer auf den Weg an.
Gab es Reisen oder Orte, die Sie besonders beeinflusst haben, in dem, wie Sie Architektur wahrnehmen oder auch machen?
Natürlich im Studium während der Exkursionen, wo man auch gelernt hat, wie man sich Orte anschaut, wie man so etwas vorbereitet und organisiert. Das sind für mich Erinnerungen und Erlebnisse, die tief und gravierend sind. Aber grundsätzlich würde ich immer sagen: Reisen braucht man, um die Seele wieder aufzutanken und Inspiration zu bekommen. Dabei ist es zwar nicht egal, was man sich anschaut, aber man kann das an vielen Orten tun – auch in der Natur. Und nur, weil man weniger fliegt, heißt das nicht, dass man weniger Genuss oder Inspiration hätte.
Gerade für Architektinnen und Architekten ist das vielleicht eine besondere Abwägungsfrage, denn einerseits gibt es den ökologischen Fußabdruck, den das viele Reisen hinterlässt, andererseits ist es extrem wichtig, eine breite Vorstellung davon zu haben, wie Architektur und Stadt sein kann.
Dieser Diskurs besteht ja schon lange, Daniel Kehlmann hat das in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ sehr schön beschrieben: einerseits Gauß, der eigentlich nie aus seiner Kemenate herausgekommen ist und andererseits Humboldt, der die Welt bereist hat. Ich glaube, beides ist richtig. Allerdings ist es natürlich etwas anderes, sich die gebaute Umwelt in Plänen und Fotos anzuschauen oder sie vor Ort zu erleben. Nach dem Kunstbegriff von Franz Erhard Walther ist es ja erst der Rezipient, der das Kunstwerk ausmacht, und so macht auch der Mensch eigentlich erst die Architektur aus. Deswegen glaube ich schon, dass man sich die Sachen anschauen, selber in Beziehung dazu treten muss.
Ich möchte noch einmal auf die Architektur-Biennale in Venedig zurückkommen, denn es handelt sich ja hierbei um einen Ort, der besonders von Übertourismus betroffen ist, auch wenn es dort keine Kreuzfahrtschiffe mehr gibt. Wie empfinden Sie diesen Ort im Kontext der Architekturbiennale, die ja eigentlich inhaltlich versucht, sich differenziert und kritisch mit den Dingen auseinanderzusetzen?
Bei den letzten beiden Biennalen gab es immerhin einige Beiträge, bei denen man versucht hat, inhaltliche Anknüpfungspunkte an den Ort zu finden. Es ist bedauerlich, dass das nicht schon vorher begonnen hat, und selbst wenn zwei oder drei Projekte aus der gesamten Biennale am Ort anknüpfen, ist das ja so gut wie nichts. Vielleicht ist es auch ein Wunschtraum, den man gar nicht erreichen kann. Aber natürlich merkt man auch, wie stark die Stadt auf die Touristen angewiesen ist, das hat die Covid-Pandemie deutlich gezeigt. Ich bin da zwiegespalten, denn die Stadt ist bezaubernd und macht mich immer wieder sprachlos. Doch im Vergleich etwa zu einem Dorf in der Bretagne – das natürlich nicht ganz so schön ist – fehlen dort zunehmend die Menschen, und ihre speziellenTätigkeiten, womit Menschen an anderen Orten die Gegend und die Kultur prägen.
Sollten wir weiter zur Architekturbiennale fahren?
Zwei Herzen wohnen in meiner Brust, denn es ist einfach die weltgrößte Ausstellung zur Architektur. Ich glaube auch nicht, dass man das durch irgendetwas ersetzen könnte. Vielleicht aber kann man über den Turnus nachdenken. Vielleicht wäre es auch für die Stadt gut, wenn es immer mal wieder längere Pausen gäbe, wo keine großen Veranstaltungen stattfinden. Das sehen die Verantwortlichen wahrscheinlich anders, auch wenn beispielsweise die Documenta nur alle fünf Jahre stattfindet, und es auch funktioniert. Das könnte schon ein Weg sein, um die Stadt Venedig ein bisschen zu entspannen.
Haben Sie noch ein Schlusswort?
Ich wünsche allen einen schönen und inspirativen Sommerurlaub!