Raumpolitische Betrachtungen am Bosporus

Von Gecekondu zu Gezi

Orhan Esen greift in seinem Beitrag beispielhaft zentrale Phänomene und Ereignisse der jüngeren urbanen Entwicklung Istanbuls heraus – ausgehend von drei raumpolitischen Erzählungen über Solidarität, Widerstand und Aufstand, die die Stadt von 1945 bis heute geprägt haben. Vom informellen Gecekondu-Modell über den Widerstand gegen die „urbane Transformation” bis hin zum Kampf um den Taksim-Platz, spiegeln diese Geschichten zugleich gesellschaftliche Fronten und Verflechtungen wider und offenbaren, wie sich politische und gesellschaftliche Entwicklungen im Stadtbild Istanbuls manifestieren.

Drei Erzählungen aus der raumpolitischen Geschichte Istanbuls können mit den drei Stichwörtern in Zusammenhang gebracht werden, die im Fokus dieser Ausgabe stehen: Solidarität, Widerstand, Aufstand.

Die erste Erzählung betrifft die Gecekondu: Sind sie über Nacht gelandet wie Zugvögel, oder hat eine unsichtbare Hand jene Häuser dort hingestellt? Gece bedeutet „Nacht“, kondu dagegen ist zweideutig; die Wortzusammensetzung Gecekondu ist eine kreative Wortschöpfung anatolischer Bauern für ihre ephemeren Siedlungen in der neuen urbanen Heimat, wohin sie ab 1945 als Arbeiter auswanderten. „Wir wachten auf, siehe: unsere Häuser waren schon da… Welch Wunder!“ Die historische Praxis des ursprünglichen Gecekondu in Istanbul erhielt 1985 einen offiziellen Gnadenschuss und wurde bald auch eigenhändig ausgetilgt. Die Legende wanderte jedoch aus und ist gerade in Berlin zu einem Sinnbild von Solidarität in der Raumproduktion avanciert. Seine Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum ist ein multi-dimensionales Thema, das eine eigene Forschung wert ist.(1) Das Nachleben des Phänomens in seiner Urheimat Istanbul ist weniger glücklich ausgefallen. Wenn es überhaupt noch Erwähnung findet, dann nur noch im Zusammenhang mit der pejorativen Floskel „çarpık kentleşme“: „entartete Urbanisierung“.

Die zweite Erzählung: Der seit etwa 2005 anhaltende Widerstand Istanbuler Stadtteilinitiativen gegen das offizielle Programm der „Urbanen Transformation“ nimmt in der öffentlichen Debatte einen relevanten Platz ein. Der Istanbuler Prozess wurde in den 2000er-Jahren in deutschen, vor allen aber in den Berliner Medien, den Akademien und der Kunstpraxis verfolgt, rezipiert und bearbeitet. Stadtteile wie Sulukule oder Tarlabaşı könnten hiesigen Ohren vertraut klingen. Das Gecekondu existierte da zwar nicht mehr, dafür lief die Auseinandersetzung um den Wohnraum auf dem einstigen Gecekondu-Territorium weiter. Zugleich passte dieser Widerstand in den globalen Kontext des Rechts auf Wohnraum im neoliberalen Zeitalter.

Die dritte Erzählung: Der Taksim-Platz wurde im Zusammenhang mit dem Gezi-Aufstand Juni 2013 zum festen Bestandteil der Geschichtsschreibung jener Epoche, gemeinsam mit Tahrir (Kairo) und Maidan (Kiew).(2) Der Aufstand wurde durch die Debatte um das „Recht auf Stadt“ ausgelöst: Die Aufständischen waren der Überzeugung, dass eine Parkanlage (Gezi) am symbolträchtigen Stadtzentrum (Taksim-Platz) kurz davor stand, einer Shopping-Mall zu weichen. Der Aufstand war medial äußerst wirksam, verstand und inszenierte sich selbst als social media event; seine internationale, und damit auch die Berliner Rezeption, ging weit über die Fachkreise hinaus und errang epochalen Stellenwert.

Willkommenskultur im Geist der 1960er-Jahre: Wandmosaik von Eren Eyüpoglu am IMÇ-Gebäude. Stilistisch erinnert das Bild an byzantinische Ikonen. Der goldene Hintergrund bettet die abgebildeten Bäuerinnen, die mit Kind und Kegel auswandern, in einen heilsgeschichtlichen Kontext ein: Sie werden zu Heiligen, die Jahrtausende alte Schätze, Weisheit und Kindersegen aus Anatolien – dem Lande im Osten – in die Stadt bringen. Foto: www.imc.org.tr

Die drei Geschichten, die sich vielfältig überlagern und überschneiden, sind durch Strukturen, Traditionen und Biographien von 1945 bis heute miteinander verwoben. Viele Mitwirkende und Aktivisten des Widerstands in den Stadtteilen waren im gleichzeitigen Gezi-Aufstand persönlich involviert. Mobilisationsversuche im Milieu der Stadtteilinitiativen sind verzeichnet. Jedoch war die vielleicht wirksamste soziale Bewegung jener Zeit – die für den Wohnraum – am Taksim-Platz nicht eigenständig präsent: Leider waren die von der urbanen Transformation bedrohten Bewohner nicht als Kollektiv mit ihren Stadtteilbannern sichtbar. Selbst die Fans diverser Fußballvereine waren um Sichtbarkeit bemüht. Ein diskursiver Dialog der beiden Sphären kam kaum zustande, obwohl es beiden Bewegungen um die Raumpolitik ging. Der aktuelle Widerstand um den Wohnraum und der Aufstand am Taksim berührten sich konzeptionell kaum. Die geistige Kluft wurde auch heute, ein Jahrzehnt danach, nicht bearbeitet und überbrückt. Der soziale Widerstand und der aktivistische Aufstand gingen aneinander vorbei; sie hatten kein Gehör füreinander, selbst wenn die personelle Überschneidung beträchtlich war. Die bis heute anhaltende schizophrene Lähmung der politischen Opposition wird daran ablesbar. Der Gezi-Aufstand (2013) spielte sich in der symbolischen Sphäre der Politik ab, wo identitäre Konzepte vorherrschen. Die Stadtteilpolitik wird grundsätzlich der wirtschaftlichen Domäne zugeordnet. Es herrschen in sozialer Hinsicht jeweils derart unterschiedliche Allianzen, dass rein aktivistische Ansätze nicht imstande sind, sie zu überbrücken. Ein neuer politischer Ansatz ist nötig, der nicht nur in der Türkei von heute fehlt. Es lässt sich vorstellen, welches transformative Potenzial sich aus dem Dialog der Bereiche entfalten könnte. Im Folgenden soll die Genese der politiklähmenden sozialen Kluft in ihren historischen Etappen analysiert werden.

Das Gecekondu

Das Gecekondu, eine temporäre Wohnpraxis am Stadtrand, ermöglichte ursprünglich die sanfte Integration bäuerlicher Gemeinden in die Stadtgesellschaft. Sie sollte die demographische Grundlage einer Industrienation gewährleisten, ohne das Risiko des aus der westlichen Geschichte her bekannt-berüchtigten Klassenkampfes einzugehen. Die bäuerliche Bevölkerung wurde ermutigt, gemeinschaftlich in die Stadt umzuziehen: Ohne enclosures und Enteignungen auf dem Lande, dafür im Kollektiv, gesegnet mit der Ressource des urbanen Landes im öffentlichen Besitz. Sie durften ihre urbanen Siedlungen ohne bürokratische und technische Auflagen bauen.(3)

Das Gecekondu-Modell war illegal, doch funktionierte es zugunsten der Beteiligten. Migranten, ihre Arbeitgeber, Politiker und die eingesessene Mittelklasse hatten ökonomische, politische und soziale Vorteile. Es herrschte eine Willkommenskultur vor – in den Neuankömmlingen sah man eher eine Bereicherung als eine Bedrohung. Das Illegale war durch gesellschaftlichen Konsens legitimiert.

Kollektives Handeln in ländlichen Gemeinden ist eher eine Ausnahme: In Gegenden Anatoliens aber hatte das sogenannte Imece, die kollektive Erntearbeit, als Relikt überlebt: Ihr kurzlebiges Revival im Gecekondu-Aufbau ist sicherlich kein Format der Solidarität im Kontext der modernen Klassengesellschaft, selbst wenn die Epoche und der soziopolitische Rahmen passen. Das Imece in der Gecekondu-Praxis fand jedoch Eingang in die sozialwissenschaftliche Literatur und hat sich hierin verselbständigt, führte fortan ein begriffliches Eigenleben, und wanderte aus. Währenddessen setzten sich das urbane Leben und die real-existierende Stadtproduktion Istanbuls bereits auf sichtlich unterschiedlichen Gleisen fort.

Gecekondu-Bau „in imece“, Istanbul, vermutlich 1960er-Jahre, Foto: Cumhuriyet Archiv

Die Disziplinen Planung und Architektur brachten sich in diesen nationalen Konsens nicht ein: Durch die Tendenz der Politik, Urbanisierungskosten zu senken, waren sie aus dem Prozess ausgeschlossen. Was gebaut wurde, stand nicht im Lehrbuch. „Barfußarchitekten“, wie es sie in den Vereinigten Staaten gab, blieben im deutsch-französisch geprägten akademischen Milieu aus. Bereits in den 1970er-Jahren wurde der Begriff der „entarteten Urbanisierung“ artikuliert. Im 21. Jahrhundert sollte dieser in den gängigen Diskurs der Baubranche Eingang finden. Diese Sichtweise, die in jeglicher Manifestation der Informalität vornehmlich ein Problem zu erkennen glaubt, hat sich im türkischen Architektur- und Planungsdiskurs nachhaltig verfestigt. Dass Informalität auch problemlösende Aspekte mit sich bringt, findet im akademischen Kontext, wenn überhaupt, nur marginale Erwähnung.

Die größte Sichtbarkeit in der politischen Arena wurde den Gecekondu-Bewohnern zuteil, als sie als Gewerkschaftsmitglieder am 15. und 16. Juni 1970 zu Hunderttausenden auf die Straße gingen und die Metropole lähmten: Ausnahmezustand und Militäreinsatz waren die Folge. Es gab nur geringes Blutvergießen, jedoch eine traumatische Zäsur mit nachhaltigen Schockwellen: Die kommendem Jahre würden unter diesem Vorzeichen stehen und zum Militärputsch von 1980 führen.

Populistischer Neoliberalismus und eine neue Mittelklasse

Bei der Generalamnestie 1985 wurden die Gecekondus ins Grundbuch eingetragen. Das Modell des populistischen Neoliberalismus entstand. Das klingt nicht nur nach Oxymoron – es ist tatsächlich eines. Aber das sollte erst zwei Jahrzehnte beziehungsweise ein Erdbeben später ersichtlich werden. Binnen weniger Jahre wurde das Gecekondu als gebaute urbane Realität fast restlos ausgelöscht. Denn nun konnte man sein Grundstück – ohne Planungsgrundlage und Bauaufsicht – nachverdichten. Das schützte die migrantische Bevölkerung vor der Inflation; zu Zeiten intensivster Einwanderung wurde bezahlbarer Wohnraum produziert: Das erfolgreiche Ankommen der Migranten in der Stadtgesellschaft wurde gewährleistet.(4) Die Neuauflage der Legitimität des Illegalen stand jedoch diesmal auf wackeligen Füßen. Der ‘68er-Gecekondu-Konsens war Geschichte, das Post-Gecekondu spaltete und polarisierte die Gesellschaft:

Die Profis und Macher der Stadtproduktion sahen sich hinsichtlich der „entarteten Urbanisierung“ selbstgefällig bestätigt und hielten sich weiterhin raus. Das neue informelle Bauen war nicht mehr von kollektivem Imece (gemeinschaftlichem Handeln) geprägt. Der populistische Neoliberalismus transformierte migrantische Haushalte zu Monopolyspielern im Wettbewerb. Als Schicht jedoch stiegen sie auf und bildeten eine neue Mittelklasse.

Die alte Mittelklasse, gefangen in ihrer formalen Stadt mit Regeln und Grenzen, konnte nicht mit einem vergleichbaren wirtschaftlichen Potenzial aufwarten. Machtlos musste sie zusehen, wie die Neuankömmlinge zu neuen Stadtvätern aufstiegen. Als Reaktion darauf wechselten sie die Front und errichteten einen Diskurs der Ausgrenzung. Das große Geld erkannte die „Stadt als Beute“, konnte jedoch vorerst auf andere Ressourcen zugreifen. In den Jahren 1985 bis 1999 entstand eine duale Stadtentwicklung mit zwei dynamischen Akteuren, die im 21. Jahrhundert aufeinanderprallen sollten – und das mit großer Wucht. Das politische Establishment konnte sich auch dank des informellen Nachverdichtungssektors weiterhin über Wasser halten. Der Fiskus blieb in Bezug auf die Wohnraumversorgung unbelastet.

Die Rivalität der beiden Mittelklassen, der alten und der neuen, sollte fortan das politische Geschick des Landes bestimmen – bis heute und scheinbar auch in absehbarer Zukunft. Sie wurde von beiden Parteien als identitärer Kulturkampf wahrgenommen und im politischen Reflexionsraum ausgetragen. Nach dem Putsch von 1980, typisch für den Kalten Krieg, wurde der Islam als eine Art Ersatz-Linke hofiert. Die bauliche Transformation von Gecekondu zu Post-Gecekondu vollzog sich politisch als Abkehr von Sozialdemokratie in Richtung Islamismus. Der ‘68er’-Pakt war zerfallen, die alteingesessene Mittelklasse igelte sich ein, verfiel in eine zusehends islamophobe und identitäre Symbolpolitik, die sie für progressiv hielt.(5)

Zusammenbruch

Beim verheerenden Marmara-Erdbeben am 17. August 1999 stürzte das politische Establishment gemeinsam mit seinem System des Bauens ein. Das Krisenland wurde für vier Jahre heruntergefahren, alle fünf Parteien wurden abgewählt, drei Neue zogen ein. Eine neue Partei mit islamischer Tradition kam als Statthalter für den zusammengebrochenen Liberalismus an die Macht und dockte das Land Richtung EU an.

Erdbeben von Gölcük, 1999, Avcılar, Istanbul, Foto: Cumhuriyet Archiv

Die Gesellschaft hatte sich eigenhändig aus den Trümmern gezogen und den Wiederaufbau begonnen: So markierte der politisch-bauliche Generalstillstand von vier Jahren die Geburtsstunde einer aktivistischen Zivilgesellschaft, die sich durch ihre starke Legitimität auszeichnete. Die Wurzeln dieser Bewegung reichten bis in die 1980er- und 1990er-Jahre zurück und kulminierten schließlich im Gezi-Aufstand von 2013. Der Mainstream dieser Zivilgesellschaft lässt sich am treffendsten durch ihre Multipolarität charakterisieren: ihre Stärke und Schwäche zugleich. Im Selbstverständnis ist sie tendenziell anti-kapitalistisch, jedoch sozial in der alteingesessenen Mittelklasse verwurzelt und affin zu deren Werten. Einzelne Individuen und Gruppierungen legen in ihren Handlungen eine breite Spanne von extremem Dogmatismus bis hin zu sehr pragmatischen Ansätzen an den Tag, was sich gerade im kritischen Bereich der Inklusion versus Exklusion bemerkbar macht. Einerseits sind sie von den republikanischen Traditionen und Werten ihres sozialen Umfelds geprägt, der gerne Distanzen aufbaut, andererseits manifestiert sich in ihrer Projektpraxis eine herzliche Philanthropie, wenn sie intuitiv dem Motto „Wir liegen alle unter denselben Trümmern“ folgt.

Eigentumsrecycling und Finanzialisierung

Die populistische Komponente des neoliberalen Projekts wird nach 2003 umdefiniert. Die Ermächtigung zum Selbstbau wird beendet und durch staatliche Transferleistungen ersetzt. Zur Legitimation werden Diskurse der Umverteilung aus islamischer Tradition herangezogen; sie sollen die Wählerbasis sichern. Die Koexistenz der zwei Entwicklungsdynamiken zwischen 1985 und 1999, das Post-Gecekondu und die Immobilienbranche, kommt zum Ende. Große Flächen für Projektentwicklungen sind rar geworden, ein neues legales Mittel (das Gesetz 6306, siehe Nachwort) ermöglicht es, auf informell bebauten Flächen – wegen Erdbebenrisiken – potenziell Tabula rasa zu machen. Die neuen Stadtmacher sind an nachhaltiger Transformation tatsächlich gefährdeter Gebiete jedoch gar nicht interessiert: Zu offensichtlich stürzen sie sich auf Orte mit Renditevorteilen. Gebiete mit guten geologischen Verhältnissen und solider Bausubstanz werden für Flächensanierungen ausgewiesen, während an real bedrohten Orten ohne Standortvorteile nichts geschieht.

Von Gecekondu zu Post-Gecekondu: informelle Nachverdichtung, um 1990, Foto: Orhan Esen

Es entsteht ein Regime des „Eigentumrecyclings“, bei dem das Eigentum zweiter Klasse – zumeist Bauten informellen Hintergrunds – zunächst aus vermeintlich öffentlichem Interesse zwangsenteignet, neu entwickelt und neu gebaut, und anschließend an den ursprünglichen Eigentümer rückverkauft wird. In einer Stadt, in der etwa zwei Drittel der Haushalte Wohneigentümer sind, und somit ein großer Teil der unteren Mittelschicht betroffen ist, ist diese Politik ein hartes Beispiel neoliberaler Finanzialisierung des Wohnens.

Der zivilgesellschaftliche Aktivismus erkannte in den ungerechten Praktiken der urbanen Transformation ein Interventionsfeld und solidarisierte sich mit den Stadtteilinitiativen. Pragmatische Hands-on-Arbeit und Wissenstransfer halfen dabei, Kapazitäten auszubauen und ermöglichten größere Sichtbarkeit. Gelesen wurde dies von beiden Seiten als gesellschaftliche Soli-Arbeit. Als politische Arbeit konnte es dagegen nicht verstanden werden: Das Aktionsfeld Politik wurde seit dem Putsch von 1980 auf symbolische Identitätspolitik eingeengt. Eine Zusammenarbeit auf Stadtteilebene war nur unter Ausschluss der heiklen politischen Fragen zur Identität möglich. Das kritische Thema der Wohnraumversorgung wird somit erfolgreich aus der Domäne der Basispolitik herausgenommen und der Sphäre der Philanthropie, der technischen Gesellschaftsarbeit, zugewiesen.

Taksim

Die Bürgerinitiative Taksim Platformu entstand im Januar 2012, als eine Top-down-Planung am Taksim-Platz verkündet wurde: Ein tangierender Autotunnel und die Rekonstruktion der vor 72 Jahren abgetragenen barocken Kaserne auf dem angrenzenden Gezi-Park sollten entstehen. Vom Ausbau der Automobilität hielt die Bürgerinitiative genauso wenig wie von der Abschaffung des Parks zugunsten einer historisierenden Disneyland-Fantasie mit politischer Aussage – angeregt nicht zuletzt durch das Berliner Vorbild der Schlossrekonstruktion.

Doch der Bürgerinitiative ging es primär um eine partizipative Planungsmethodologie: Die Kampagne basierte auf entsprechenden Motti: „Taksim verdient ein besseres Projekt!“ und „Taksim gehört uns allen!“. Es war ein Aufruf zur öffentlichen Verhandlung an die Vertreter der ideologischen Gegenpole, die durch symbolisches (Nicht-)Bauen eine eigene Sichtbarkeit am zentralen Ort festschreiben wollten. Der Neubau einer Moschee sowie die Zukunft des Opernhauses am Platz schwangen zwischen den Zeilen mit. Taksim ist, wo die Verfassung der Nation in den Stein gemeißelt wird.

Graffiti „Taksim gehört uns“, Foto: Archiv

„Taksim gehört uns allen!“, Logo der Kampagne der Bürgerinitiative Taksim Platformu, 2012/13

Neun Monate Kampagne mit Infostand, Unterschriften, Presse, Panels und diverser Parkbespielung, lassen die Regierung jedoch unbeeindruckt. Am 5. November 2012 beginnt der Tunnelbau. Die Bürgerinitiative wechselt die Strategie: Der Fokus wird – nunmehr erfolgreich – auf den Verlust des Parks verlegt. Im folgenden April gibt es beim Gezi-Festival eine fünfstellige Besucherzahl. Ende Mai sind knapp 400 Meter Autotunnel fast fertiggestellt: Der Versuch, den Parkrand für Verkehrsfläche zu schleifen, wird verhindert – spontan entsteht ein öko-aktivistisches Wache-Lager. Die polizeiliche Brandstiftung der Zelte in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai löst die dritte Welle des Protests aus – die jüngste, zahlreichste, politisch unerfahrenste und erfolgreichste der insgesamt vier Wellen brach sich Bahn: Eine sechsstellige Zahl von Schülerinnen und Schülern, die der Gängelung durch die Älteren überdrüssig sind, geht mitten in der Nacht auf die Straße. Laut Umfragen war die überwältigende Mehrheit noch nie politisch tätig, noch nicht einmal online. Sie empfinden die Forderung Erdoğans, dass jeder drei Kinder bekommen solle, als absurd. Die kollektive Unerfahrenheit mit Staatsgewalt einer wohlbehütet und antiautoritär erzogenen Generation ist der Ursprung ihres ungezügelten und unschuldigen Mutes, der zugleich der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist. Durch ihre große Anzahl vertreiben sie die Baufirma und die Polizei, und sie „erobern“ Taksim.

Die kampferprobte und erfahrene, politisch-aktivistische Schicht tritt unverzüglich als die vierte Welle auf: Sie ordnet den Raum, organisiert das Leben, schafft Sicherheit und baut Netzwerke auf. Vor allem aber schaffen sie Diskurse und benennen die Dinge: Wir sind in der Kommune von Taksim. Kilometerweit errichtete Barrikaden sorgen dafür, dass Autos, uniformierte Sicherheitskräfte und Geld nicht eindringen können. Metropolenweite Solidaritätsnetzwerke entstehen, die die Kommune zwei Wochen lang aufrechterhalten. Die Vielzahl der weltanschaulichen Ausrichtungen ist kaum überschaubar. Das Format einer politischen Messe mit spezifischen Arealen wie Volksküche, Lazarett, Kindertagesstätte, Bibliothek, Solarpanels zum Handyaufladen, Anbaufläche, Bühnen, Foren entstehen. Zwei unterschiedliche Domänen kristallisieren sich heraus: Im Gezi-Park ist der vorherrschende Ton pragmatisch-zivil, während es auf dem Taksim-Platz politischer und ideologisch ernsthafter zugeht. Die klassisch-säkulare Identitätspolitik gibt schließlich den maximalistischen Ton an: Taksim gehört uns! Erdoğan soll zurücktreten!

Die Geschichte, die im überschaubaren Zirkel einer undogmatischen Bürgerinitiative mit einem Vorschlag der Verhandlung („Taksim gehört allen!“) begann, endet im Rahmen einer schwer überschaubaren Massendynamik in einem Aufruf der Ausgrenzung: „Taksim gehört uns!“ Für beide Motti sind unterschiedliche Lesarten möglich. Die offizielle Chronik der Revolution wird durch letzteres dominiert. Die Mehrheit der Mittelschicht mit Migrationshintergrund bleibt jedoch zu Hause. Sie verharren in ihren Wohnungen, die sie jeden Moment durch einen Akt der urbanen Transformation verlieren könnten. Sie schauen Regierungsfernsehen und hören mit gemischten Gefühlen ihrem Helden Erdoğan zu, der ihnen Existenzangst einredet: „Die Chaoten möchten uns, die schwarzen Türken, austilgen“. In den Nachrichten erkennen sie unter den Protestierenden vertraute Gesichter, die ihrer Stadtteilinitiative so herzlich beiseite stehen.

Die urbane Transformation: Post-Gecekonduflächen, die potentiell abgerissen und für neue Großprojekte genutzt werden können, West-Istanbul um 2020, Foto: Ömer Kanıpak

Gewaltsame Auflösung

Erdoğan nimmt die Herausforderung nur zu gerne an. Die Occupy-Bewegung wird am 15. Juni 2013 gewaltsam aufgelöst, dem Jahrestag des Arbeiteraufstands von 1970, obwohl eine friedliche Räumung und der Erhalt eines Informationszeltes vereinbart waren. Dies markiert den Beginn der weltweiten Welle des autoritären Populismus, begleitet von der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaften. In einer Erdrutschwahl verliert Erdoğan die Bürgermeisterwahlen von Istanbul 2018 mit fast einer Million Stimmen Unterschied an die Opposition. Es scheint, als hätten die vermeintlich verwirrten TV-Zuschauer von 2013 bei den Lokalwahlen anders gewählt als bei den Nationalwahlen. Die Revanche wird kommen: im März 2024.

Was die Taksim-Gestaltung betrifft: Die historisierende Kaserne am Taksim wird vorerst auf Eis gelegt, ist jedoch nicht offiziell vom Tisch. Je nach Perspektive war sie ein Ersatz, ein Kompromiss oder ein Verhandlungsobjekt für die Taksim-Moschee, die bereits gebaut wurde. Das Atatürk-Kulturzentrum (die Oper) wird neu gebaut: Nach innerstaatlichen Verhandlungen entsteht ein symbolisches Kompromissobjekt, das die Fassade und Kubatur des abgerissenen Nachkriegsmoderne-Gebäudes nachempfindet. Die Umsetzung des vom oppositionellen Bürgermeister ausgelobten Städtebauwettbewerbs Taksim-Gezi wird durch die Enteignung der Stadt Istanbul verhindert. Der Gezi-Park gehört nun einer regierungsnahen religiösen Stiftung.

Nachwort

Im November 2023 ergab sich mit der radikalen Verschärfung des Urbanen Transformationgesetzes 6306 eine neue Situation und gleichsam legale Katastrophe: Nunmehr könnte potenziell jeder occupier-owner-Haushalt, also zwei Drittel aller Haushalte Istanbuls und über vier Fünftel der Türkei insgesamt, ohne Berücksichtigung der Entwicklung der Immobilie sehr kurzfristig und ohne legalen Schutz enteignet und samt der Mieter vertrieben werden. Sämtliche Unterschiede zwischen einst informellem und immer formellem Eigentum werden seitdem verwischt. Die kleinen Wohneigentümer und ihre Mieter werden gegen die Großkonzerne des Bausektors gestellt. Just während der Redaktion dieses Textes im Januar 2024 ist ein neues Wohnrechtsbündnis im Entstehen, das die Leute jenseits ihrer identitären Sorgen an sich binden könnte. Der Autor bewertet diese neue Entwicklung mit leichten Vorbehalten als positiv.

Orhan Esen ist historischer Urbanist und stadtpolitischer Aktivist in Berlin und Istanbul. Er arbeitet als freiberuflicher Kulturschaffender, Forscher, Autor und Leiter von Bildungsreisen. Und: Er ist ein leidenschaftlicher Istanbuler mit Wohnsitz in Berlin. Er studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Kunst- und Architekturgeschichte in Istanbul und Wien. Nach dem Abbruch seiner Promotion an der Schnittstelle von Politologie, Theologie und Archäologie, widmete er sich der freien Wissensvermittlung. Sein thematischer Schwerpunkt liegt in der historischen Urbanistik seiner beiden Städte, die er als politischen Städtebauprozess versteht. Bedingt durch seine Auswanderung in jüngster Vergangenheit hat er sich von seinen zivilgesellschaftlichen und stadtpolitischen Engagements etwas zurückgezogen, bleibt jedoch weiterhin ein kritischer Beobachter. Neben zahlreichen Beiträgen zu Sammelbänden und Periodika ist Orhan Esen Co-Autor und Mitherausgeber von „Istanbul: Self Service City“.

Fußnoten

1 Im Workshop „Die Kreuzberger Agenda für das absente Monument: Ein transdisziplinärer Workshop“, November 2022, gefördert durch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg, haben wir den ersten Schritt unternommen, das Material zu sammeln.

2 Orhan Esen, Taksim or writing a constitution through an urban space, Ausstellungskatalog „Istanbul. Passion, Joy, Fury“, Maxxi, Rom 2016.

3 Orhan Esen, Learning from Istanbul, Einleitung zu „Istanbul. Self Service City“, Esen u. Lanz (Hrsg.), metro_zones 2005.

4 Orhan Esen, A retrospective survey of self service production of the built environment and public space in Istanbul, in: E. Guidi (Hrsg.), Urban Makers: Parallel Narratives on Grassroots Practices and Tensions, Berlin 2008.

5 Orhan Esen, Seiltänze des Mittelstands in der sich spaltenden Stadt Istanbul, in: Derive Nr. 40 / 41, Understanding Stadtforschung, (3 – 4 / 2010).

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