Gedanken zu Solidarität und Stadt

Here we are near there

In ihrem Essay beschreibt Alesa Mustar die Dringlichkeit einer pluralistischen Betrachtung der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit ist für sie dabei unverzichtbar und wesentlicher Baustein für eine gerechtere Raumplanung. Solidarische Kräfte dienen als unterstützende Basisinfrastruktur, die oft alternative Ansätze zum hegemonialen System anbietet und Defizite ausgleicht. Wertschätzung und Pflege von Solidarität gewinnen im Kontext sich verändernder sozialer Beziehungen und Identitäten an Bedeutung und verdeutlichen die Rolle von Architektur und Stadtplanung als gestaltende Elemente in einer sich transformierenden Gesellschaft.

If design is merely an inducement to consume, then we must reject design; if architecture is merely the codifying of the bourgeois model of ownership and society, then we must reject architecture; if architecture and town planning is merely the formalization of present unjust social divisions, then we must reject town planning and its cities. Until all design activities are aimed towards meeting primary needs. Until then, design must disappear. We can live without architecture.(1)

In den 1970er-Jahren, als es unumstritten schien, dass Architektur eine mächtige und positive Kraft für den Fortschritt ist, hat das florentinische Architektur- und Designkollektiv Superstudio seine politische Desillusionierung in eine Umkehr des planerischen Gedankens übersetzt: Wenn Gestaltung nicht den Grundbedürfnissen der Menschen entspricht, sondern einem Selbstzweck folgt, ist sie obsolet. Entsprechend der Collage von Superstudio geht es in diesem Text um die Dialektik von gebautem Raum und gelebter Umwelt und darum, dieses Spannungsfeld mit einem Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen näher zu beleuchten. Nicht die völlige Abwesenheit von Architektur ist das metaphorische Ziel, sondern die stärkere Berücksichtigung und Behandlung der Empfänger der gebauten Welt: der Gesellschaft und des Individuums.

Seit dem spatial turn gilt die Bedeutung der Interaktion zwischen sozialen Handlungen und materiellen Strukturen für die Entwicklung von Raum als anerkannt. In der Soziologie und Architekturtheorie wird Raum heute als die Gesamtheit aller physischen und sozialen Beziehungen verstanden und erfüllt somit nicht länger nur eine neutrale Containerfunktion. Er wird als interagierender Akteur wahrgenommen, der durch soziale Aktivitäten hervorgebracht wird und diese zugleich strukturiert: Handlung und Material bedingen einander. Der relationale Raum rückt demnach gesellschaftliche Parameter weiter in den Vordergrund der Planung und dehnt den Verantwortungshorizont von Architektur und Städtebau in ihrer Rolle als vermittelnde Disziplinen aus. Die materielle Welt wird in Beziehung zu allen Lebewesen gestellt und sieht sich dadurch mit neuen Herausforderungen und Fragen konfrontiert, die alte Paradigmen aufbrechen.(2)

Gleichzeitig – und möglicherweise bedingt – vollzieht sich eine zunehmende Demokratisierung der Architekturpraxis, die den öffentlichen Diskurs über die Raumproduktion sozialisiert und ein neues Verständnis von Stadt und Zusammenleben einfordert. Planung sieht sich heute in gesellschaftliche Auseinandersetzungen und partizipative Prozesse eingebunden und muss immer mehr Advokatin und Abbild gesellschaftlicher Belange und Bedürfnisse werden. Dieser Prozess der Umkehrung, und vielleicht des Ausgleichs, ist jedoch langwierig und herausfordernd, wenn es darum geht, die elitäre Position von Architektur und Stadtplanung infrage zu stellen und deren Resonanzkörper Gesellschaft als Ganzes zu reflektieren.

Fundamental Acts, Life (Supersurface), Journey from A to B, 1971, Bild: Superstudio

Multitude

Die Migrationsforscherin Naika Foroutan beschreibt in der Gesellschaft drei zentrale Prämissen der Demokratie: Gleichheit, Freiheit und Sicherheit. Diese werden nach Foroutan durch eine intersektionale Frequenz – die Pluralität – ergänzt. Pluralität erfordert ein Aufbrechen und eine Umstrukturierung dieser Trias, indem sie alle drei Säulen auf der sozialen und politischen Ebene durchwebt: Sie betont die Gleichbehandlung von Gleichheit und Differenz, integriert einen erweiterten Begriff von Freiheit und verankert die kritische Infragestellung von Grenzen.(3)

Mit einer Öffnung und Erweiterung politischer und gesellschaftlicher Klassifizierungen wie dieser kann der Grundstein für einen Paradigmenwechsel gelegt werden: die Gesellschaft in ihrer aktuellen Gesamtheit, ihrer Widersprüchlichkeit und Pluralität als unangefochtenen Ausgangspunkt für alle daraus resultierenden und darauf aufbauenden Handlungen zu betrachten. Es geht darum, die Beteiligung und Beiträge aller Personen anzuerkennen, die an der politischen, sozialen und physischen Gestaltung und Produktion von Raum beteiligt sind. Die daraus entstehende Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, und den Realitäten marginalisierter Gruppen, führt zu einer Dekonstruktion des Konzepts des Außenseiters. Dabei wird die Vielfalt als grundlegendes Selbstverständnis definiert, um eine gerechtere Umsetzung räumlicher Praktiken zu ermöglichen.

Die Stadt als geografische Entität bildet ein verdichtetes Aushandlungsfeld und einen Resonanzkörper für diese Spannungs- und Erkenntnisprozesse. In ihr spiegeln sich die evidenten, dystopischen und utopischen Facetten gesellschaftlicher sowie politischer Transformationen wider. Gleichzeitig kämpft sie mit dieser Bedeutungshoheit, denn sie erweist sich weder als solide noch flexibel genug, um der Geschwindigkeit und dem Anspruch des Wandels gerecht zu werden. Oftmals sind es zwischenmenschliche Strukturen, die dazu beitragen, diese Herausforderungen zu bewältigen: (Stadt-)politische Trägheit und Überforderung werden von solidarischen Zusammenschlüssen auf der Basis subsidiärer Kräfte kompensiert. Diese alternativen Infrastrukturen zeichnen sich durch ihre Agilität und zielgerichtete Reaktion auf Bedürfnisse aus und entfalten dabei eine erhebliche Hebelwirkung.

Die „Kraft des Widerstands“ und die „Macht der Sichtbarkeit“

Im Mittelpunkt dieser Ausgabe und des zugrundeliegenden 28. Berliner Gesprächs stehen zwei solcher Zusammenschlüsse solidarischer Kräfte, die sich zwar in Entstehungsmoment und Ausdrucksform unterscheiden, aber beide zunehmend Einfluss auf Zivilgesellschaft und Politik nehmen: die „Kraft des Widerstands“ und die „Macht der Sichtbarkeit“. Die Wahrnehmung einer kollektiven Ungerechtigkeit, die durch das hegemoniale System verursacht wird, kann zu einer starken solidarischen Gegenbewegung führen. Der Kulturphilosoph Gal Kirn attestiert widerständischen Bewegungen eine große Machtwirksamkeit und eine bedeutende Rolle in der Gesamtgesellschaft: Sie kritisieren die kapitalistische Produktionsweise und gehen gegen Herrschaftsformen vor, die diese fördern, wie etwa städtische Ausgrenzung und Segregation, (Post-)Kolonialismus, Repression und strukturellen Rassismus.(4) Im stadtpolitischen Kontext manifestiert sich Widerständigkeit in offensichtlichen Formen wie Besetzungen und öffentlichen Demonstrationen, aber auch impliziter in basisdemokratischen Beteiligungsprozessen, solidarischen Netzwerken und emanzipatorischen Räumen. Auf diese Weise werden wichtige Fundamente der Sichtbarkeit geschaffen, die unüberhörbar und unübersehbar einen Teil der politischen Stadtgestaltung für sich beanspruchen.

Ein weiterer effektiver Ansatz zur Förderung öffentlicher Wahrnehmung besteht darin, verborgene Strukturen offenzulegen. Denn erst wenn etwas sichtbar und ästhetisch erfasst wird, können darüber Verhandlungen geführt werden. Jacques Rancière argumentiert, dass das Politische bereits vor dem Erscheinen des sichtbaren Objekts beginnt, da politischer Einfluss darüber entscheidet, was, wann und wie dargestellt wird.(5) Ästhetik und Politik sind somit inhärent miteinander verbunden, was die Bedeutung einer unabhängigen Repräsentation unterstreicht. Im städtischen Raum tragen Maßnahmen wie die Hervorhebung materieller und immaterieller Spuren, die Aufdeckung postkolonialer Vermächtnisse und die wirkungsvolle Inszenierung kritisch-künstlerischer Performances dazu bei, kritische und vulnerable Punkte zu identifizieren und zu benennen. Durch die Kraft dieser solidarischen Handlungen werden Identifikations- und Aufklärungsprozesse angestoßen, deren Anliegen bis in die politische Entscheidungsebene gelangen können.

Solidarität

Aber auch Solidarität als gesellschaftlicher – und so auch kontextabhängiger – Nexus ist immer wieder neu zu betrachten und zu verhandeln. Sie hat ihren etymologischen Ursprung in der Beschreibung von Verdichtung und Zusammenhalt und wurde im Laufe der Zeit zunehmend als Gefühl von Verbundenheit und gegenseitiger Hilfsbereitschaft verstanden. Dieses Konzept begreifen wir heute als solidarisches Agieren und ordnen dementsprechend Haltungen und Handlungen ein. Schwierig wird es, wenn Identität und soziale Bindungen ausgrenzend interpretiert werden und die daraus resultierenden Machthierarchien zu einer diametralen Bewegung führen: Man solidarisiert sich gegeneinander oder verfällt in eine paternalistische Position.

Zudem ist Solidarität oft zerbrechlich und flüchtig. Bruno Latour unterstreicht, dass „die gemeinsame Welt aus völlig heterogenen Teilen zusammengesetzt ist, die niemals ein Ganzes bilden, sondern bestenfalls ein fragiles, revidierbares und vielfältiges Kompositum.“(6) Da diese kontinuierlich sich wandelnde Zusammenstellung also niemals den Anspruch auf absolute Ganzheit erhebt, ist es umso wichtiger, mit erhöhter Aufmerksamkeit und Sorgfalt die bestehenden und entstehenden solidarischen Strukturen als Verbundmaterial zu erkennen und zu pflegen.

Here we are near there

„Here we are near there“, eine Zeile aus einem Gedicht von dem palästinänsischen Dichter Mahmoud Darwish, beschreibt die Suche nach emotionaler und geografischer Zugehörigkeit sowie die Ambivalenz mehrerer Identitäten, die mit einer migrantischen Perspektive einhergehen. Der aktuelle Diskurs ist geprägt vom Bewusstsein, dass demokratische Zugänge und Partizipation für vulnerable und marginalisierte Gruppen auf der Entscheidungsebene über die gebaute Umwelt nicht selbstverständlich sind. Die Bedeutung von Architektur und Städtebau als gestaltende und verbindende Elemente ist dabei enorm: Sie bergen ein hohes solidarisches Potenzial und können in vielerlei Hinsicht Antworten geben und Anregungen liefern – die Kraft der Sichtbarkeit und die Macht des Widerstands haben dazu bereits wichtige Impulse gesetzt.

Dipl. Ing. (arch), M.A. Alesa Mustar ist studierte Architektin und Kuratorin mit dem Schwerpunkt Krisengeografien und Soziales Design. Sie leitet zusammen mit Laura Holzberg das Deutsche Architektur Zentrum DAZ in Berlin. Gemeinsam haben sie das 28. Berliner Gespräch 2023 konzipiert.

Fußnoten

1 https://designaftercapitalism.org/superstudio, zuletzt aufgerufen am 12. Dezember 2023.

2 Vgl. Daniel Kiss, Simon Kretz (Hrsg.), Relational Theories Of Urban Form. An Anthology, 1. Aufl., Basel, Birkhäuser Verlag, 2021, S. 20f.

3 Vgl. Naika Foroutan, Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie, 1. Aufl., Bielefeld, transcript Verlag 2019, S. 216f.

4 Vgl. Natasha Ginwala, Gal Kirn, Niloufar Tajeri (Hrsg.), Nights of the Dispossed. Riots Unbound, 1. Aufl., New York, Columbia University Press: 2021, S. 24f.

5 Vgl. Maria Muhle, Jacques Rancière. Für eine Politik des Erscheinens, in: Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart, 2. Aufl., Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien, 2011, S. 311f.

6 Bruno Latour, An Attempt at a „Compositionist Manifesto“, 1. Aufl., Mexiko-Stadt, Gato Negro Ediciones, 2016, S. 13.

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