Kritischer Raum

Gewagt und gewonnen

San Riemo, München 2017 – 2020, Arge Summacumfemmer Büro Juliane Greb aus Leipzig und Gent, Bauherr: Kooperative Großstadt

Was für ein Name: San Riemo – das klingt nach Urlaub am weißen Strand, die Füße umspült von türkisblauem Meerwasser, ein Bellini in der Hand. Die Architekturfotos des Wohnungsbauprojekts, das allerdings nicht an der italienischen Riviera, sondern in München-Riem steht, scheinen diese Assoziationen zunächst zu bestätigen – zumindest in der Farbgebung, bei der Weiß, Blassgrün und Rosa dominieren. Dementsprechend groß ist auch die Sehnsucht nach Dolce Vita bei der anstehenden leibhaftigen Besichtigung. Doch schon bei der Anfahrt in die „Messestadt Riem“ kommt die Ahnung auf, dass sich das Projekt hier in einem herausfordernden Umfeld behaupten muss, namentlich: der grausamen Realität deutscher Neubausiedlungen.

Arge Summacumfemmer Büro Juliane Greb, San Riemo, München 2017 – 2020, Foto: Petter Krag

Der Verdruss über den gegenwärtigen Wohnungsbau war auch der initiale Antrieb für die Kooperative Großstadt – die auftraggebende Genossenschaft des Gebäudes. Bei der Gründung 2015 schlossen sich Menschen verschiedener Hintergründe zusammen, um den bestenfalls durchschnittlichen Wohnneubauten im überhitzten Immobilienmarkt Münchens vorbildliche Projekte entgegenzusetzen. Ihre Vision von großstädtischer Architektur: hohe Dichte, sozial und in der Nutzung durchmischt, mit Mehrwert für die Umgebung, nachhaltig, partizipativ und architektonisch herausragend. Wie ernst man die Ziele der Genossenschaft nehmen kann, zeigt sich nicht nur im Prozess und im gebauten Resultat, sondern auch darin, dass die Gründungsmitglieder dabei kein persönliches Interesse an eigenem Wohnraum verfolgten.

Während die Gebäude im näheren Umkreis den Kontakt mit der Umgebung geradezu scheuen, ihr durch Hecken und heruntergezogene Jalousien die kalte Schulter zeigen, öffnet sich San Riemo zur Straße mit großzügigen Räumen, die von einer Kinder- und Jugendeinrichtung genutzt werden. Schon vor dem offenen Realisierungswettbewerb, den die Genossenschaft durchführte, wurde diese öffentliche Nutzung im Erdgeschoss gemeinschaftlich beschlossen – obwohl sie rund ein Sechstel der Fläche des Bauwerks einnimmt und von allen Genossenschaftlern mitfinanziert werden musste.

Arge Summacumfemmer Büro Juliane Greb, San Riemo, München 2017 – 2020, Foto: Petter Krag

Teil des offenen Realisierungswettbewerbs war auch, dem Gebäude ein prägnantes Aussehen zu geben und damit im Stadtbild zu kommunizieren, dass hier anders gewohnt wird. Die für den architektonischen Entwurf verantwortliche Arbeitsgemeinschaft Summacumfemmer (Leipzig) und Büro Juliane Greb (Gent) hat den zwei Straßenfassaden des über Eck laufenden Baus unterschiedliche Charakterzüge verliehen. Die westliche Fassade, die unter dem Einfluss der nahegelegenen, stark befahrenen Hauptstraße steht, konnte aus Schallschutzgründen nicht mit offenen Laubengängen ausgeführt werden – sie ist mit einer Polycarbonathülle versehen, die eine durchgehende Wintergartenzone als niedrigschwelligen Begegnungsraum für die Bewohnenden bildet. Hellgrüne Vorhänge halten das Farbkonzept zusammen, das auch an der ins Quartier gerichteten Südfassade weitergeführt wird. Hier sind die großen weißen Wellblechverkleidungen gestaltprägend, die gemeinsam mit der dominanten Mittelachse und einer schwarzen Solarmodulfläche eine zweidimensionale Komposition bilden. Die postmodernen Anklänge, die vom kühl-poppigen Farbspektrum heraufbeschworen werden, sind durch dreieckige Fens­terflächen verstärkt.

Arge Summacumfemmer Büro Juliane Greb, San Riemo, München 2017 – 2020, Foto: Petter Krag

Während noch nicht ganz ersichtlich ist, wie gut sich die Wintergartenzone als tatsächliche Begegnungsfläche bewährt, überzeugen die Gemeinschaftsräume des Hauses sofort. Als Zonen zwischen Eingang und den Treppenhäusern sind sie ganz natürlich mit dem alltäglichen Leben verknüpft und präsentieren sich gleichzeitig offen gegenüber dem Quartier. Neben einer Küche gibt es eine Werkstatt sowie einen breiten Gang mit Regalwänden. Hier sind Waschmaschinen und andere gemeinschaftlich genutzte Dinge verstaut, gleichzeitig hat der Raum das Potenzial, für Bewohnerbesprechungen, Veranstaltungen und Partys genutzt und zum Hof sowie zur Straße hin geöffnet zu werden. Ein blickdurchlässiges Vorhangsystem ermöglicht die Unterteilung der Fläche. Ein weiterer von der Gemeinschaft bespielter Ort findet sich darüber hinaus auf dem Dach des Hauses.

Arge Summacumfemmer Büro Juliane Greb, San Riemo, München 2017 – 2020, Grundriss 4. OG

Die Flexibilität und Nutzungsoffenheit setzt sich in den Wohnungsgrundrissen fort. Um ein Treppenhaus inklusive Aufzug einsparen zu können, wurde auf allen Geschossen ein zusätzliches Treppenzimmer geschaffen, über das ein Teil der Wohnungen erschlossen wird und das als Wohnraum für gemeinsame Nutzung zur Verfügung steht. Darüber hinaus bietet dieses zwischengeschaltete Zimmer die Möglichkeit, den Wohnungen neue Räume hinzuzufügen oder wegzunehmen – durch zusätzliche Türen, die geöffnet oder durch Schallschutzelemente geschlossen werden können. Dabei gibt es vielfältige Verschaltungsmöglichkeiten, die eine enorme Flexibilität der Wohnungsgrundrisse erlauben. Der Umbau wird hier als Möglichkeit ganz praktisch bis ins Detail mitgedacht und damit in der Zukunft erleichtert.

Wenngleich San Riemo in seiner kühlen Grundatmosphäre womöglich nicht unbedingt als gefällig zu beschreiben ist, überzeugt die Gestaltung in ihrer kompromisslosen Gegenwärtigkeit, für die man Bauwerke für gewöhnlich auch in der architekturhistorischen Rückschau schätzt. Das passt gut zum vorbildlichen Entstehungsprozess, in der das Handeln glaubhaft von der Selbstverpflichtung zum Gemeinwohl geleitet wurde – was sich in der partizipativen Entwicklung, im offenen Wettbewerb, einer öffentlichen Jurysitzung und der Nutzung im Erdgeschoss manifestiert hat. Gerade angesichts der angepeilten Zahl von 400.000 neuen Wohnungen kann man nur hoffen, dass die Bundesregierung Strategien sucht, um dabei – so wie hier – wirkliche urbane räumliche Qualität und sozialen und ästhetischen Mehrwert für die Stadtgesellschaft zu schaffen.
Elina Potratz

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