Das Fenster zur Stadt
Gesucht wird wieder ein Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Lösungsvorschläge können per E-Mail (redaktion[at]die-architekt.net) eingereicht werden. Zu gewinnen gibt es das Buch „To the Ends of the Earth“. Einsendeschluss ist der 15. Juli 2024.
„Ich musste Halteschienen für einen Vorhang an der riesigen Glasfassade im Foyer einplanen, um schnell nachrüsten zu können, sollten sich die Besucher tatsächlich zu exponiert vorkommen“, erläutert der Architekt des Tatorts. Ähnliches war zuvor Mies van der Rohe passiert: „Die Damen und Herren wollten in Abendkleidung nicht ‚auf der Straße stehen‘“. Mies’ Entwurf wurde abgelehnt, der Tatort hingegen gebaut. Dessen Architekt konnte hier die Idee der Baukunst als „Mutter der Künste“ ins Werk setzen: „Ich bezog bildende Künstler als ‚Sonderfachleute für Ästhetik‘ ein, gleichberechtigt mit den Experten für technische Gewerke wie Statik, Heizung oder Lüftung. In unserer ‚Bauhütte‘ realisierten wir die Idealvorstellung, den Bau gemeinsam zu gestalten.“ Derart von Anfang an einbezogen, entstand die Kunst als integrierter Bestandteil der Architektur und nicht als im Nachhinein applizierte „Kunst am Bau“. Führende internationale Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit waren beteiligt, „Monochromie statt Nierentisch“ das Ergebnis.
Der federführende Architekt war Teil eines Viererteams, das kurz nach dem Entwurf des Tatorts auseinanderging. Zuvor hatten die Vier einen anderen Bau realisiert, der vor Ort als Affront gegen die historische Stadt beargwöhnt und überregional als Fanal der Moderne gefeiert wurde. Beim Tatort wurde die Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenraum noch konsequenter thematisiert: Die Öffnung des Foyers wurde zum „Fenster zur Stadt“ und umgekehrt das Foyer zur „Verlängerung des Stadtraums“. „Der Besucher wurde, von der Stadt aus gesehen, zum Akteur“, erklärt der Architekt. Hemmschwellen sollten abgebaut und das Haus Bestandteil des urbanen Lebens werden. Das wurde es – der Tatort gehört bis heute zu den führenden Häusern seiner Art im Lande. Sein Architekt, der mit seiner Bauhütte auf der Baustelle gewohnt und gearbeitet hat (dafür gab es sogar einen Vertrag!), hat sich jahrzehntelang als Grenzgänger für das Genre eingesetzt, das der Tatort beherbergt.
Um welches Gebäude geht es, wie heißt es heute, und wer waren die vier Architekten, von denen einer als primus inter pares im Besonderen mit diesem Bau identifiziert wird? Benedikt Hotze
Bei dem Tatort in Heft 2 / 2024 handelt es sich um das von 1963 bis 1965 erbaute „Haus der Kultur und Bildung“ (HKB) in Neubrandenburg mit seinem lokal als „Kulturfinger“ bekannten Turm. Der Gebäudekomplex wurde von Iris Dullin-Grund entworfen, die von 1970 bis 1990 als Stadtarchitektin in Neubrandenburg wirkte und als eine Inspiration für Brigitte Reimanns Roman „Franziska Linkerhand“ gilt. Gewinner des Buchpreises ist Max Bienefeld.