Die Sichtbarkeit von Müll im städtischen Raum

Eine Systemfrage

Seit einigen Jahren geistert der Begriff des Litterings – der Vermüllung des öffentlichen Raums – vermehrt durch die Medien. T-Online kürte Berlin als dreckigste Stadt der Republik und allenthalben begibt man sich auf Ursachenforschung. Dieser Beitrag von Theresa Jeroch versucht, das Empfinden mit der Realität abzugleichen, begangene Wege aus der Misere nachzuzeichnen und die Rolle der Verbraucherinnen und Verbraucher zu beleuchten: Zeichnen sie allein verantwortlich für die Missstände?

In der Warthestraße in Berlin Neukölln steht ein warnendes Schild: „Müllablagerungen verboten! Verstöße werden mit einer Geldstrafe von bis zu 50.000 € geahndet.“ Die Straßen des Bezirks sind beliebter Ablageplatz für alle Arten von Abfall, die sich grob zwei Gruppen zuteilen lassen: Bei Sperrmüll, Bauschutt und Gewerbeabfällen sind Aufwand und Kosten für die fachgerechte Entsorgung recht groß, das illegale Abstellen ist also in mehrfacher Hinsicht lohnenswert. Die zweite – nicht ganz so hoch geahndete – Gruppe umfasst all jenen Müll, der es einfach nicht bis zum nächsten Abfalleimer geschafft hat. Obwohl die erstere schon allein größenmäßig das Stadtbild nicht unerheblich prägen kann und zudem keinen geringen Teil bei den anfallenden Entsorgungskosten ausmacht, soll es in diesem Artikel um die letztere gehen: Einweg-Verpackungen, aber auch Zigarettenkippen und Hundekot – all der unachtsam am Entstehungsort weggeworfene oder liegen gelassene Müll, der einer engeren Definition des sogenannten Litterings entspricht. Diese Vermüllung ist nicht nur, aber auch ein ästhetisches Problem: Es schadet der Lebensqualität sowie auch dem Image der Städte, richtet ökonomischen Schaden an und kann gesundheitliche Gefahren für Tier und Mensch mit sich bringen.(1) Zumal ein Teil weitergetragen wird – in die Natur, in die Gewässer und darüber sogar ins Meer.

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

Warum Menschen wo und was wild entsorgen und welche Maßnahmen dagegen ergriffen werden können, untersucht die Psychologin Rebekka Gerlach zusammen mit anderen im Zuge einer 2018 veröffentlichten Langzeitstudie(2) sowie einer weiteren noch unveröffentlichten Studie. Unter anderem wurden im Zuge dessen 2005 und 2015 in Berlin und Frankfurt am Main Befragungen und Tests durchgeführt. Auf öffentlichen Plätzen wird demzufolge mehr Müll liegengelassen als auf Gehwegen, gern in Haltestellenbereichen, rund um Müllkörbe herum und ohnehin, wo schon anderer Müll liegt. Und in Berlin Neukölln mehr als in Zehlendorf, was mit der hohen Fluktuation zusammenhängen kann (im eigenen Kiez littert man deutlich seltener als in anderen) und mit der Altersstruktur der Leute: Nicht die Jugendlichen, sondern vor allem junge Erwachsene zwischen 18 bis 30 Jahren sind die Hauptverantwortlichen. Menschen ab 50 fallen nur in Sachen Hundekot auf. Keinerlei Zusammenhänge gibt es hingegen mit Bildung und Herkunft, die Übeltäter kommen aus allen sozialen Schichten und allen kulturellen Hintergründen. Sie tun es aus Bequemlichkeit, weil es doch nur eine Kleinigkeit, ein kleines Objekt war, keine Konsequenzen hat oder kein Mülleimer in der Nähe war.

Kippen an Haltestellen, Hundekot auf Gehwegen, Scherben auf Radwegen, Müll in Grünanlagen – alle denkbaren Merkmale an allen denkbaren Orten innerhalb der Städte wurden in Bezug darauf untersucht, wie oft sie wahrgenommen und als wie störend sie empfunden werden. Was deutlich auffällt, ist einerseits der Anstieg der Take-Away-Verpackungen. Diese haben 2005 noch gar keine Rolle gespielt. Andererseits – und entgegen der persönlichen Erfahrung und medialen Berichterstattung – wurde die Sauberkeit in der aktuellen Studie deutlich besser eingeschätzt als 2015, und in dieser besser als noch in 2005. Das heißt nicht, so Gerlach, dass das Littering abgenommen hat: Die Wahrnehmung von Sauberkeit hängt stark ab von den Strategien der Reinigungsunternehmen und diese wurden kontinuierlich korrigiert und optimiert. Sie meint, dass das Littering zumindest anteilig nicht gestiegen ist – die Abfallmengen haben nur deutlich zugenommen. Deutschland sei schließlich Verpackungs-Europameister.

Es wurden und werden verschiedene Maßnahmen getroffen, um die Hinterlassenschaften der zunehmenden Plastikproduktion auf den Straßen einzuhegen. Die Sensibilisierung der Bevölkerung hat in den letzten Jahren durch Kampagnen bereits zugenommen und zeige laut Gerlach auch Wirkung. Auch die Leerungshäufigkeit, Platzierung und Gestaltung von Abfallbehältern spielen eine erhebliche Rolle. In Köln konnten auffällig gestaltete Abfallbehälter beziehungsweise grüne Fußspuren zu denselben in Zusammenhang mit einer Plakatkampagne das Müllaufkommen stark senken. In Warnemünde wirkt man dem Littering von Zigarettenstummeln durch die Ostsee-Ascher entgegen, bei denen man mit seiner Kippe seine Meinung zu einer Frage kundgeben kann. In Amsterdam, mittlerweile aber beispielsweise auch in Mönchengladbach, setzt man auf „selbstverpressende Solar-Abfallbehälter“ von Mr. Fill, in die deutlich mehr reinpasst. In die gleiche Richtung gehen die Strategien der Berliner Stadtreinigung, die in Abstimmung mit der Stadt Reinigungsklassen festlegt und an entsprechenden Plätzen mehrmals täglich reinigt und Mülleimer leert. In Kiel gibt es überdeckte Abfalleimer, damit die Möwen nicht littern, und KI-basierte Erfassungssysteme an Abfallfahrzeugen, um die Touren anzupassen.

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

Plastikverpackungen sind aber auch dann ein Problem, wenn sie korrekt entsorgt werden. Laut einer Studie vom Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) sammeln und entsorgen die kommunalen Stadtreiniger in Deutschland pro Einwohner und Jahr knapp 140 Liter Straßenmüll – also all das, was in den Mülleimern, auf der Straße oder im Grünen landet.(3) Während Grünabfälle, Straßensplit und Sand die Hälfte ausmachen, sind Kunststoffe und Verpackungen für 40 Prozent verantwortlich – Einweglebensmittelverpackungen aus Kunststoff und Zigarettenkippen speziell für knapp 20 Prozent. Allein die letzte Gruppe verursachen laut einer Studie des Umweltbundesamts (UBA) jährlich rund 434 Millionen Euro an Kosten.(4) Hier setzt das 2022 im Bundeskabinett beschlossene Einwegkunststofffondsgesetz an, laut dem Herstellerinnen von Einwegplastik wie etwa To-Go-Lebensmittelbehältnissen und Getränkebechern, aber auch von Zigaretten mit kunststoffhaltigen Filtern zukünftig bestimmte Kosten für die Entsorgung übernehmen müssen, die bislang von der Allgemeinheit getragen werden. Das Gesetz soll die Einwegkunststoffrichtlinie der EU durchsetzen, wie auch das Verpackungsgesetz, das eine Mehrwegangebotspflicht für die Gastronomie vorsieht. Eine Mehrwegpflicht würde sicherlich besser wirken, aber Rebekka Gerlach, deren aktuelle Studien die Wirkung des Gesetzes und die Akzeptanz in der Bevölkerung messen sollen, kann immerhin bei letzterer eine positive Entwicklung über die letzten Jahre verzeichnen.

2019 hat Kiel das erste Mal auf einer Großveranstaltung eine Verpflichtung für Mehrwegbecher durchgesetzt. Die Becher sind einheitlich, werden also an jedem Getränkestand ausgegeben, ermöglichen ein werkstoffliches Recycling, da sie aus sortenreinem Kunststoff ohne Beschichtung bestehen, und überstehen mindestens 500 Spülzyklen schadenfrei. Die Reinigung erfolgt zentral in einem Spülmobil. Das ist eine Maßnahme auf dem Weg zur Zero Waste City – einer Stadt also, „die sich öffentlich zu dem Ziel (bekennt), das Abfallaufkommen kontinuierlich zu reduzieren und die Zero-Waste-Philosophie in ihre lokale Abfallwirtschaft zu integrieren“.(5)

Stadt ohne Müll

Kiel wurde Anfang 2023 als eine der ersten europäischen Städte als Zero Waste City zertifiziert, nachdem sie vor zwei Jahren den Kandidatenstatus erhielt. Seinen Anfang genommen hatte das Vorhaben 2018 nicht zuletzt auf Betreiben der Zivilgesellschaft und dem lokalen Zero Waste Verein, der den ersten Unverpackt-Laden Deutschlands eröffnet hat. Ein Grund für das Gelingen des Prozesses und den einstimmigen Ratsbeschluss 2020 war sicherlich auch der partizipative Ansatz unter Beteiligung der Bevölkerung.

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

Selina Kahl, stellvertretende Projektleiterin von Zero.Waste.City. der Stadt Kiel, erklärt, dass man die Transformation von einer Wegwerfgesellschaft hin zu einer Kreislaufwirtschaft durch Wiederverwendung, Teilen und Weitergeben anstrebe. Bis 2035 soll die Gesamtabfallmenge pro Einwohner und Jahr um durchschnittlich 15 Prozent, die Restmüllmenge sogar um die Hälfte sinken. Zu diesem Zweck soll das Abfallgebührensystem angepasst werden: bei Pay As You Throw wird nach Volumen gezahlt, sodass ein finanzieller Anreiz zur Müllvermeidung besteht. Neben der Aufklärung in Kitas und Schulen sowie Anreizen zur besseren Mülltrennung und Reduzierung der Lebensmittelverschwendung sollen öffentliche Trinkwasserbrunnen und Aschenbecherorakel ausgebaut werden. Eine große Kampagne läuft zur Verringerung von Windelabfällen, immerhin kann man pro Kind mit insgesamt 1000 Kilogramm davon rechnen. Deswegen wird die Rückkehr zu wiederverwendbaren Stoffwindeln beworben, für die es auch monetäre Zuschüsse gibt. In anderen Zero Waste Cities sieht man öffentliche Boxen für Obst- und Gemüse-Abfälle zur Herstellung eines stadteigenen Komposts (Roubaix, Frankreich), die Eröffnung eines Re-Use-Zentrums, wo alles von Schuhen bis hin zu Möbeln abgegeben, repariert und von Bedürftigen gekauft werden kann (Capannori, Italien), oder eine Verringerung der Häufigkeit der Sammlung von Restmüll bei gleichbleibender Sammlung von Wertstoffen und organischen Abfällen (Ljubljana, Slowenien).

Auffällig ist, dass all die Bemühungen vorwiegend auf Privatpersonen ausgerichtet sind. Kahl räumt als Schwierigkeit ein, dass die Abfallmengen nur durch öffentliche Einrichtungen erhoben werden, der gewerbliche Anteil wird von privaten Entsorgungsbetrieben abgeholt und ist zu großen Teilen nicht erfasst. Das ist nicht ganz unwichtig, weil der Mammutanteil des Abfallaufkommens industrieller Natur ist. In der Abfallbilanz des Statistischen Bundesamts von 2021 machen Haushaltsabfälle deutschlandweit knapp zehn Prozent des gesamten Abfallaufkommens aus, Schätzungen gehen wegen der teilweisen mangelhaften Erfassung des Industrieabfalls von einem noch geringeren Anteil aus.

Müll und Macht

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

Insofern kann, muss in Frage gestellt werden, inwieweit das Engagement der Privatpersonen, inwieweit die Reduktion von Müll auf städtischer Ebene an dem globalen Problem etwas zu ändern vermag. Mehrwegsysteme und Re-Use sind wichtig und gut, und je mehr Gemeinden mitziehen, können sie auch eine größere Wirkung erzielen. Aber warum bringen wir als Gesellschaft überhaupt immer mehr Verpackungsmüll hervor? Diese Frage stellt sich Yusif Idies, Humangeograph und auf den Bereich der kritischen Nachhaltigkeitsforschung spezialisiert. Er promovierte in Leipzig über die räumliche Relevanz nachhaltigen Konsums; für sein Habilitations-Projekt zu Geographien und Ökonomien der Entsorgung wechselte er 2017 an die WWU Münster. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen gründete er das inzwischen von der DFG geförderte wissenschaftliche Netzwerk Waste in Motion. Er hat verschiedene Erklärungsansätze, eine geläufige Erklärung sei, dass der Verpackungsmüll aus Bequemlichkeit zunehme und unsere Wegwerfgesellschaft damit in der To-Go-Mentalität der Verbraucher begründet liege. Das sei die individualisierte Perspektive, die im Übrigen auch durch Pro-Kopf-Angaben des Müllaufkommens vermittelt wird.(6) Für die Gewerbetreibenden wiederum versprechen die Verpackungen über lange Transportwege bessere Haltbarkeit. Auf der nächsthöheren Ebene ergibt sich ein anderes Bild: Im Gegensatz zu einem Mehrwegsystem, bei dem Hersteller für die Rücknahme und Säuberung beispielsweise der Flaschen sorgen müssen, gehe die Entsorgung der Einwegplastik zulasten der Allgemeinheit, so Idies: „In dem Moment, da sich Hersteller nicht mehr darum kümmern müssen, was mit den Verpackungen passiert, werden die Kosten externalisiert – also abgewälzt und sozialisiert.“ Die Lizenzgebühren für das Duale System, das privatwirtschaftlich die Sammlung und Verwertung von Verkaufsverpackungen organisiert – wie beispielsweise der grüne Punkt –, könnten über das Produkt auf die Verbraucherinnen umgelegt werden. Einmal ausgeliefert, sei die Verpackung ein Problem der Gesellschaft, auf deren Kosten der Gelbe Sack entsorgt wird – die Hersteller aber seien fein raus und ihrer Abfallsorgen entledigt. Idies geht aber noch einen Schritt weiter: Wir bringen als Gesellschaft immer mehr Verpackungsmüll hervor, weil immer mehr Plastik produziert wird. Das sei ein Wachstumsfaktor der petrochemischen, also Plastik produzierenden Industrie, die sich immer neue Vertriebswege sucht. Plastik werde so in den Markt gedrückt – der Versuch, das zu ändern, indem man etwa über Unverpackt-Läden beim Konsumverhalten ansetzt, müsse letztlich scheitern. Entsprechend steige die globale Plastikproduktion seit den 1950ern kontinuierlich an, mit Ausnahme kurzer und kleiner Einbrüche je infolge der Ölpreis- sowie der Finanzkrise.

Demnach „produzieren“ Verbraucher keinen Müll, sondern sind nach Liboiron und Lepawsky „Wegpunkte für Objekte, die für die Entsorgung entwickelt wurden.“(7) Dass für die Zunahme an Verpackungsmüll in erster Linie die Industrie verantwortlich ist, bestätigt auch der Blick in die Geschichte. Einwegplastik ersetzte nur gegen große Widerstände bestehende Mehrwegsysteme(8), um die Wirtschaft anzukurbeln. Lloyd Stouffer, Herausgeber der US-Zeitschrift Modern Packaging, fasste das 1956 in folgende Worte: „Die Zukunft der Kunststoffe liegt in der Mülltonne. (…) Denn die Verpackung, die einmal benutzt und dann weggeworfen wird, (…) ist kein einmaliger Markt für einige tausend Einheiten, sondern ein täglich wiederkehrender Markt, der sich auf Milliarden von Einheiten beläuft.“(9) Liboiron und Lepawsky beschreiben entsprechend die Wegwerfbarkeit als Taktik, Waren durch und nicht nur in die Privathaushalte zu schleusen. Das gilt nicht nur für Einwegplastik. So empfahl der Immobilienentwickler Bernard London 1932 die – übrigens heute noch im Maschinenbau-Studium gelehrte – sogenannte „geplante Obsoleszenz“, das heißt das konstruktionsbedingte frühzeitige Verschleißen eines Produkts, als Lösung für die Weltwirtschaftskrise.(10)

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

In diesem Szenario hilft auch die noch so sorgfältige Mülltrennung durch die Verbraucherinnen nicht mehr der Umwelt. Am ehesten hilft sie, die bisherigen Verhältnisse zu perpetuieren. Yusif Idies spricht vom „Recycling-Zauber“ – der Vorstellung, dass aus dem, was man in die Gelbe Tonne wirft, etwas tolles Neues entsteht, ganz ökologisch und nachhaltig. Von 5,7 Millionen Tonnen Kunststoffabfall wurden 2021 in Deutschland nach offiziellen Zahlen 46 Prozent dem Recycling zugeführt (unter diese Kategorie fällt übrigens automatisch der exportierte Plastikmüll, egal was im Zielland mit ihm passiert)(11), in neue Verpackungen fließt davon nur ein geringer Teil: In der Regel bedeutet die Wiederaufbereitung einen Qualitätsverlust und ein kontinuierliches Down­cycling. In dem Dokumentarfilm „Plastik – die Recyclinglüge“ der ARD aus dem Jahr 2022 wird von weniger als sieben Prozent echtem Recycling gesprochen: Nur sieben Prozent des Rezyklats ersetzen also die sogenannten virginen, das heißt die neuen, aus Rohöl hergestellten Kunststoffe. 53 Prozent des Kunststoffabfalls werden der „energetischen Verwertung“ zugeführt – eine gleichsam euphemistische Umschreibung für Verbrennung. Die so gewonnene Wärme wird absurderweise als grüne Energie gelabelt. Die Abfallmengen, die für diese Art der Energieversorgung bereitstehen müssen, sind zudem wenig flexibel – bei den Müllverbrennungsanlagen sind die Abfallmengen oft über Jahre vertraglich festgelegt, damit sie sich rentieren.(12) Das ist einer der Gründe, warum Müll nach Deutschland importiert wird.

Foto: Lars Wagner (Instagram @larsjean)

Es lohnt, unter diesen Vorbedingungen nochmal auf das eingangs beschriebene Problem des Litterings zurückzukommen. Einerseits haben wir festgestellt, dass geschlossene Kreisläufe nicht nur weit weg von der Realität sind, sie sind nicht gewollt. Lizenzero, eines der oben bereits angesprochenen dualen Systeme, macht dafür auf seiner Website hingegen das Littering verantwortlich: „Gelitterter Abfall wird dem Wertstoffkreislauf entzogen, und kann dadurch nicht mehr fachgerecht recycelt und verwertet werden. (…) Somit müssen mehr Mengen an neuen Materialien (Primärrohstoffen) für die Produktion genutzt werden, was neue Ressourcen beansprucht und deutlich schlechter für die Umwelt ist als die Verwendung von recycelten Materialien (Sekundärrohstoffen).“(13) Das ist nicht falsch, aber dass man dem Littering, und damit gewissermaßen den Verbrauchern, das Scheitern des Systems zur Last legt, ist unverhältnismäßig. Andererseits konnten wir sehen, dass die Menge der produzierten Verpackungen (die gleichsam bestimmungsgemäß am Ende in den Abfall wandern) stetig zunimmt. Sicherlich sind es im konkreten Fall Einzelpersonen, die den Müll der Bequemlichkeit halber auf die Straße fallen oder achtlos im Park liegen lassen. Dort anzusetzen, negiert aber die gesamtgesellschaftliche Perspektive. Es macht aus einem strukturellen beziehungsweise systemischen Problem ein individuelles und nimmt die Falschen in die Pflicht: nicht die Produzentinnen, sondern die Konsumenten. Littering macht im Grunde etwas sichtbar, was verborgen bleiben soll: das nicht nachhaltige wirtschaftliche System des Überkonsums und der Überproduktion.(14) Idies meint, dass wir dem nicht durch eine individuelle Änderung des Konsumverhaltens beikommen. „Um wirklich dahin zu kommen, dass weniger Plastik entsteht – und mittelbar unsere Umwelt vermüllt – müsste man ganz oben ansetzen.“

Theresa Jeroch studierte Kunstgeschichte und Betriebswirtschaftslehre in Magdeburg, Leipzig und Berlin und ist Volontärin bei dieser Zeitschrift. Sie promoviert an der Freien Universität Berlin zur Nordquerhausfassade des Halberstädter Doms. Seit 2021 ist sie zudem Teil der Arbeitsgruppe zur „sus et iudaei“-Plastik (sogenannte „Judensau“) am Domstift Brandenburg (Havel) und begleitet diese wissenschaftlich.

Fußnoten:

1 Van der Meer, Elke / Beyer, Reinhard / Gerlach, Rebekka: Littering – Merkmale, Ursachen, Prävention. Modul 1: Literaturrecherche und Empirische Studie 1, 2007.

2 Van der Meer, Elke / Beyer, Reinhard / Gerlach, Rebekka: Wahrnehmung von Sauberkeit und Ursachen von Littering. Eine Langzeitstudie 2005 – 2017. Hg. v. VKU, 2018.

3 INFA für den VKU: Studie zu Kosten für Sammlung und Entsorgung von Einwegkunststoffartikeln im öffentlichen Raum, 2020.

4 UBA (Hg.): Abschlussbericht. Erarbeitung eines Kostenmodells für die Umsetzung von Artikel 8 Absatz 2 und 3 der EUEinwegkunststoffrichtlinie, 2022 (TEXTE 132 / 2022).

5 https://zerowastegermany.de / zero-waste-cities /

6 Liboiron, Max / Lepawsky, Josh: Discard Studies: Wasting, Systems, and Power. Cambridge 2022, S. 48.

7 Ebd., S. 48.

8 Liboiron, Max: Modern Waste as Strategy. In: Lo Squaderno. Explorations in Space and Society 29 (2013), S. 9 – 12.

9 Englisches Zitat nach Liboiron / Lepawsky 2022, S. 51. Übers. v. d. Verfasserin.

10 Liboiron / Lepawsky 2022, S. 16.

11 Diese und folgende Zahlen entstammen der Kurzfassung der Conversio-Studie 2022: Stoffstrombild Kunststoffe in Deutschland 2021: Zahlen und Fakten zum Lebensweg von Kunststoffen. Aufbereitet am 12.01.2023 vom Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de / kunststoff-recycling-in-deutschland-100.html

12 Siehe dazu auch Alexander, Cathrin: When Waste Disappears, or More Waste Please!, in: RCC Perspectives 1 (2016), Out of Sight, Out of Mind. The Politics and Culture of Waste, S. 31 – 40.

13 https://www.lizenzero.de / blog / littering-das-problem-mit-der-vermuellung-und-wie-man-es-bekaempft / vom 22.3.2023

14 Liboiron / Lepawsky 2022, S. 89.

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