Kritischer Raum

Textiles Geflecht von Möglichkeitsräumen

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023

Die Bundeszentrale für politische Bildung – Anfang August im Rahmen der Haushaltsvorstellung der Bundesregierung und damit einhergehender etwaiger Mittelkürzungen in die Schlagzeilen geraten – fasst es kurz und bündig zusammen: „Das, was vielen Menschen einer Gemeinschaft oder eines Staates zugutekommt und nützt, wird als ‚Gemeinwohl‘ bezeichnet. Das Gegenteil davon sind die Interessen oder Wünsche Einzelner oder einer Gruppe dieser Gemeinschaft.“

In diesen beiden Sätzen wird deutlich, wo das Hauptproblem unserer gebauten Umwelt in Stadt und Land seit geraumer Zeit liegt. Zu viel vom dem, was um uns herum gebaut wird, dient bloß mehr den Interessen oder Wünschen Einzelner oder einer Gruppe unserer Gemeinschaft. Gezielt werden durch eigens dafür entworfene Stadtmöblierungen Menschen ausgeschlossen, Wege und Räume der Stadt sind weder barriere- noch angstfrei gestaltet, gegen Flohmärkte oder Clubs, die einst die Atmosphäre einzelner Quartiere ausmachten, wird ebenso vorgegangen wie gegen Jugendliche, die die Dreistigkeit besitzen, sich jene Räume der Stadt anzueignen, an denen andere Gruppen mit besseren Beziehungen oder anderem Wissen Partikularinteressen haben. Selbst Projekte, die dem hehren Anliegen folgen, für alle gedacht zu sein, stellen sich allzu häufig als von und für die Mehrheitsgesellschaft gemacht heraus. Wie wir zusammenleben, hat viel mit Aushandlung zu tun – ein steter und mitunter anstrengender, weil langwieriger Prozess.

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Foto: Jann Höfer

In Wuppertal hat die Montag Stiftung Urbane Räume mit der eigens gegründeten gemeinnützigen Projektgesellschaft Urbane Nachbarschaft BOB in Kooperation mit der Stadt 2017 einen solchen Aushandlungsprozess angestoßen. Für die Planung wurden das Kölner Architekturbüro raumwerk.architekten und das Berliner Landschaftsarchitekturbüro atelier le balto beauftragt. Auf dem Gelände der ehemaligen August Bünger Textil­werke in Oberbarmen ist hier der BOB-Campus entstanden. Benannt nach eben jener Fabrik, die bereits die Initialen des Familiennamens Bünger mit denen des Stadtteils zusammenzog. Gardinen, Schuhsenkel, Schmalbandtextilien und entsprechendes Zubehör wurden hier gefertigt. 2012 meldete die Firma Insolvenz an.
Auf Einladung der Urenkeltochter des Firmengründers und in Gesprächen zwischen ihr, ihrem Vater und der Montag Stiftung entstand die Idee, die brachliegende Fabrik nach dem Initialkapital-Prinzip in einen Ort für die Gemeinschaft umzuwandeln. Die Eigentümerin stelle dafür große Teile des Areals für 99 Jahre im Erbbaurecht zur Verfügung und verzichtet – solange die Gemeinnützigkeit des Projekts gewährleistet ist – auf die Erhebung eines Erbbauzinses. So konnte sich die Bauherrschaft ganz auf die Qualifizierung des Areals konzentrieren und musste keine Gelder für den Erwerb aufwenden. Analytisch wurden Ort und Akteurskonstellationen untersucht, Konzept und Finanzierung inbegriffen, und im Sinne des Gemeinwohls gestaltet.

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Foto: Jann Höfer

Schon das dechiffrieren eines gemeinsamen Konzepts aber ist schwierig, erst recht in einem Stadtteil wie Oberbarmen mit 45.000 Einwohnenden aus über 100 Herkunftsländern. Das Ergebnis ist nun, dass die bestehenden Sheddachhallen aus dem 19. Jahrhundert zu Büroräumen unterschiedlicher Größe umgenutzt wurden, in die Fabrikhalle aus den 1970er-Jahren zogen eine Kita und eine Agentur aus der Kreativbranche, weitere Räume werden von der benachbarten Realschule genutzt, die dringend Werk- und Kunsträume brauchte, dazu gesellt sich die Stadtteilbücherei. Das sozial-energetische wie räumliche Zentrum bildet eine Nachbarschaftsetage, die inklusive mobiler Küchenmöbel und -gerätschaften von Vereinen, Initiativen und Privatpersonen aus dem umliegenden Quartier gleichermaßen genutzt werden kann wie auch von Mietenden.

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Shedhalle, Foto: Jann Höfer

Schon die alte Fabrik diente dabei als eine Art frühmoderner Coworking-Space, in dem Flächen und Webstühle angemietet werden konnten, die notwendige Energie kam von einer gemeinschaftlichen Dampfmaschine. Die Remise, die diese Maschine beherbergte, wurde erhalten, ebenso ihr gemauerter Schornstein. Potenziell könnte hier künftig in einem Gemeinschaftsraum soziale Energie entstehen, befeuert von einer Feuerstelle, die an den wieder ertüchtigten Kamin angeschlossen werden könnte.

Überhaupt ist eines der großen Verdienste von Ragnhild Klußmann und ihrem Team von raumwerk.architekten, die geschichtliche, soziale und bauliche Dichte des Areals im Schulterschluss mit Montag Stiftung und Stadt erhalten zu haben. Den funktionalen Überlagerungen und stadträumlichen Schnittstellen scheint das architektonische Konglomerat trefflich zu entsprechen. Dankenswerterweise verzichtet das Büro darauf, diese Vielschichtigkeit architektonisch amalgamieren und damit nivellieren zu wollen. Stattdessen stehen Gründerzeit und Betonfunktionalismus nun auf Augenhöhe neben den zeitgenössischen architektonischen Eingriffen, deren Komplexität sich nicht immer direkt zeigt.

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Foto: Simon Veith

So erhielt die große Halle aus den Siebzigern eine neue Hülle aus Polycarbonat-Doppelstegplatten und einen Erschließungsturm, der weite Teile des steil ansteigenden Areals mit einem sogenannten „Euroschlüssel“ barrierefrei zugänglich macht. Menschen mit körperlichen Einschränkungen können mit einem solchen Einheitsschlüssel deutschlandweit selbstständig und kostenlos Zugang zu den verschiedensten behindertengerechten Einrichtungen erlangen. Durch seine Bekleidung mit einem hellgelben Streckmetall funktioniert der Turm wie eine Landmarke adressbildend für den gesamten Campus. Bemerkenswert ist die pragmatische Detailtiefe, mit der die Architektinnen das Projekt bearbeitet haben, die großen Raumtiefen etwa mit Besprechungsräumen für Lehrkräfte und Mieter aktivierten, oder für die Schülerinnen ein Regal entwickelten, das als Teil einer Clusterschule ohne Flurflächen im Inneren Räume definiert und sich als Aushängeschild der Arbeiten der Schülerinnenschaft durch die Fassade hinaus im Außenraum zeigt. Gerade bei den neuen Bauteilen dieses Ensembles wird spannend zu beobachten sein, wie sie altern, und ob sie dabei vergleichbar selbstverständliche Spuren der Zeit ansetzen wie die bestehenden Elemente.

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Foto: Simon Veith

Die ehemaligen Betriebswohnungen in den beiden gründerzeitlichen Wohnhäusern im Süden des Areals wurden zu zeitgemäßem Wohnen umgebaut. Durch den Erhalt dieser zwei Häuser entspricht das Ensemble immer noch der gewachsenen Dichte des Quartiers. Auch ihre Patina haben Klußmann und ihr Team erhalten. So stehen die Häuser wie selbstverständlich in diesem heterogenen und urban-dichten Raumgefüge, das an seinen Rändern durch eine Art Hortus conclusus im Westen und einen neuen, von atelier le balto mit den Anwohnenden gestalteten Nachbarschaftspark gerahmt wird. Durchzogen wird all das von verschiedenen neuen, der Öffentlichkeit zugänglichen Wegen, die das Quartier mit dem Campus und der angrenzenden und heute nur noch von Fahrradfahrenden und Fußgängern genutzte Nordbahntrasse verweben: ein textiles Geflecht von Möglichkeitsräumen, dem Gemeinwohl verpflichtet.
David Kasparek

raumwerk.architekten, BOB-Campus, Wuppertal 2018 – 2023, Shedhalle, Foto: Jann Höfer

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