spaziergänge mit heiner farwick

An Frostigem Ufer

Heiner Farwick, Präsident des BDA, und Andreas Denk, Chefredakteur dieser Zeitschrift, nutzen eine Pause bei der Tagung des Arbeitskreises Stadt des BDA und der Evangelischen Akademie in Tutzing zu einem winterlichen Spaziergang am Starnberger See zu einem Gespräch über das Leitthema der Zusammenkunft: Es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die „Lebensform Stadt“, die hier Mitte Januar zur Diskussion steht (siehe der architekt 1/19, S. 72-75). Bei eisigen Temperaturen, stillem See und mit Blick auf die fernen Alpen werden Gedanken zu Worten, die nur gelegentlich vom Geschnatter der Entenschwärme untermalt werden, die den See bevölkern.

Andreas Denk: Die hochaktuelle Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird hier in Tutzing so interdisziplinär wie nur möglich diskutiert. Wir erhoffen Erkenntnisse, warum wir einen Verlust des Zusammenhalts konstatieren. Wir erhoffen aber auch Hinweise, welche Möglichkeiten den Zusammenhalt der Gesellschaft neu gewinnen und stärken können. Als Ursachen für einen Verlust der Bindungskräfte in der bundesrepublikanischen Gesellschaft können wir soziale, politische und mentale Ursachen ausmachen, die untereinander in einer Wechselwirkung stehen. Die Stadt und ihre Häuser sind als größte gemeinsame Wohnorganisation von Menschen unmittelbar davon beeinflusst. Können Sie Ansätze erkennen, welche Hilfs- und Heilkräfte wir gegen die allmähliche Korrosion des Gemeinwesens einsetzen können?

Heiner Farwick: Architekten und Stadtplaner sind nicht die einzigen, für die unsere Gesellschaft Anzeichen einer Krise offenbart. Sie funktioniert offenbar nicht mehr genauso, wie wir glauben, dass es im Idealfall sein sollte. Die vermutete Krise wird in der Stadt am deutlichsten: Sie ist der Ort, an dem Menschen in der größten Dichte aufeinandertreffen. In der Stadt finden sich die meisten unterschiedlichen Milieus und die größten sozioökonomischen Unterschiede. Hier zeigen sich die Auswirkungen der Migration deutlicher als in ländlichen Regionen. Aus diesen allgemeinen Feststellungen leitet sich die Frage danach ab, wie wir uns als Stadtplaner und Architekten dazu positionieren können und müssen. Kurz: Wie können wir unsere Städte so gestalten, dass ihre Gestalt und Struktur den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern?

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: Zur Diskussion stand unter anderem auch die Frage, ob und wie sich die gesellschaftliche Verfassung in der Architektur der Stadt niederschlägt. In welchem Maße sind die Architektur und die Gestalt der Stadt heute noch als Ausdrucksform des Gesellschaftlichen zu verstehen?

Heiner Farwick: Gerade in einer Zeit, in der sich der Austausch gesellschaftlicher Gruppen zunehmend in den digitalen Raum verlagert, wird erkennbar, wie essentiell die leibhaftige Begegnung zwischen Menschen für unser menschliches Dasein ist. Die verschiedenen Beiträge der Tagung haben uns vor Augen geführt, dass das Miteinander ein wesentliches Grundbedürfnis von Menschen ist und das leibliche Zusammentreffen dabei nicht ohne Grund eine wichtige Rolle spielt. Es bringt einerseits kultivierte Umgangsformen mit anderen hervor, andererseits macht es uns überhaupt erst bewusst, wie groß und vielfältig eine Gesellschaft mit ihren völlig unterschiedlichen Individuen ist. Bei der Planung der Stadt ist jedoch zu hinterfragen, welche Form von Räumen überhaupt für das Treffen von so unterschiedlichen Menschen geeignet ist. Denn deren Miteinander findet nicht irgendwo statt, sondern auf Straßen, Plätzen und in Häusern, die dafür geeignet sind. Sind also Platzräume immer noch die richtige Form öffentlicher Begegnungsorte? Welche Form und Größe, welche Maßstäblichkeit müssen sie haben, um ihre Aufgabe erfüllen zu können? Dies werden Soziologen und Philosophen nicht beantworten, sondern das ist unsere Aufgabe. Genauso dringend müssen wir uns damit beschäftigen, ob wir verstärkt an neuen Gebäudetypologien arbeiten müssen, um komplexere Gebrauchsformen zu ermöglichen, die die Menschen an öffentlichen Orten zusammenführen. Eine Möglichkeit wäre es, mehrere öffentliche Funktionen in einem Gebäude zusammenzuführen, wie es beispielsweise in den Niederlanden seit langem praktiziert wird. Dann gibt es in Zukunft Gebäude, in denen beispielsweise die Stadtbibliothek, die Volkshochschule, der Kindergarten, die Postagentur und weitere Nutzungen zusammengeführt werden. So lässt sich eine größere Vielfalt als bisher erzeugen, die die unterschiedlichen Milieus, deren Begegnung sowieso schon durch die Segregation der Stadt gehandicapt ist, zu einem gemeinsamen Treffpunkt einlädt.

Andreas Denk: Dafür müsste ein architektonisches und stadtbauliches Denken Einzug halten, das sich stärker auf die Möglichkeit verschieden dimensionierter und kodierter Räume bezieht. Wenn wir gezielt über die Kodierung von öffentlichen und privaten Räumen nachdächten, könnten wir vielleicht zu komplexen Raumfolgen gelangen, deren Hauptaufgabe die Herstellung von kommunikativen Situationen ist, die nicht nur dem persönlichen Gebrauch, sondern dem Ausgleich individueller und gemeinschaftlicher Interessen dienen. Vom Raum des Individuums über die Räume der Wohnung und des Hauses ließe sich eine Raumkette erzeugen, die schließlich in Straße und Platzraum und in die Räumlichkeit des Quartiers mündet. Das wäre die Option, verschiedene Formen der menschlichen Gesellung durch die unterschiedliche Sozialität von häuslichen und städtischen Räumen zu ermöglichen und zu fördern.

Heiner Farwick: Wir haben dafür den sperrigen Begriff des niederschwelligen Zugangs. Wir müssen städtische Räume so konzipieren, dass keine Schwellenängste aufgebaut werden. Es darf nicht vorkommen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen das Gefühl haben, an bestimmte öffentliche Orte nicht „hinzugehören“. Orte der Stadt müssen jedem Bürger das Gefühl vermitteln, dazugehörig zu sein. Das ist zwar nur ein Baustein für den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft, aber kein unwichtiger.

Andreas Denk: Dazu gehört allerdings auch das Freihalten von Flächen, die sich Menschen auf ihre Weise aneignen können, die andere Verhaltensformen und Kulturtechniken als der mitteleuropäische Durchschnitt haben, um sich wohl oder beheimatet zu fühlen – kein gängiges Thema in deutschen Stadtverwaltungen…

Heiner Farwick: Tatsächlich: Wir sehen bei heutigen Planungen sehr oft, dass öffentliche Räume allzu durchgeplant sind. Obwohl wir auch von „Möglichkeitsräumen“ sprechen, sehen wir zugleich, dass Planungen sehr ausformuliert und deutlich determiniert sind hinsichtlich der Handlungen und Abläufe, die man sich dort vorstellt. Das entspricht ungefähr den Funktionsdiagrammen, wie wir sie bei der Gebäudekonzeption anlegen. Für die Orte, die wir meinen, ist ein solches Denken falsch: Wir müssen den Mut haben, nicht alles von Anfang bis Ende durchzuplanen.

Andreas Denk: Um diesen Mut aufzubringen, gehört auch ein entschiedener politischer Wille, der solche „Planerspiele“ und damit ein unorthodoxes Nachdenken über die öffentliche Nutzung städtischer Räume ermöglicht. Dieser Mut scheint den meisten Politikern angesichts ihrer kurzen Wahlperiode mehr und mehr abzugehen. Sie schmücken sich lieber mit ökonomischen Erfolgen im Städtebau…

Heiner Farwick: Ich bin zuversichtlich, dass auch Politiker erkannt haben, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt Defizite aufweist. Und ich bin guter Hoffnung, dass die Politik zunehmend erkennen wird, dass es mehr Mut und anderer, vielleicht auch experimentellerer Mittel und Formen der Stadtplanung als in den vergangenen zwei, drei Dekaden bedarf, um diesen Zusammenhalt wieder herzustellen. Die bisherigen Formen politischen Handelns waren sehr von der Angst geprägt, dass etwas „schiefgehen“ könnte. Das hat dazu geführt, dass trotzdem etwas „schief gegangen“ ist, wenngleich auf einer anderen Ebene: Ich meine die gesellschaftliche Teilhabe an Planungsprozessen, die, je nach betroffener Gruppe, vollständig anders definiert sein kann als das ein verallgemeinerndes Planerverständnis voraussieht.

Andreas Denk: Die Dissoziation einzelner Gesellschaftsschichten, das Desinteresse an anderen, hat man in der Geschichte der Bundesrepublik immer schon und immer wieder beobachten können. Lassen sich solche Verwerfungen allein durch eine andere Weise der Stadtgestaltung beheben?

Heiner Farwick: Vor vier oder fünf Jahrzehnten war die deutsche Gesellschaft sicherlich viel homogener als heute, wenngleich diese Homogenität mitunter als Korsett empfunden wurde. Die gemeinsame Kriegs- und Nachkriegserfahrung hat Unterschiede zwischen den Menschen teilweise nivelliert. Die Notgemeinschaft des Wiederaufbaus hat einen gewissen Konsens in der Gesellschaft erzeugt. Solche Gemeinschaftserfahrungen von Tod, Not und Leid haben viele Menschen unserer Gegenwart zum Glück nicht erlebt. Heute fehlen unserer Gesellschaft wohl allgemein verbindliche, klar definierte Ziele, an denen man sein eigenes Handeln und das der Gruppe ausrichten kann.

Andreas Denk: Es müsste darum gehen, solche gesellschaftlichen Ziele zu formulieren. Das könnte beispielsweise die Beschränkung des Klimawandels sein, die Beseitigung des Hungers auf der Welt oder eine humane Regelung der Migration, wobei diese drei Ziele unmittelbar miteinander verbunden sind.

Heiner Farwick: Das ist vielleicht die Grenze, die Stadtplanern und Architekten auferlegt ist. Wir können Beiträge leisten, die die Probleme der Welt verringern helfen und damit der Politik Mut machen, Courage zu haben. In Gänze lösen können wir die Probleme der Welt nicht. Dieser Selbstüberschätzung sollten wir nicht erliegen.

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