Houston, we have a problem

Komplexe Dynamik

Die Umsetzung des Green Enterprise District London
Von Raoul Bunschoten

Mit dem Jahresthema „Kulisse und Substanz“ nimmt der BDA sich 2019 verstärkt den drängenden Fragen rund um den Themencluster Ökologie und Verantwortung an. Dabei steht die Diskussion im Vordergrund, welche Maßnahmen uns substanziell dabei helfen können, die Effekte des Klimawandels zu gestalten, und welche Eingriffe, Postulate oder Moden nur Kulisse bleiben. Bereits vor zehn Jahren haben zahlreiche Verbände – darunter auch der BDA – das Klimamanifest „Vernunft für die Welt“ verfasst und damit auch eine Selbstverpflichtung kundgetan, sich für eine Architektur und Ingenieurbaukunst einzusetzen, „deren besondere Qualität gleichermaßen durch funktionale, ästhetische und ökologische Aspekte bestimmt wird“. Auch der diesjährige BDA-Tag in Halle an der Saale wird sich am 25. Mai dem Thema annehmen und einmal mehr ein ökologisch-gesellschaftliches Umdenken anregen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Texte und Gespräche erneut, die seit der Publikation des Klimamanifests erschienen sind.

Der Architekt und Stadtplaner Raoul Bunschoten stellt in seinem Beitrag die Entwicklung eines sogenannten Inkubators anhand eines Gebiets im Osten Londons vor. Sein Bericht gründet sich auf ähnliche Erfahrungen, die der Niederländer im Rahmen des Wettbewerbs zur Zukunft des Tempelhofer Felds in Berlin gesammelt hat. Bunschoten ist sich der Komplexität des Themas bewusst und will daher gar nicht erst die Illusion erwecken, dass ein CO2-freier Stadtbezirk heute bereits möglich wäre, sondern vielmehr für den Zusammenklang vieler kleiner Verbesserungen sensibilisieren.

Eine der ersten umfassenden Studien für einen Bezirk, der sich nicht nur die CO2-reduzierte Stadtentwicklung, sondern auch die Entwicklung einer Wirtschaftzone für grüne Industrie zum Ziel macht, ist der GED oder Green Enterprise District London.
Die Studie wurde von der London Development Agency (LDA) und Design for London (DfL) in Auftrag gegeben. Dem Konsortium, das von East landscape architecture and urban planning geleitet wurde, gehörten CHORA, das Büro Happold, GVA Grimley, Locum Event Kulturplaner, die Architekten Dow Jones und Sergison Bates sowie Polymekanos als Graphikberater an.

Die Machbarkeitsstudie konzentrierte sich auf ein Gebiet im Osten Londons, das zwischen dem Lea Valley im Westen und den Rainham Marshes im Osten liegt. Das etwa 48 Quadratkilometer große Areal umfasst neben einigen urbanen Gebieten wie Beckton und Canning Town auch brach liegende Industrieflächen und das komplette Areal der Olympischen Sommerspiele 2012 sowie fragile Naturlandschaften im Osten. Das Gebiet liegt im Herzen des Thames Gateway, dem riesigen Mündungsgebiet der Themse – einem natürlichen Inkubator für viele Lebewesen der Nordsee, historisches Gelände innovativer Industrie zu Zeiten des britischen Empire, und der London Docks, die einst größte Hafenanlage der Welt.

Lageplan des Green Energy District,
Abb.: CHORA

Kurz vor unserer Studie wurde eine von Ernst & Young durchgeführte Untersuchung zu den wirtschaftlichen Aussichten für CO2-mindernde Richtlinien und die Förderung grüner Industrie in London veröffentlicht. Daher konnten wir wirtschaftliche Prognosen und Visionen für die Planung eines solchen Gebiets kombinieren. Kernfragen waren die Definition eines Green District und die Möglichkeiten seiner Planung. Im Abschlussbericht schlagen wir eine Reihe Themen vor, die die Planung strukturieren – vom Vermächtnis der Olympischen Spiele bis zur Nachrüstung im großen Maßstab. Diese Themen und ihre schrittweise Umsetzung wurden in Treffen mit tatsächlichen und potentiellen Interessenvertretern getestet und führten zum Vorschlag einer taskforce, die den Planungsprozess lenkt und einen etappenbasierten Aktionsplan erstellt.

Die taskforce, gleichzeitig Betriebsleitung/Direktion und Kurator, entsteht in kleinem Maßstab und löst sich auf, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, statt de facto eine neue Autorität zu werden. Als Kurator beobachtet sie Ereignisse und Entstehendes im Gebiet und darüber hinaus – und wählt diejenigen aus, die für den Plan notwendig oder geeignet sind, um sie miteinander, mit den Themen und den Akteuren zu verknüpfen.

CHORA war Teil des ursprünglichen Konzeptteams, organisierte Treffen der Interessenvertreter und verband sie mit dem entstehenden taskforce-Konzept und den Themen, und entwickelte zwei Pilotprojekte innerhalb eines Themas. East landscape architecture and urban planning arbeitete am Gesamtplan und der Gruppenkoordination, das Büro Happold an Infrastruktur und Energieeffizienz, GVA Grimley an der wirtschaftlichen Analyse und der taskforce, und die anderen Teilnehmer an Pilotprojekten, Eventplanung und Graphik. Der Umfang des Teams macht deutlich, welche Bandbreite an Fachkompetenz für die Erstellung einer Studie notwendig ist, die alle Aspekte des urbanen Kontexts – real und projektiert – berührt: vom Management komplexer urbaner Dynamik bis urban agriculture, von Energieerzeugung bis hin zu branding.

Design spielt eine Rolle – doch nur um Beispiele zu erzeugen, die Pilotprojekte sichtbar zu machen und Ideen visuell zu kommunizieren. Die tieferen Schichten der Studie behandeln Fragen der Wirtschaft und des Managements, darunter die Beschaffungsprozesse der grünen Industrie und die Verflechtung verschiedener Pilotprojekte und Infrastrukturen. Auf einer anderen Ebene jedoch sind es soziale Muster, kulturelle Gegebenheiten, existierende Gemeinden, Bildungs- und andere Institutionen, die die Planung für ein CO2-armes Gebiet und einen Inkubator für grüne Industrie so außerordentlich komplex und emotional sensibel machen.

Die Umrüstung von Bestandsgebäuden etwa ist ein notwendiges Thema, das vielfältige Akteure involviert – Bewohner, Behörden, die Umrüstungsindustrie – und nur durch den gemeinsamen Willen zur Kooperation gelingen kann. Um- und Nachrüstung kann ein Antrieb für grüne Industrie sein, beispielsweise durch den Austausch aller Heizkessel im gesamten Areal – aber auch eine Gemeinschaftsleistung, wenn sich beispielsweise Straßen zu konkurrierenden Gruppen organisieren, denen Anreize zur Umrüstung geboten werden. Historische Gebäude, wie die alten Werften entlang der Themse, können beispielsweise die Grundlage für die Schaffung einer Infrastruktur für Müllmanagement sein, die den Fluss als Hauptarterie nutzt.

Die Vision des Ganzen
Die Studie beschreibt das Potenzial des Gebiets und eine Reihe von Themen mit Pilotprojekten, die durch eine Choreographie für das gesamte Areal den Inkubator einleiten und ihre Bestandteile zur Koevolution anregen können. Diese Gesamtchoreographie und die darauffolgende Koevolution sind das Herz des dynamischen Masterplans – und eine absolute Notwendigkeit für die Planung der Stadt nach dem Öl. Ihre Feinabstimmung ist die Aufgabe eines Teams (wie im Falle des GED Konsortiums), dessen richtige Zusammensetzung eine zentrale Herausforderung darstellt.

Eine Gesamtchoreographie verlangt eine Vision des Ganzen, von der Kommunikation der zentralen Idee durch ein Brandingkonzept bis zur Vision des Endprodukts, einer potenziellen abgeschlossenen Umsetzung. Natürlich ist dieses abgeschlossene Endprodukt eine Illusion – die Gesellschaft und ihre Herausforderungen verändern sich zu schnell, Technologien werden verbessert, Ziele angepasst und Prioritäten wandeln sich. Ein abgeschlossener „low carbon district“ ist eine Utopie, eine zum Zeitpunkt ihrer Entstehung perfekt scheinende Maschine, die während ihrer Konstruktion zunehmend problematisch wird (wie im bekannten Beispiel der Masdar City in Abu Dhabi).

Das Konzept eines ‚Grünen Bezirks‘ entsteht, wie jeder andere Plan, im städtischen Maßstab aus Hoffnung, Verlangen und kommunalem Antrieb – nicht aus Angst, etwa der Angst vor dem Klimawandel, oder Gier, oder ausschließlich privatem Interesse. Solch ein Plan muss eine funktionale Demonstration sein, ein aktiver Prototyp, der sich intern oder extern anpassen und vervielfältigen kann.

Plan des Green Energy District, orangefarbene Bereiche kennzeichnen Projekte, die bereits auf den Weg gebracht sind.
Abb.: CHORA

Koevolution von Pilotprojekten innerhalb eines CO2-reduzierenden Stadtentwicklungsplans oder Green Enterprise District verlangt sowohl innovative Management-Fähigkeiten und praktische Methoden der Kommunikation zwischen den Interessenvertretern als auch kreative kuratorische Fähigkeiten, Einfühlsamkeit und geschickte Überzeugungskraft. Etablierte Gemeinden in bestehenden Städten haben starke Interessen und Ansichten und sind nicht leicht von den Vorteilen eines neuen Konzepts oder gar eines energieeffizienten Masterplans zu überzeugen – wie das Beispiel des Tempelhofer Felds in Berlin zeigt. Die komplexe Transformation des Parks in ein neues Gebilde, das sowohl Park als auch Symbol für neue Wege der Energieerzeugung ist, trifft auf Widerstand. Statt ein leeres Feld zu sein oder eine Fluchtmöglichkeit vor den Problemen der Stadt, an deren Verursachung diese selbst mitwirkt (Klimawandel), kann das Tempelhofer Feld Zentrum für einen Bezirk und Antrieb für soziale, wirtschaftliche, energetische oder sogar kulturelle Identitätsbildung sein – doch dazu muss sich die Stadt Berlin Problemen stellen, die man lieber nicht sieht.

Teamstruktur
Die Teamstruktur war wichtig, um die Bandbreite und Diversität zu schaffen, die man für eine derartige Studie braucht. Diese Art von Projekt lässt sich weder von einer Firma, einem Alles-in-Einem-Büro wie zum Beispiel ARUP, noch von einer kleinen Gruppe an Firmen bewältigen. Es braucht die Vielfalt sehr verschiedener Büros, die sehr unterschiedliche Fachkenntnisse, aber auch sehr unterschiedliche Auffassungen der Aufgabenstellung haben. Das Team muss notwendige konfligierende und manchmal konkurrierende Ansichten repräsentieren. East ist ein Landschaftsarchitekturbüro, das eine langjährige Beziehung zu den Flächen und Landschaften im Osten Londons aufgebaut hat. Sie haben an verschiedenen Aufträgen mitgewirkt und eine enge Beziehung zur London Development Agency.

Das Büro Happold ist eine große Ingenieurfirma mit Erfahrung in Planung, Infrastruktur und Energiemanagement. Sie haben bereits im Thames Gateway gearbeitet und geforscht und sind Teil eines thinktanks zur Zukunft des Thames Gateway.

Dow Jones haben Abfallwirtschaftsstudien für London und die LDA durchgeführt, darunter Vorschläge für Biomasseanlagen im Osten der Stadt.

Plan der Royal Docks mit verschiedenen Umnutzungsmöglichkeiten. Abb.: CHORA

GVA Grimley sind Wirtschaftsberater mit Schwerpunkt auf Machbarkeitsstudien, Umsetzungsstrategie und Finanzmanagement. Sie formten die allgemeine wirtschaftliche Analyse und skizzierten die Führungs- und Steuerungsstrategie. Die Zusammenarbeit mit ihnen war großartig, aber nicht immer einfach. Wirtschaftsanalysten sind nicht notwendigerweise Visionäre – ihr Pragmatismus muss den Idealismus der kreativeren Berufe wie der Architekten in Balance bringen, ohne deren kreativen Antrieb zu behindern.
CHORA architecture and urbanism hat einige Jahre lang an verschiedenen Gebieten im Thames Gateway geforscht, Studien zu Energieinkubatoren durchgeführt und mehrere Treffen der Interessenvertreter organisiert. Ein solches Team ähnelt einem Orchester: enge Kooperation, um die Musik zu schaffen, aber große Individualität in Bezug auf Timbre, Melodie und Ton.

Der GED (Green Enterprise District) ist ein Gebiet voller Industriebrachen, Grundstücken im Besitz der öffentlichen Hand, Initiativen wie den Olympischen Spielen, Nahwärmenetzwerken, Biomasse-Pilotprojekten, Elektroauto- und Elektromotorproduktion (Ford) – ein Kontext der urbanen Dynamik und des Potentials, die das Basismaterial für den Plan bilden. Es gibt fünf Stadtteile mit aktiven Regelungen, etablierten Gemeinden, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen – das gesamte Areal erstreckt sich entlang der Themse, die dem GED sowohl seine Identität gibt als auch Möglichkeiten des Wasserverkehrs bietet. Die Themen und Pilotprojekte ergeben sich aus diesem Kontext und werden in ihn hineinprojiziert.

Ziele, Themen und Pilotprojekte

„Scenario Games“:
Während des Spiels
Abb.: CHORA

Die Studie hat vier Hauptziele. Erstens gilt es, die Attraktivität für grüne Unternehmen zu schaffen. Die taskforce, die Management, Steuerung und kuratorische Fähigkeiten mitbringt, wird mit Anreizmethoden wie beispielsweise Steuererleichterungen kombiniert. Des weiteren soll die CO2-Reduktion für Unternehmen gefördert und die Nachfrage gesteigert werden. Bestandteile hierzu sind Pläne für CO2-reduzierte Energieinfrastruktur, industrielle Nachrüstungsindustrie sowie Abfall als Ressource und Wasserfracht. Drittens soll der Bezirk zum Vorreiter für CO2-reduzierte Innovationen gemacht werden. Es ist geplant, zum Start der Olympiade eine EXPO für Grüne Technologie zu eröffnen, die zu einer Internationalen Bau- und Technologieausstellung führt – mit dem Ziel, eine neue Airport City zu schaffen. Die EXPO würde außerdem ein Infozentrum beherbergen, das zur Kommandozentrale des GED werden könnte.

Schließlich soll das Potential grüner und öffentlicher Flächen maximiert werden.Bestandteile sind ein Landschaftsnetzwerk, eine Strategie für öffentliche Plätze und Angebote, Netzwerke für die Nahversorgung mit Lebensmitteln und Zwischennutzungsstrategien ungenutzter Flächen.

Es wird deutlich, dass die Ziele nicht so weit gehen, einen CO2-reduzierten Bezirk auszurufen. Doch die Einführung von effizientem Abfallmanagement, erneuerbarer Energie für Gemeinden, Industrie und weiteres wird den kumulativen Effekt haben, sich transnationalen Emissionszielen anzuschließen.

„Scenario Games“:
2 Spielsets
Abb.: CHORA

Internationale Emissionsziele, wie beispielsweise das Kopenhagen-Abkommen, das den globalen Temperaturanstieg auf zwei Grad begrenzen will, müssen letztendlich durch Städte und ihre Bewohner (inzwischen die Mehrheit der Weltbevölkerung) erreicht werden. Doch jetzt konkrete Ziele für einen Bezirk jeglicher Größe zu setzen, ist momentan so komplex, solch eine politische, soziale kulturelle Herausforderung, und benötigt so viel Arbeit und öffentliches Experimentieren – vom politischen und privaten Willen ganz abgesehen – dass es schwer ist, sie in bindenden Gesetzesvorschriften juristisch zu verankern. Dies ist auch nicht das Ziel von Projekten wie beispielsweise der Tempelhof-Erneuerung. Wir sollten nicht die Chance verpassen, Projekte mit solch historischer Bedeutung und emotionaler Resonanz zu benutzen, um das Ziel der CO2-Reduktion in die Öffentlichkeit zu tragen.

Scenario games und die taskforce

„Scenario Games“:
Tischordnungen,
Abb.: CHORA

CHORA hat mehrere Szenarienspiele durchgeführt, für die verschiedene Akteure in Spielteams zusammengebracht wurden, die sich mit einem Szenario für ein spezifisches Thema oder Pilotprojekt beschäftigten. In jedem Spiel wurden mögliche Anwendungen simuliert und die gemeinschaftliche Partizipation für die Entscheidungsfindung geprobt. Spielerisch wurden mögliche Erzählungen, mögliche Zukünfte geschaffen, die zu verschiedenen Optionen und Entwicklungsrichtungen führten. Die Teilnehmer nutzten dafür entworfene Spielsets, die die wichtigsten vom Team der Studie erforschten Informationen enthielten. Diese Informationen, sowie eine Reihe von Ergebnissen der Spiele, wurden in einem großen Aktionsplan zusammengeführt, der die Aufgaben der taskforce und die Synchronisation ihrer Aktivitäten und Initiativen vorschlägt. Die taskforce und ihr Aktionsplan, zusammen mit den übergeordneten Zielen eines Bezirks, der ein Beispiel für CO2-neutrale Wirtschaft setzen will, sind die wesentlichen Innovationen urbaner Strategie auf Planungsebene. Behörden, Institutionen, individuelle Organisationen und Fachleute stehen nun vor der Aufgabe, sich mit diesen urbanen Projekten auseinander zu setzen und die professionellen Fähigkeiten und Organisationen zu schaffen, die diese Projekte implementieren können.

Raoul Bunschoten (*1959) ist Gründer von CHORA research und CHORA architecture and urbanism (London, Amsterdam). Er ist Professor für Systematik der Stadtplanung, Landschaft und Freiraum sowie Entwurf an der Fachhochschule Düsseldorf (PBSA).

Dieser Text wurde zum ersten Mal publiziert in der architekt 4/2010 zum Thema Energie und Bestand. Gretchenfrage der Gegenwart.

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