Einfühlsam und bescheiden
bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Chemnitz 2017–2020
In seinem Text „Sechs Themen für das nächste Jahrtausend“ weist der finnische Architekt und Hochschullehrer Juhani Pallasmaa 1994 auf eine Vorlesungsreihe hin, die Italo Calvino an der Harvard-University hätte halten wollen, zu der er aufgrund seines frühen Todes aber nicht mehr kam. Im Sinne einer „Verteidigung der Architekturqualität“ interpretiert Pallasmaa die sechs Themen Calvinos neu und benennt „Langsamkeit“, „Plastizität“, „Sinnlichkeit“, „Authentizität“, „Idealisierung“ und „Stille“ als jene Motive, die der Architektur bei der Beantwortung entscheidender Fragen behilflich sein könnten: „Kann sich die Architektur selbst ein glaubwürdiges gesellschaftliches und kulturelles Ziel setzen? Kann Architektur soweit in der Kultur verwurzelt sein, dass sie das Erlebnis von Ort und Identität erzeugt? Kann Architektur eine Tradition wieder erschaffen, eine gemeinsame Grundlage, auf der sich Kriterien für Authentizität und Qualität aufbauen lassen?“

bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Chemnitz 2017 – 2020, Foto: Steffen Spitzner, bodensteiner fest
Nun, da immer mehr und immer wieder darüber diskutiert wird, wie eine klima- und sozialgerechte Architektur im Anthropozän aussehen könnte, scheinen die von Juhani Pallasmaa in den Diskurs gebrachten Themen überraschend aktuell – fast 30 Jahre nachdem er sie erstmals im Royal Institute of British Architects in London vortrug. Architektur, die vom Ort und seinem Bestand ausgeht, Bauten, die schon da sind und eher aktiviert denn wirklich gebaut werden müssen, Räume und Formen, deren Qualitäten mal aus dem Bestehenden herausgeschält, mal neu konnotiert und damit als werthaltig anerkannt werden müssen. Die Stärke von Pallasmaas Argumentation liegt nicht nur darin, den Menschen als „sinnliches Wesen in der Welt zu verorten“, wie Fritz Neumeyer einst schrieb, sondern auch in ihrer Adaptionsfähigkeit. Ernst genommen, lässt sie sich im Kontext jener multikomplexen Gemengelage aktueller Herausforderungen für die Architektur in Stadt und Land urbar machen und mit Bedeutung füllen, die nicht dogmatisch und formal-ästhetisch bloß reagiert, sondern auf der Höhe der Zeit und individuell angemessen agiert.
Wie eine spezifische Antwort auf die Frage nach dem „In-Wert-setzen“ bestehender Architektur aussehen kann, zeigen bodensteiner fest Architekten mit der Casa Rossa in Chemnitz-Sonnenberg. Annette Fest und Christian Bodensteiner agieren hier gemeinsam mit einem Bekannten auch als Bauherrschaft und deuten damit auch aus, wie weit sich Regularien auf der einen und Vorstellungen von Ästhetik auf der anderen Seite neu definieren lassen.

bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Chemnitz 2017 – 2020, Foto: Steffen Spitzner, bodensteiner fest
Sonnenberg erstreckt sich vom Chemnitzer Hauptbahnhof gen Osten und ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Zum einen ob seiner weitgehend homogenen, gründerzeitlichen Stadtstruktur inklusive Blockrandbebauung mit pointiert gesetzten Stadtplätzen, zum anderen wegen der hier ansässigen gesellschaftlichen Milieus – und schließlich mit Blick auf die Versuche, die hier vorgefundene Stadtstruktur in den Tafelbau der DDR zu übersetzen, die im Süden des Quartiers städtebaulich wie architektonisch interessante, dreigeschossige Blüten trieb.
In einer in direkter Achse auf den Hauptbahnhof zulaufenden Straße stand seit geraumer Zeit eines der gründerzeitlichen Stadthäuser leer, dem Verfall preisgegeben. Das Dach undicht, die Geschossdecken teilweise eingestürzt, der Putz der Fassade mitsamt stuckiertem Zierrat in weiten Teilen abgefallen – so zeigte sich der Bau unmittelbar vor jener Zwangsversteigerung, die die Eigentumsverhältnisse von einer in der Schweiz lebenden Eigentümerin zugunsten von Fest, Bodensteiner und ihrem Mitstreiter wechseln ließ. „As found“, wie vorgefunden im Rahmen einer Ästhetik des Überflusses, haben die Architekten das Haus fortan behandelt und jene Qualitäten, die sie in ihm gesehen haben, erhalten und potenziert.

bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Chemnitz 2017 – 2020, Foto: Steffen Spitzner, bodensteiner fest
Von seiner verputzten Bekleidung befreit, zeigt sich der Aufbau des Gebäudes nun ganz unmittelbar. Die vermeintlich sechsachsige Symmetrie stellt sich bei der jetzt möglichen Betrachtung tatsächlich als merkwürdig unregelmäßig dar, die westlichste Lisene ist deutlich schmaler ausgeführt als die übrigen. Auch die schmückenden Vertiefungen des Mauerwerks finden sich nicht auf allen Achsen, das Gurtgesims über dem ersten Obergeschoss endet nach zwei Dritteln der Fassade. Betonstürze über den Fenstern der Obergeschosse zeigen mal zwei, mal nur eine Unterteilung, die einst vorhandene große Öffnung eines Ladenlokals, rechts neben dem Haupteingang, wurde mittels Stahlträger und Mauersteinen, die ihres Formats wegen deutlich der DDR-Zeit zuzuordnen sind, verschlossen und mit zwei kleinen Fenstern versehen. So wird die vermeintlich regelhafte Fassade der Gründerzeit zu einem freudvollen Suchspiel der Unterschiede und Eigenheiten, das zudem die Zeitschichten des Hauses im Stadtraum abbildet.

bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Grundriss EG, Chemnitz 2017 – 2020, Abb.: bodensteiner fest
Die helle Lasur der Fassade sorgt auch für den notwendigen Feuchtigkeitsschutz, die maroden Decken wurden durch Ziegel-Einhangdecken ersetzt, die auf den Treppenpodesten angeordneten Toiletten im Zuge der innenräumlichen Neuordnung des Hauses den jeweiligen Geschossen zugeschlagen. Für die Schließung der ehemaligen Türen auf den Treppenpodesten verwenden Bodensteiner Fest Architekten jene Ziegel, die beim Abbruch einer baufälligen und nicht zu erhaltenden Remise geborgen werden konnten. So wird die Erscheinung der Fassade auch im Innern des Treppenhauses, und teilweise sogar in den Wohnungen, fortgeschrieben. Sechs Appartements zwischen 46 und 168 Quadratmetern sind hier entstanden. Das größte davon findet sich als Maisonette unter dem in Hofrichtung aufgeklappten Dach. Wie das mit Photovoltaik bestückte Dach wurde auch die Hoffassade gedämmt, sodass das Gebäude mit seinen neuen Fenstern alle Standards der Klasse „KfW Effizienzhaus 100“ erreicht.

bodensteiner fest Architekten BDA Stadtplaner, Casa Rossa, Chemnitz 2017 – 2020, Foto: Steffen Spitzner, bodensteiner fest
Auch im Innersten des Hauses legen Annette Fest, Christian Bodensteiner und ihr Team die Qualitäten des Vorgefundenen schonungslos offen: Alte Holz- und Stahlstürze wurden gesichert, teilweise ausgetauscht und ergänzt, der Bestand in jenem Zustand fortgeschrieben, wie er vorgefunden wurde. Dabei gehen die Architektin und der Architekt nicht didaktisch im Sinne einer bauforschenden Bestandsaufnahme vor, die lehrmeisterlich all jene Elemente musealisiert, die zum Zeitpunkt des Eingriffs erfasst wurden, sondern agieren frei, interpretieren und arbeiten so sehr feinfühlig nur bestimmte Qualitäten heraus, die das Haus schon mitbringt, und die durch die Eingriffe des Teams erst in Gänze zum Strahlen kommen. Mit der Casa Rossa ist ein Beispiel jener „Architektur der Einfühlsamkeit und Bescheidenheit“ gelungen, zu der Juhani Pallasmaa, von 1994 auf unsere Zeit blickend, aufgerufen hatte.
David Kasparek