Abschied
„Oh dieser Andreas…“, mein tägliches Mantra, fast drei Jahrzehnte lang. Dieser Ausruf galt für alle möglichen Situationen, die guten, wenn er einen, wie oft, überraschte mit gelungenen Schlussfolgerungen, ausgefeilten Ideen oder lustigen Anekdoten, sie galten aber auch für all die Momente des Redaktionsalltags, für den er nicht unbedingt geschaffen war. „Ade, wo ist dein Text, wir sind kurz vor Druckdatenabgabe…“, „…wo sind die Abbildungen, die du schon vor Tagen angekündigt hast…“, „Herrgott, Andreas, wo steckst du überhaupt, seit Stunden versuchen wir, dich zu erreichen…“, und so weiter und so fort. Seine Standardantwort, mit einem verschmitzten Lächeln: „Ali, was regst du dich immer so auf…“.
Oh dieser Andreas, denke ich auch nach seinem Tod noch oft. Mir ist, als müsste ich ihn gleich kurz anrufen, und wir reden vom Hölzchen übers Stöckchen und mäandern über die anstehenden Arbeitsthemen zu tagespolitischen Geschehnissen, gesellschaftlichen Verwerfungen, fangen an über seine terminlichen Unzulänglichkeiten zu streiten, oder machen uns einfach nur lustig über dies und das, wir haben viel zusammen gelacht über die Absurditäten des Lebens.
Wie alles begann: 1993, im Spätsommer, kam Ade zum ersten Mal in die Redaktion der Zeitschrift der architekt. Ingeborg Flagge, damals Chefredakteurin, und ich hatten seinen Namen in unterschiedlichen Publikationen gesehen: im Kunstforum, für das er damals schrieb, im Bonner Generalanzeiger oder in der Bonner Szenezeitschrift „schnüss“. Andreas Denk berichtete über Kunstausstellungen, rezensierte Bücher zu Architektur und Stadt, und lies erkennen, dass er ein aufmerksames Auge hatte und vor allem eine gute Sprache pflegte. Wir suchten redaktionelle Verstärkung in unserem kleinen Team und luden ihn ein.
Er kam, natürlich etwas zu spät, schweißüberströmt, im dritten Stock der damaligen Villa in der Bonner Ippendorfer Allee an, keuchte und schwitzte, konnte kaum sprechen, ich musste erst einmal ein Handtuch herbeiholen, ihm meinen Fächer reichen, bevor er sich überhaupt äußern konnte. Es stellte sich heraus, dass er extra mit seinem Fahrrad den steilen Berg der Ippendorfer Steige hinauf geradelt war, um ja pünktlich zu sein. Er gewann unsere Aufmerksamkeit dann zügig: mit seinem intelligenten Charme, seinem damals schon erkennbaren, breit angelegten Wissen, irritierte aber auch mit seiner eigenwilligen Auffassung von Raum und Zeit. So wurde er unser Kollege, mit kleinem Stundenkontingent zunächst, das nach und nach erweitert wurde. Die nächsten Jahre gingen einigermaßen ruhig ins Land, wir besuchten zusammen Kunst- und Architekturausstellungen, reisten im Zusammenhang der Redaktion hierhin und dorthin, machten klassische Redaktionsarbeit. Bis 1998: Ingeborg Flagge gab die Chefredaktion auf, und Ade und ich standen, mit einer kleinen Assistenzstelle als Hilfe, plötzlich auf uns gestellt da. Der Weggang von Ingeborg Flagge ging mit einigen Turbulenzen im BDA einher, die Zukunft der Zeitschrift wurde sehr kontrovers diskutiert, man konnte sich kaum vorstellen, dass ohne eine Führungsfigur wie Ingeborg Flagge der architekt überhaupt existieren konnte. Unser damaliger Redaktionsbeirat trat daraufhin geschlossen zurück, Andreas und ich wiederum traten in eine Art lang anhaltenden Kampfmodus – und nach einigen Kontroversen und mit großem Vertrauensvorschuss seitens des BDA wurde Andreas Denk dann ab 2000 Chefredakteur, ich übernahm den Posten der Chefin vom Dienst. Wir wühlten uns in diesen turbulenten Anfangszeiten in den damals noch analogen Produktionsprozess ein: organisierten und akquirierten Themen und Autoren, setzten bis dahin nicht beachtete Themenfelder (Theorie). Ende der Neunziger machten wir tatsächlich noch aufwendigen Klebeumbruch – Papier-Fahnen wurden ausgeschnitten, zeilengenau auf ein spezielles Layoutpapier geklebt, die Bilder mussten noch mit komplizierten Lineal-Tabellen und Maßscheiben vermaßt werden. Bis zur Erschöpfung werkelten wir oft bis in die Nacht hinein in der großen Bibliothek in der Ippendorfer Allee herum. Ade legte sich nicht wenige Male unter den großen Tisch, wenn gar nichts mehr ging und machte ein kurzes Nickerchen…
Dann zog der BDA 1999 mit Sack und Pack von Bonn nach Berlin und wir nach Köln, zu unserem damaligen Verlag. Wir wurden versierter in dem was wir taten und Martin Seidel, ein Bonner Kunsthistoriker, stand uns mit Rat und Tat stundenweise zur Seite. Die Kölner Zeit währte nur kurz, wir zogen wieder zurück nach Bonn, wo wir – anfangs vom BDA geduldet und mitfinanziert, später dann von Ade und mir privat finanziert – zunächst ein Büro in der Südstadt bezogen. Wir sind noch mehrere Jahre in Bonn mit einem kleinen Büro an unterschiedlichen Standorten verblieben. Unregelmäßig, aber stetig, fuhren wir zwischen Bonn und Berlin hin und her und versuchten, dort Präsenz zu zeigen, unterstützt von Silke Johannes, die für uns die Stellung in der Bundesgeschäftsstelle hielt. Unsere Arbeit intensivierte und professionalisierte sich in der Praxis des Alltags, aber auch thematisch durch Denks komplexe Interessen gesteuert, die sich immer mehr auffächerten. Wir begannen mit der Ausbildung unserer ersten Volontäre (Rainer Schützeichel, David Kasparek und Daniel Hubert). Der Produktionsprozess wurde digitalisiert dank unserer jungen Mitarbeiter, die nicht nur von uns, sondern wir auch von ihnen lernen konnten, unser aller Humor-Ebenen trafen sich vorzüglich, es war ein geglücktes, intensives und produktives Arbeiten, persönlich und inhaltlich – nur ab und an unterbrochen von lautstarken Diskussionen zwischen Ade und mir über seine Auffassung von Terminverlässlichkeit und praktischem Alltagskram.
Wir sind wahnsinnig viel herum gereist in dieser Zeit zwischen den Jahren 2000 und 2012 – durch die ganze Republik, von West nach Ost, von Nord nach Süd: um unsere Sache der Zeitschrift zu festigen, unsere Vorstellungen von einer guten Publikation zu lancieren, drohendes finanzielles Unheil (das monetäre Desaster durch den UIA Kongress hat uns lange schwer gebeutelt) abzuwenden – in allen BDA-Gremien, den Landesverbänden und wo immer wir eine Möglichkeit sahen, sind wir aufgetaucht, haben für unsere Sache geworben, mit allen diskursiven Mitteln. Wir wurden damals durchaus als anstrengendes Tandem wahrgenommen, weil wir in unserer Duplizität zwar oft ziemlich lustig unterwegs waren, aber auch recht massiv auftreten konnten. Aber es hat geholfen. Die Zeitschrift der architekt gibt es noch, besser denn je.
Unsere Reisen begannen in der Regel in Bonn, oft mit der Deutschen Bahn, manchmal mit dem Auto. Die Bahnreisen gestalteten sich wie folgt: Wenn Ade es überhaupt pünktlich in den Zug schaffte (des öfteren musste ich vorausfahren, er dann mit dem späteren Zug hinterher), wurde auf dem Tisch sein ganzes Equipment ausgepackt: Zu meinem und vor allem zum Entsetzen der Mitreisenden oft Mettbrötchen mit Zwiebelringen, oder ein stinkiges Pizzastück, auch Bockwürste liebte er sehr, Kaffee, unsere Laptops und Notizen wurden ausgebreitet (früher, ohne Laptops, waren es mehrere Notizbücher) und überhaupt: alle möglichen Bücher wurden um seine lukullischen Notwendigkeiten drapiert – und wir begannen mit der Arbeit: Strategien für Zeitschrift und Gremien, Konzepte für Veranstaltungen, Heftexposes sind so entstanden, wir diskutierten, es wurde gekichert, Sachen hin- und hergeschoben, oft belustigt oder irritiert beäugt von den Mitfahrenden. Waren wir im Auto unterwegs, vor allem die langen Fahrten Richtung Osten oder die ewig lange Strecke nach Berlin, die wir zu Anfangszeiten manchmal mit dem Auto machten, um irgendwelche Sachen zu transportieren – nutzten wir ebenso zur Diskussion und Vertiefung von Problemlösungen. Immer kontrovers, nie direkt einmütig, aber irgendwann trafen wir uns inhaltlich doch wieder. Wenn wir alles ausdiskutiert hatten, auch uns selbst, hörten wir Musik (selten konnten wir uns einigen) oder eben, als Kompromiss, stundenlang Hörbücher wie Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Ade nahm immer auf alle Reisen seine geliebten kunsthistorischen, teilweise uralten Reiseführer mit und wir sind nicht wenige Male von der Autobahn ab und über Stock und Stein gefahren, um von ihm vorher ausgesuchte prähistorische, kunsthistorische oder architektonische Schätze zu besichtigen. So haben wir nach Berlin oder Rostock oft zehn Stunden oder mehr gebraucht. Aber wir fanden auch wundersame und wunderbare Orte, die wir sonst nicht aufgesucht hätten wie Jericho oder Tangermünde oder winzigst kleine Dörfer mit nur vier Häusern irgendwo auf dem Land. Andreas liebte dieses Herumfahren, um etwas Besonderes zu entdecken, ich kann die vielen Kirchen im ganzen Land, die wir ausführlich besichtigten, kaum zählen. Der Nordosten stand in diesen Jahren oft auf unserer Reiseliste: die Müther-Schalenbauten, die Hämer-Kirche in Ahrenshoop haben wir zigmal besucht. Weimar wurde mehrmals beehrt, und in Apolda haben wir einmal zu später Stunde wild tanzend (und wohl auch etwas trinkfreudig) eine Schützenfest-Veranstaltung in einem Festzelt aufgemischt. So kam es, dass wir eben des öfteren mit stundenlanger, wenn nicht tagelanger Verspätung irgendwo aufkreuzten, unter den tadelnden Blicken des BDA-Präsidiums. Auch Reisen ins Ausland unternahmen wir einige, um jeweilige Themenhefte vorzubereiten. 2001 waren wir gemeinsam mit Simon Hubacher in Rom für eine Woche, um besondere Wohnsiedlungen aus verschiedenen Epochen für unser „Roma“-Heft zu erkunden. Wir mieteten ein kleines Autos, um die weit auseinanderliegenden Siedlungen überhaupt zu erreichen. Ade stieg ein, fuhr unverzüglich los, und reihte sich lässig und unerschrocken in das römische Verkehrschaos ein, steuerte uns tagelang durch das komplexe Verkehrsgeflecht und die umliegenden Suburbs, als hätte er noch nie was anderes gemacht, als in Rom Auto zu fahren.
Eine Zäsur in Ades Leben war 2003 die Geburt seiner Tochter Lisa Lia, genannt Lili. Das größte Glück seines Lebens, wie er oft sagte. Seit dieser Zeit hat er, bis zum Schluss, unermüdlich versucht, Lili in und um sein komplexes Sein zu weben. Insbesondere schwierig wurde es mit der Einteilung seiner Zeit, als der nachvollziehbare Ruf des BDA nach unserer ständigen Anwesenheit in Berlin unüberhörbar wurde und unsere Verzögerungstaktiken sich dann doch erschöpften. Jahrelang hatten wir mit allen Gremien über das Thema des Komplettumzugs der Redaktion nach Berlin diskutiert: wir sollten unbedingt, wollten aber partout nicht. Das Rheinland schien uns als Lebensort unabdingbar.
Schluss mit lustig war es, als 2011 Thomas Welter als Geschäftsführer zum BDA kam. Die Dinge bekamen Struktur, die Geschäftsstelle des BDA wurde neu geordnet, unser gerade fertig ausgebildeter Volontär David Kasparek erhielt eine feste Stelle als Redakteur (der Glücksfall schlechthin), er übersiedelte von Köln nach Berlin, die Redaktion packte ihren Kram in Kisten und expedierte sie in die Hauptstadt.
Damit begann der bis zuletzt andauernde, oft zermürbende Spagat zwischen den rheinischen Gefilden und Berlin. Verschiedene Anwesenheitstermen wurden ausprobiert: eine Woche in Bonn, eine in Berlin, das regelmäßige, aber unwägbare Pendeln mit der Deutschen Bahn begann. Eine Zeit lang hat es auch bei Ade gut geklappt und er war halbwegs turnusmäßig in der Geschäftsstelle, später dann wurde durch meine regelmäßige Anwesenheit seine häufige Abwesenheit etwas kompensiert. Ade und ich erkundeten in diesen ersten Jahren unermüdlich die baulichen Besonderheiten Berlins, suchten mehrmals die Wohnsiedlungen der zwanziger Jahre und andere Architekturikonen auf, stundenlang waren wir zu Fuß oder mit S-Bahn unterwegs in allen Ecken der großen Stadt, natürlich wieder mit bauhistorischen Führern bestückt, die Ade in seiner ollen Schultertasche mit sich herumschleppte.
Andreas Denk hat die Arbeit für den BDA, dessen Eigenschaft als Wahlbund ihn von Beginn an begeisterte, und die Zeitschrift geliebt, leidenschaftlich, oft streitbar und störrisch, aber immer mit Charme, Großherzigkeit und einer engelsgleichen Geduld behaftet – und er brachte einen großen intellektuellen Input in alle Ecken des Verbands hinein. Sein Elefantengedächtnis, seine Vermittlungskunst der trockensten und theoretischsten Zusammenhänge und Entwicklungen, sind beeindruckend, legendär.
Die letzten Jahre, insbesondere seit er sich genauso leidenschaftlich und unabdingbar in die Lehrtätigkeit an der TH Köln begeben hat, haben ihn sehr gefordert. Aber bis zuletzt versuchte er, allem und allen gerecht zu werden, in seiner ihm eigenen Art. Er konnte einen unfassbar nerven, ärgern und reizen, aber auch dermaßen entzücken, beglücken und bereichern – mit seiner Art, Dinge und Sachverhalte zu sehen, zu analysieren und zu durchdringen, mit seinem oft absurd schwarzen Humor, seiner feinsinnigen Ironie, seinem profunden Wissen, mit all seiner Ade-Wesenheit. Oh dieser Andreas, verschwunden ist er, viel zu früh, zu plötzlich. Und dennoch bleibt er, weil er so vieles hinterlassen hat in all den Menschen, die mit ihm waren.
Alice Sárosi-Tumusiime, Bonn,
seit 1979 bei der architekt,
bis Ende 2018 Chefin vom Dienst