Die Bauteilverwerter von Istanbul

Çıkmacıs

Der Architekt und Stadtforscher E. Onur Ceritoglu beschreibt im Rahmen seiner ethnografischen Feldforschung, die er von 2015 bis 2019 für seine Dissertation an der BTU Cottbus-Senftenberg mit dem Titel „Building Salvage: Reclaiming a Livelihood from the Excesses of Istanbul’s Mass Urbanization“ durchgeführt hat, wie die çıkmacıs (Schrottsammler oder Wiederverwerter) in Istanbul die Kreislaufwirtschaft mit Materialien aus dem Abriss von Gebäuden zur Wiederverwertung in Gang halten – im Sinne von: Nichts geht verloren.

Als wir aus dem Transporter des Schrottsammlers stiegen, sah ich die zurückgelassenen Möbel, die man vor dem Haus gestapelt hatte. „Die kommen auf den Flohmarkt“, sagte er und zeigte auf den Stapel: „Hier geht nichts verloren!“ Die ausgebauten PVC-Rahmen, fügte er hinzu, habe er bereits an einen Großhändler verkauft. Als wir in das Gebäude gingen, fiel mir auf, dass es ironischerweise „Future Apartments“ hieß. Im Erdgeschoss sah ich, dass einige der zur Wiederverwertung bestimmten Materialien und Bauteile dort gelagert worden waren. An einem der geborgenen Teile hing ein Zettel mit dem Namen des Käufers. Außerdem schien irgendjemand in diesem Raum zwischen all den Materialien sein provisorisches Lager aufgeschlagen zu haben. Vom Treppenhaus her hörte ich dumpfe Schläge. Aus dem Fahrstuhlschacht sprühten ab und zu Funken und ich konnte in ihn hineinsehen, weil die Fahrstuhltür nicht mehr da war. Ich folgte der Schlauchleitung bis zu einer Wohnung im dritten Stock. Auch hier gab es keine Tür mehr. (Aus meinen Feldnotizen(1))

Schrottsammler bergen Bauteile für die Wiederverwertung, Istanbul 2019, Foto: E. Onur Ceritoglu

Während meiner fünf Jahre Feldforschung in der Türkei habe ich oft solche Szenen erlebt. Im Zuge der Stadterneuerung wurden in den letzten 20 Jahren immer mehr Gebäude abgerissen. Was mit dem dabei anfallenden Abbruchmaterial geschah, kümmert den Staat nicht. In der Türkei gibt es annähernd 6,7 Millionen Gebäude, die nicht erdbebensicher sind und deshalb zur erdbebensicheren Nachrüstung oder gleich für Abriss und Neubau freigegeben werden. Aber wie wird eigentlich die Entsorgung des Baumischabfalls gehandhabt? In der Türkei gibt es keinen staatlichen Rahmenplan für eine effiziente Bewirtschaftung des massenhaften Baumischabfalls. Außerdem ist die Recycling-Infrastruktur unzureichend. In dieses, durch staatliche Nachlässigkeit entstandene Vakuum drangen verschiedene informelle Gruppen von Menschen vor und machten die Wiederverwertung von Bauteilen zu ihrer Existenzgrundlage. Diese Menschen werden çıkmacıs genannt (Singular çıkmacı, türkisch für Wiederverwerter). Im Allgemeinen sind das Abrissarbeiter und Schrottsammler.

Abriss heißt, dass Gebäude vollständig und ohne irgendeinen Versuch zur Wiederverwertung von Materialien beseitigt werden. Sein Zweck ist die schnellstmögliche Beseitigung von heruntergekommenen Gebäuden aus der Stadtlandschaft. Beim Rückbau dagegen werden zunächst alle möglichen Bauelemente sorgfältig ausgebaut, Materialien und Bauteile werden wie bei einem Tagebau geborgen und der Wiederverwertung zugeführt. Der beim Abriss anfallende Baumischabfall besteht in der Regel aus klobigen und schweren Materialien wie Beton, Holz, Asphalt, Gips, Metallen, Ziegelsteinen, Glas und Plastik. Zu diesem Baumischabfall gehören auch Bauteile wie Türen, Fenster und Sanitärtechnik, außerdem Materialien wie Bäume, Baumstümpfe, Erde und Gesteinsbrocken, die bei der Geländeräumung anfallen.

Blick durch die leeren Fenster- und Türöffnungen eines Gebäudes im Bezirk Kadıköy, Istanbul 2016, Foto: E. Onur Ceritoglu

Wiederverwendung in der Architektur ist eine in der Geschichte der Menschheit weit zurückreichende Praxis. Wenn Städte durch Naturkatastrophen oder sonstige Umstände zerstört wurden, wurde der Schutt – Steine, Marmor – oft wiederverwertet und als Baumaterial genutzt. Die Wiederverwendung der Ruinen von Städten gibt nicht nur Einblick in den Lebenszyklus der Materialien, sondern wirft auch ein Licht auf die Anpassungsfähigkeit von Gemeinschaften in Bezug auf die optimale Nutzung der verfügbaren Ressourcen. Heute hat sich angesichts der raschen Erschöpfung der Ressourcen auf der ganzen Welt Rückbau zu einem entscheidenden Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit entwickelt. In der Türkei ist diese Praxis schon lange üblich. Seit den 1960er-Jahren wurden wiederverwertbare Materialien genutzt, um die gecekondus hochzuziehen, diese „über Nacht aus dem Boden gestampften“ Häuser für Migrantinnen und Migranten, die vom Land in die Städte kamen und zu Hausbesetzern wurden, weil der Staat ihnen keine Unterkünfte bereitstellen konnte.

Die Türkei hat eine rasante, von Profitgier getriebene Urbanisierung erlebt, die zahlreiche negative Folgen hatte. Mehrere historische Erdbebenkatastrophen führten zur Zerstörung von Wohngebieten, zum Verlust von Menschenleben, und offenbarten die inhärenten Schwächen und Gefahren der gebauten Umwelt. Der Wohnungsbestand hatte das Ende seiner physischen und ökonomischen Lebensdauer erreicht. Diese Situation machte sich die Wirtschaft zunutze, um die Bauindustrie anzukurbeln und an die neoliberale Dynamik anzupassen. In den letzten zwanzig Jahren stand für die AKP-Regierung die Stadtentwicklung ganz oben auf der ökonomisch-politischen Agenda. Doch das jüngste Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion im Februar 2023 – bei dem im Südosten der Türkei über 50.000 Menschen umkamen und ein Gebiet von 350.000 Quadratkilometern verwüstet wurde – hat gezeigt, dass diese Bemühungen dank der korrupten AKP-Bürokratie erfolglos waren.

Çıkmacıs trotzen der Schwerkraft, Istanbul 2019, Foto: E. Onur Ceritoglu

Die Anpassung an die neoliberale Dynamik gab in der Türkei den Anstoß zu einer Reihe von ungerechten und profitorientierten Entwicklungen. Dazu gehören die Räumung der innerstädtischen Slums, die zur Vertreibung der Bewohner der gecekondus führte, die Privatisierung von öffentlichen Räumen und andere Formen der Enteignung. Stadterneuerungsprojekte „von oben“ gehen oft über die tatsächlichen Bedürfnisse der Anwohnenden hinweg, da sie vor allem auf großräumige Immobilieninvestitionen setzen. Im türkischen Kontext umfasst ein „Bauprojekt“ sowohl den Abriss bestehender als auch den Bau neuer Gebäude. Die Folge: Abriss wird zur schnellen Lösung für die gänzliche Vernichtung der bestehenden Umwelt. Bei diesen Abrissarbeiten fallen erhebliche Mengen Schutt an, die von den städtischen Behörden nur unzureichend entsorgt werden. Das Konzept der Kreislaufwirtschaft steckt in diesem Land noch in den Kinderschuhen. Abfall landet, wie in anderen, erst kürzlich industrialisierten Ländern des globalen Südens, in einer Grauzone. So bieten Müllabfuhr und Mülltrennung neu angekommenen Migranten vom Land wie auch Geflüchteten eine nicht zu unterschätzende Existenzgrundlage.

In der Türkei liegt das Management des Bauprozesses in der Regel in der Hand von Generalunternehmern. Diese verkaufen das Schuttmaterial an çıkmacıs (Schrottsammler oder Wiederverwerter). Zur Aufgabe der çıkmacıs gehört das Abbauen, Sammeln, Klassifizieren und Lagern dieser Materialien. Wiederverwertbare Objekte werden zu Recyclingwerken gebracht, Bauteile auf Gebrauchtwarenmärkten verkauft. Die çıkmacıs bauen wiederverwertbare Bauteile wie PVC-Fensterrahmen, Türen, Heizkörper, Küchentheken und Sanitäreinrichtungen aus. Sie bergen Beleuchtungs- und Sanitäranlagen, kupferhaltige Stromkabel, Wasserhähne und Metallrohre. Sie zerlegen Fahrstühle und Zentralheizungen, um das Metall-Recycling zu erleichtern. Und sie tragen Hausrat und Möbel zusammen, die von den früheren Bewohnern zurückgelassen wurden und nun auf dem Flohmarkt verkauft werden. Hier geht wirklich nichts verloren.

Arbeiter wohnen vorübergehend in verlassenen Wohnungen, Istanbul 2018, Foto: E. Onur Ceritoglu

In der flexiblen Erwerbsstruktur der çıkmacıs ist Mobilität ein entscheidender Faktor. Çıkmacıs arbeiten oft außerhalb ihrer Heimatregionen und erweitern ihre Trupps je nach der Zahl der (Abriss-)Baustellen und der ihnen zugewiesenen Jobs, indem sie Familienmitglieder oder Leute aus Nachbardörfern dazu holen. Sie beschäftigen auch Geflüchtete, vor allem solche aus Afghanistan und Syrien. Geflüchtete, die in die Städte kommen, finden rasch Beschäftigung in der informellen Wirtschaft, da es hier keine rechtlichen oder bürokratischen Hürden zu überwinden gilt. Sie nutzen bereits bestehende Netzwerke und treten in die Fußstapfen der vor ihnen Angekommenen. Allerdings sind sie auch kaum vor Ausbeutung geschützt.

Die çıkmacıs leben abwechselnd in Istanbul und in ihren Heimatdörfern. Dabei ziehen Mitglieder einer Familie oder Männer aus demselben Dorf vorübergehend als Saisonarbeiter in die Stadt. In der Stadt gelten sie „amtlich“ als ungelernte Arbeitskräfte, aber tatsächlich verfügen sie dank ihrer Herkunft vom Land über landwirtschaftliche und sonstige Kenntnisse und Fähigkeiten. Häufig pendeln diese Menschen zwischen Stadt und Land. Im Gegensatz zum Leben in der Stadt, wo die ökonomischen und sozialen Bedingungen unvorhersehbar sind, haben sie mit ihren Äckern auf dem Land eine stabile Grundlage. Da unterschiedliche Vegetationstypen zu unterschiedlichen Zeiten des Jahres ihre Aufmerksamkeit erfordern, hat dieses Ackerland außerdem erhebliche sozio-ökologische Auswirkungen. Das Ackerland verkörpert zahlreiche, das Handeln beeinflussende Faktoren. Es symbolisiert die Wechselbeziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren.

Lager für gebrauchte Bauteile aus Istanbul, Tiflis, Georgien 2018, Foto: E. Onur Ceritoglu

Der Ort dieser Symbiose sind die Materiallager in der Stadt, die nicht nur als funktionsfähige Wirtschaftsräume dienen, sondern auch als zeitweilige Lebensräume für die Arbeiter. Diese Materiallager sind wie Gehäuse, die sich jeden Tag doppelt füllen: mit den beim Abriss oder Rückbau gewonnenen und dort gelagerten Materialien und mit den vorübergehend dort lebenden Menschen. Die Grenzen zwischen dem Sozialen und dem Materiellen verschwimmen auf diesen Lagerplätzen so sehr, dass die Menschen von dem Material, das sie geborgen haben, kaum mehr zu trennen sind. Zum besseren Verständnis dieser Koexistenz muss man sich die sozialen Interaktionen mit anderen Akteuren ansehen, die die Wiederverwendung ermöglichen, etwa Kunden, die erschwingliche Reparaturen durchführen oder Zweitwohnungen bauen (Sommer- oder Ferienhäuser, Schuppen).

Bauteilexport nach Georgien

Materiallager eines Abrissunternehmers, Istanbul 2018, Foto: E. Onur Ceritoglu

Doch seit dem Abriss der gecekondus, die die Nachfrage nach wiederverwertbaren Materialien zuvor angekurbelt hatten, begannen die çıkmacıs, die von ihnen geborgenen Bauteile auch außerhalb von Istanbul zu verkaufen. Das Netzwerk des Handels mit gebrauchten Bauteilen hat sich auf das benachbarte Georgien ausgedehnt. Hier kommt die Nachfrage vor allem von Haushalten von Geringverdienern auf dem Land und in kleinen Städten. Wie bei den gecekondus werden auch diese Unterkünfte oft unter Umgehung der Bauvorschriften errichtet. Dadurch lassen sich die Bauarbeiten flexibel gestalten. An solchen Orten wird in Etappen gebaut; wiederverwertbare Materialien werden genutzt, um in langsam voranschreitenden Bauprojekten Häuser zu modernisieren, zu erweitern oder zu reparieren. Die bei Abriss oder Rückbau gewonnenen Materialien haben erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Wohnhäuser auf dem Land.

Obwohl die çıkmacıs die „Drecksarbeit“ der Kreislaufwirtschaft und des Bausektors machen, bleiben sie unerkannt und unsichtbar. Çıkmacı ist kein staatlich anerkannter Beruf, was mangelnde staatliche Aufsicht und mangelnde Unterstützung für die Bedürfnisse derer zur Folge hat, die ihn ausüben. In anderen türkischen Großstädten haben sich einige çıkmacıs zu Genossenschaften zusammengeschlossen. Trotzdem haben sie unter den Einzelhändlern auf dem Baumarkt nur eine Randstellung.

Die Front dieses Hauses auf dem Land besteht aus recycelten PVC-Rahmen aus Istanbul, Kayseri, Türkei 2018,
Foto: E. Onur Ceritoglu

Aufgrund der mangelnden staatlichen Aufsicht sind die çıkmacıs über Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz schlecht informiert. Leider werden in diesem Materialkreislauf auch Gefahrenstoffe freigesetzt, die Menschen und Umwelt belasten. Nach Schätzungen des Stadtaktivisten Aslı Odman wird bei ungefähr einem Viertel der in Istanbul abgerissenen Gebäude Asbest freigesetzt.(2) Die Luft rund um die Abrissgelände ist kontaminiert und stellt eine Gefahr für die çıkmacıs wie für die Nachbarn und die übrigen Lebewesen dar. Während die Behörden und auch die Abrissarbeiter über die mit Asbest verbundenen Umwelt- und Gesundheitsrisiken gerne hinwegsehen, warnen lokale NGOs aktiv vor den gesundheitlichen Spätfolgen und machen sich für vorbeugende Maßnahmen stark. Durch diese wirkungsaktiven Stoffe hat der Bauschutt erheblichen Einfluss auf den Lebensunterhalt der çıkmacıs, auf die Umweltverschmutzung und auf den Wohnungsbau auf dem Land.

Die Recycling-Industrie

Das Konzept des Design for Deconstruction and Disassembly (DfD), also die Entwicklung von Lösungen für nachhaltiges Planen, Bauen und Nutzen von Bauwerken, findet in der Architektur immer mehr Zuspruch. Architekten und Ingenieure können zu dieser Bewegung beitragen, indem sie Wohnhäuser unter Einbeziehung von flexibel (wieder)verwend- und verwertbaren Materialien und Bauteilen entwickeln. Eine weitere Möglichkeit, diese Initiative zu unterstützen, wäre die bautechnische Reduzierung von Klebstoffen wie Leim oder Dichtungsschaum, da diese Substanzen den Rückbau von Gebäuden erschweren. Außerdem können solche professionellen Praktiken die baupolitischen Entscheidungen der Städte beeinflussen und zur Entwicklung von Richtlinien und Sicherheitsprotokollen für den Rückbauprozess führen.

Abbruchreife Immobilie, Istanbul 2018, Foto: E. Onur Ceritoglu

So konzentriert sich zum Beispiel Rotor, ein Unternehmen und Online-Plattform mit Sitz in Belgien, auf die Gewinnung von Materialien durch den Rückbau von Gebäuden. Rotor geht es vor allem darum, Lösungen für das Problem der Wiederverwendung von Materialien im Bauwesen zu entwickeln. Dieses Vorhaben wird jedoch durch strenge Vorschriften erschwert. Wenn während des Bauprozesses zahlreiche Subunternehmer zwischengeschaltet werden oder wichtige berufliche Verantwortlichkeiten ins Spiel kommen, wird Wiederverwendung nahezu unmöglich. Um diese Herausforderung zu bewältigen, arbeitet Rotor mit öffentlichen Verwaltungen, Behörden und Branchenverbänden zusammen, um Regeln und Vorschriften so zu gestalten, dass die Wiederverwendung von Materialien erleichtert wird.

Kennzeichnend für die Abfallbewirtschaftung im globalen Norden sind systematische und streng formale Verfahren. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Wirksamkeit von Wiederverwendungs- und Recyclingverfahren nicht allein am Grad der Formalisierung zu messen ist. Wollte man in anderen Weltgegenden, vor allem in Regionen, in denen die kreative Wiederverwendung floriert, die Wirksamkeit solcher Verfahren nur anhand von Kriterien aus den westlichen Überlegungen zur Kreislaufwirtschaft beurteilen, würde das die Diskussion in viel zu enge Bahnen lenken. In der Türkei zum Beispiel arbeitet die Recycling-Industrie mit einer Kombination aus formalen und informellen Akteuren und unterstreicht damit die Notwendigkeit, unterschiedliche Ansätze jenseits einer westlich zentrierten Perspektive in Betracht zu ziehen.

Hilfskonstruktion für Abbrucharbeiten, zusammengesetzt aus alten Dachlatten, Istanbul 2018, Foto: E. Onur Ceritoglu

Çıkmacıs profitieren in ihrem Streben, möglichst viel Gewinn herauszuholen, von den Regelungslücken der Abfallbewirtschaftung. Für sie sind diese Lücken Chancen, die sie strategisch nutzen. Sie passen sich aber auch den sich verändernden Verhältnissen in den Städten an und fördern zugleich die nachhaltige Wiederverwertung von Bauschutt. Die Architektur kann aus diesen ad-hoc-Wiederverwendungspraktiken wertvolle Erkenntnisse für ihr eigenes Gebiet gewinnen und sich verstärkt auf die sozio-materielle Natur von Baumaterialien besinnen. Zugleich wäre es für die Behörden eine Gelegenheit, die sozialen und technischen Bedingungen der çıkmacıs zu verbessern, statt zu versuchen, sie durch eine formal geregelte Abfallbewirtschaftung zu verdrängen oder ihren Sektor behördlicher Kontrolle zu unterstellen. Dadurch könnte eine alternative Entwicklung in Gang kommen, bei der der Bauschutt zu einer Art städtischem Gemeingut wird, zu einem auf die Bewirtschaftung der Ressourcen ausgerichteten Kollektiveigentum. Die Handlungsmöglichkeiten und die Rolle der çıkmacıs sind jedoch ungewiss, vor allem im Hinblick darauf, ob und wie sie sich etwaigen Formalisierungs- und Privatisierungsprozessen in ihrem Sektor anpassen können.

Auch wenn für die Tätigkeiten und Rhythmen der çıkmacıs derzeit die kapitalistischen Rahmenbedingungen bestimmend sind, stellen sie doch eine besondere Gruppe dar, die über einmalige Ressourcen verfügt und das Potenzial hat, Bauschutt in städtisches Gemeingut zu verwandeln: Hier könnten sie Materialien aller Art, Bauteillager und einschlägige Fachkenntnisse einbringen. Eine neue staatliche Baupolitik könnte bei diesem Potenzial ansetzen und festlegen, dass ein bestimmter Anteil des bei jedem Abriss oder Rückbau gewonnenen Schutts dem Gemeinwohl zugutekommen muss. Vorstellbar wäre auch, dass die Bauunternehmen einen Beitrag zu dieser Initiative leisten, indem sie eine bestimmte Menge ungenutztes Material zur Verfügung stellen. In dieser Hinsicht sind die bestehenden çıkmacıs-Kollektive schon jetzt ein Präzedenzfall. Mit einer Ausweitung ihrer Aktivitäten im oben beschriebenen Sinne könnten sie zur tragenden Säule der Sicherung des Rechts auf bezahlbares Wohnen werden. Eine entsprechende soziale Infrastruktur könnte durch Spenden, kollektives Engagement und gemeinsame Nutzung von Ressourcen aufgebaut und aufrechterhalten werden – kurz: durch Wiederverwendung und Wiederverwertung.

Übersetzung aus dem Englischen: Hella Beister

E. Onur Ceritoglu, geboren 1983, ist Architekt, Künstler und Stadtforscher. In seinen Kunstwerken stellt er das städtische Leben in den Kontext einer am Material und der Praxis des sozialen Engagements orientierten Erfahrung. Er war mehrfach Artist in Residence und hat an internationalen Ausstellungen teilgenommen. Seine Forschungsarbeit gilt der informellen Arbeit, der Materialität von Abfall und der Wiederverwendung dieses Abfalls in der Architektur.

Fußnoten

1) Die Dissertation wird im Oktober 2023 als Open-Access-Publikation im Transcript Verlag veröffentlicht.

2) Odman, Aslı. 2019, „Asbest Tehlike Haritası: Ortalık Toz Duman. (Asbestos Hazard Map: Dust and Dust)“ Beyond.Istanbul, no. 4: S. 70 – 77.

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