Editorial

Substanz oder Masche?

Vor wenigen Wochen eröffnete Google ein neues Headquarter für Nordamerika in New York City. Jedoch nicht etwa in einem donut- oder spiralförmigen Wolkenkratzer, sondern – hört, hört – in einem umgebauten ehemaligen Bahnterminal. Dabei handelt es sich um das St. John’s Terminal, das als Endpunkt für jene Bahnstrecke diente, die heute als High Line Park eines der bekanntesten Beispiele für die Umnutzung von Bahninfrastruktur darstellt. Trotz einer Aufstockung konnten durch den Erhalt des Bestands laut Angaben des Architekturbüros Cookfox Architects 78400 Tonnen Kohlendioxid-Äquivalente eingespart werden.

Ist also der Umbau endlich da angekommen, wo man ihn immer wünschte, nämlich im Mainstream? Haben wir uns endlich vom Paradigma befreit, dass nur ein Neubau eine würdige Repräsentation sein kann – weil jetzt auch eines der größten globalen Unternehmen ein bestehendes Gebäude weiternutzt? Ganz so euphorisch mag man dann aber doch nicht sein, denn erstens ist es New York, und zweitens ist der Umbau natürlich Teil einer umfassenden und geschickten Marketingstrategie. Im Imagefilm des Projekts springt es einem förmlich ins Gesicht: In demonstrativ verwackelten Kameraaufnahmen soll hier der Eindruck erweckt werden, es habe bislang kein authentischeres, grüneres und menschenfreundlicheres Unternehmen gegeben.

Jedenfalls kann man feststellen, dass so langsam auch bei den ganz großen Playern ankommt, dass der Blick auf Architektur und seine ökologischen und klimatischen Folgen etwas kritischer geworden ist. Oder andersherum: Ein Hauch von Bestandsatmosphäre lohnt sich immer mehr, weil sich hiermit die eigene Außenwirkung aufpolieren lässt. Wo der Umbau zunehmend zur Marketingmasche wird, muss zukünftig noch aufmerksamer darauf geschaut werden, wie viel Substanz – im wörtlichen und übertragenen Sinne – tatsächlich hinter der Fassade solcher Projekte steckt. Und auch mit Blick auf Stadt- und Immobilienentwicklung ist Umbau nicht per se und immer moralisch unzweifelhaft.

Cookfox Architects und Gensler, Google Hudson Square Campus im St. John’s Terminal, New York 2024, Foto: Google

Dennoch ist diese Entwicklung positiv zu bewerten. Denn das Weiterbauen wird zwar in Fachkreisen schon sehr lange und mittlerweile in immer spezialisierteren Einlassungen betrachtet, in der breiteren Öffentlichkeit und bei Preisverfahren bekommen Umbauprojekte aber erst seit kurzem größere Aufmerksamkeit. Und es wird dabei zusehends wertgeschätzt, wenn auch unattraktivere und widerspenstigere Bestandsbauten weiterentwickelt werden – so auch beim St. John’s Terminal. „That’s the genius of Google. Seeing possibilities where others are not able“ – so eine Selbstbeschreibung bereitet zwar Unbehagen in Bezug auf das dahinterstehende Unternehmen, dennoch ist es nicht die schlechteste Maxime, wenn wir einen Weg aus unserer Wegwerfkultur finden wollen.
Elina Potratz

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