BDA-Preis für Architekturkritik 2015 an Niklas Maak

Maak oder die Liebe zur Architektur

Laudatio von Karin Wilhelm

Entgegen aller Gepflogenheiten werde ich meine Lobrede auf Niklas Maak nicht damit beginnen, die Argumente zu präsentieren, die dazu geführt haben, den diesjährigen Preis für Architekturkritik des BDA an den Journalisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Autor Niklas Maak zu vergeben. Ich werde also an dieser Stelle nicht aus dem Nähkästchen plaudern und mitteilen, was nach Meinung der Jurymitglieder Maak aus der Reihe der vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten heraushob und warum es letztlich dann doch so leicht war, ihn zu wählen. All das erzähle ich an dieser Stelle also nicht, auch nicht, dass die Jurymitglieder vom „originellen Geist“ dieses Kritikers hoch angetan waren, dass uns sein „eigener, subjektiver, aber zugleich weit gefasster Blick“ beeindruckt hat und natürlich seine Sprache, die „anschaulich, markant und bildhaft“ ist. Nein, mit diesen Feinheiten der Entscheidungsfindung soll diese Laudatio nicht beginnen, auch nicht mit dem Hinweis, dass dieser gebildete, begeisterungsfähige Zeitgenosse mit der Liebe zur französischen Kultur aufruft „zu Widerstand und Revolte und die Architekten auf die Barrikaden“ treibt. Auch darauf werde ich an dieser Stelle nicht eingehen, ebenso wenig werde ich Maaks Erzählung über den Mann mit dem Rasensprenger aufgreifen, der so freundlich lachend vor seinem Einfamilienhaus irgendwo im Niedersächsischen stand und seiner tragischen Leidenschaft für das kleinfamiliäre Wohnprojekt im Grünen jüngst zum Opfer fiel – und damit Maak die Chance bot, seine Bilanz mit dem verfehlten Lebensentwurf heutiger Fertig-Hausbauer in ein Buch zu fassen, das derzeit alle elektrisiert.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Ich spreche von der Textsammlung, der Niklas Maak den vielsagenden und tiefenpsychologisch doppeldeutigen Titel „Wohnkomplex“ gegeben und mit dem Untertitel „Warum wir andere Häuser brauchen“ zur Kritik an der Architekturproduktion unserer Tage angehoben hat. Diese Textsammlung, mit manifestartiger Verve verfasst und im Tenor zuweilen tatsächlich aufstachelnd, wird uns erst später wieder begegnen – vorerst darf sie auf der Seitenbühne Platz nehmen.

Beginnen möchte ich nämlich mit einem anderen Buch, das uns ein wenig mehr über den Architekturkritiker Niklas Maak und seine Prägungen verrät als es seine pronocierten Kritiken über die Architektur und den Zustand unserer Städte tun, die wir à jour in den Tages- oder Wochenzeitungen lesen können.

Und so werde ich meine Lobrede als Annäherung an den Preisträger in drei kurzen Kapiteln vortragen: „Maak oder die Liebe zur Literatur“, „Maak oder die Liebe zum Strandgut“ und schließlich: „Maak oder die Liebe zur Architektur“.

Maak oder die Liebe zur Literatur

Ich möchte unsere Blicke zuerst auf jene Begabung Maaks lenken, die uns auf höchst unterhaltsame Weise in die Höhen und Tiefen unserer komplex-komplizierten Welt seit den 1970er Jahren geführt hat. Ich spreche von seinem 2014 veröffentlichten Buch „Fahrtenbuch – Roman eines Autos“, das uns in Form der fiktiven Erzählung in jenes Jahrzehnt entführt, in dem Niklas Maak in Hamburg geboren wurde. Dieser Roman wirkt insofern schillernd, als er uns zunächst vorgaukelt, eine Erzählung über die Welt aus der Perspektive eines Autos zu sein und das auch in gewisser Weise ist, aber dabei zu einer literarischen Komposition wird, die allezeit vom Leitthema Maaks durchwirkt ist: vom Wohnen! Bevor ich versuche, die Schichtungen dieses Autoromans abzutragen, die uns seine Leidenschaft für das kritische Nach-Denken über die historische Weltverwobenheit der Architektur und der in ihr beheimateten Menschen im Feld der literarischen Erfindung präsentieren, darf eine persönliche Kränkung, die ich darin las, nicht unerwähnt bleiben.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Sie findet sich in eben diesem Autoroman über einen Mercedes 350 SL, Baujahr 1971, und aktiviert bei der Laudatorin jenen illustren Hass-Liebe-Konflikt zwischen Hansestädtern, der schon lange währt und heute seltener durch kaufmännische Gerissenheit denn durch mehr oder weniger sportlich ausgetragene Kämpfe in Fußballstadien ausgetragen wird. Ich meine eben jene gepflegte Feindschaft zwischen Bremern und Hamburgern, die es mir als in Bremen Aufgewachsener eigentlich verunmöglicht, den Hamburger Maak zu rühmen. Diese inkriminierte Passage muss ich zitieren, damit mein Echauffement zu verstehen ist. In diesem Roman, der uns mit dem Schicksal höchst unterschiedlicher Figuren innerhalb eines Zeitraums konfrontiert, der ungefähr Maaks Lebenszeit umfasst, gibt es eine Episode, in der diese einst herrliche, inzwischen über zwanzig Jahre alte Sportwagen endlich einem Hamburger namens Henning John Berkenkamp gehört. Dieser Spross einer vermögenden Hamburger Familie hat nämlich, sicher nicht unüblich, das neue Nummernschild des Autos personalisiert und das folgende Kennzeichen beantragt – und bewilligt bekommen: HH-HB 236. Nach dieser Eröffnung lesen wir: „Berkenkamp war zunächst von diesem Nummernschild angetan gewesen, bis ihm einfiel, dass HB nicht nur die Abkürzung für Henning Berkenkamp, sondern auch für Hansestadt Bremen war, und wenn es eine Stadt gab, die John Berkenkamp [d. i. der Vater, K.  W.] nicht mochte, dann war das Bremen. Der inzwischen in die Jahre gekommene John Berkenkamp hatte die ärgerlichsten Monate seines Lebens bei einer Frau verbracht, die in Bremen wohnte, in einem Ortsteil namens Schwachhausen“ – man muss wissen, dass das der feinste Stadtteil Bremens ist – und weiter: „Um nach Schwachhausen zu kommen, musste man durch eine Straße fahren, die allen Ernstes ‚Am Schwarzen Meer’ hieß, obwohl sie an überhaupt keinem Meer lag, sondern zwischen dem Zentralkrankenhaus und dem Weserstadion, so etwas war typisch für Bremen….“

Na also: Ein Hansestädter spricht über die andere Hansestadt als Stadt der Bauernfängerei, der Anmaßung und Übertreibung schon in der Namensgebung ihrer Straßen! Wie erst steht´s dann mit den Leuten dort? Und doch, es ist beschwichtigend, lieber Niklas Maak, wie präzise Sie die topografisch angelegte Ortsbeschreibung in die Erzählung eingewoben haben und damit die Sozialcharakterologie eines Stadtteils aufleben lassen, die mich zur wissenden, amüsierten Leserin machte. Dabei, und diese Frage kann ich mir denn doch nicht verkneifen, frage ich mich, ob Niklas Maak diese Kenntnis nicht doch durch ein verlorenes Match des HSV gegen Werder Bremen zu verdanken hat, als er, um mit dem Auto nach Hamburg zurück zu fahren, über Schwachhausen zur Autobahn fuhr, die seit 1936 unsere beiden Hansestädte verbindet… Wie dem auch sei, versöhnen konnte ich mich mit dem Hamburger Maak natürlich schnell, denn auch Hamburg bleibt in diesem Prosastück nicht völlig ungeschoren.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Doch zurück zu den Schichtungen dieses Buches: Maaks Autoroman ist ein geschickt konstruiertes Stück Episodenliteratur, das uns nicht nur durch vierzig Jahre bundesdeutscher und gesamtdeutscher Träume, Hoffnungen, Wirrnisse und Enttäuschungen leitet, sondern auch die Zeichensysteme dieser Träume so authentisch präsentiert, dass man zuweilen den Eindruck hat, hier habe eine geradezu filmisch dokumentarische Sicht die Feder geführt. Nicht nur die Ortsbeschreibungen, die Landschaften und Städte, auch die entsprechenden Figuren in ihrem Wohnumfeld, mit ihren Accessoires und Alltagsutensilien wie Zigarettenmarken – solange man im vergangenen Jahrhundert eben lustvoll qualmte – bis hin zur bevorzugten Zahnpasta sind historisch so authentisch anwesend, dass jene Ordnung der Dinge, in der sich die soziale Distinktionskraft anschaulich bündelt, zu einem Gesellschaftspanorama der Bonner oder Berliner Republik aufweitet.

Wiewohl wir mit dem Altwerden eines Automobils und seinem verunfallten Ende dem Glanz und dem im Altern begründeten Elend eines am Überfluss müde und unglücklich gewordenen, desillusionierten Klein- und Großbürgertums begegnen, treffen wir dabei doch immer auch auf die Sehnsüchte und Träume von Menschen, die in den Städten und ihren peripheren Randzonen zwischen Glück und Unglück beheimatet sind. Spätestens im Narrativ der modernen Einsamkeitszonen mit ihren scheinbar eigenwilligen Großsprecheinzelhäusern auf kleinen umzäunten Gartengrundstücken hören wir im Schriftsteller Maak den Architekturkritiker und stoßen auf die theoretischen Subtexte, die in seinen Episoden nachklingen.

Leute meines Alters mögen darin die kritischen Töne der „Minima Moralia“ vernehmen, jene „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ des Philosophen Theodor W. Adorno, die 1951 veröffentlicht wurden und worin Adorno, diese Leitfigur der Kritischen Theorie, zuweilen aphoristisch von der Unmöglichkeit geschrieben hatte, ein richtiges Leben im falschen führen zu können. Kurz nach dem Krieg und der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil war Adorno vom Zweifel beschlichen, ob nach der Shoa ein neues Leben als „Verantwortung fürs Wohnen“ möglich wäre.

Andere werden sich bei der Lektüre an die jüngeren französischen Autoren erinnert fühlen, die mit Pierre Bourdieu die Kategorisierungslehre der Kapitalien in ökonomische, kulturelle und soziale Kapitalien kennengelernt haben und deren soziale Differenzierungsmotorik in klassen- und schichtenspezifisch organisierten Habitusformeln.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

So führt uns die Geschichte des einstigen Luxuscabrios Mercedes 350 SL hin zum schrottreifen, später in Marokko ausgeweideten Blechkadaver und mitten hinein in den Alltag von Menschen unseres Kulturkreises, deren Leben und Lebensstile sich im Zustand eines Autos spiegeln. In Maaks Roman lernen wir auf unterhaltsame und doch ernüchternde Weise die Struktur einer Gesellschaft kennen, die ihre Akteure in Wohnumfeldern platziert, die zwischen abgeschotteten Villenvororten und vorstädtischer Einfamilienreihenendhausidylle vom guten Leben träumen. Die Labilität dieser Träume kulminieren im Bild eines alternden, verfallenden Autos, das als „wirtschaftlicher Totalschaden“ den sozialpolitischen Totalschaden einer ganzen Gesellschaft ankündigt.

Maak oder die Liebe zum Strandgut

Mit der Perspektive auf Pierre Bourdieu kommen wir dem biografischen Mosaik des Niklas Maak tatsächlich auf die Spur, denn für die Standpunkte des Architekturkritikers Maak sind es die Pariser Studienjahre gewesen, die seinen Blick geschärft und den Theoriehorizont erweitert haben. Bourdieu war in den 1990er Jahren der viel gerühmte Kopf der sozialanthropologisch ausgerichteten französischen Soziologie. Zum Ende der 1970er Jahre hatte Bourdieu mit dem Buch „La distinction. Critique sociale du jugement“ international Aufsehen erregt. Seine umfangreiche, auf empirischen Untersuchungen basierende Studie erschien dann 1982 auf Deutsch unter dem Titel „Die feinen Unterschiede“ und spielte im Untertitel auf die 1790 veröffentlichte „Kritik der Urteilskraft“ des in Königsberg denkenden Immanuel Kant an. Niklas Maak dürfte Bourdieus Hauptwerk vermutlich während seines Kunstgeschichtsstudiums an der Hamburger Universität bei Martin Warnke kennengelernt haben, denn Warnke gehörte – wie im übrigen auch der Gründer des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main, Heinrich Klotz – zu jenen jungen Wilden, die im Umfeld der 1968er-Studentenbewegung Umstrukturierungen der bundesdeutschen Universitäten zur Grundsatzkritik an der positivistisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung forderten. Damit begründeten sie jene Historiografie der Künste, die sich methodisch als politische Ikonografie etablierte.

In diesem Umkreis haben die Schriften Bourdieus an deutschen Universitäten und in Studentenkreisen der Kunstgeschichte, Soziologie und Philosophie, kurz in den Geisteswissenschaften eine große und nachhaltige Rolle gespielt. Bourdieus 1974 auf Deutsch publizierte Schrift „Zur Soziologie der symbolischen Formen“ gehörte zu meiner Doktorandenzeit bereits zur Standardlektüre, wenn man über die gesellschaftspolitischen Implikationen der bildenden Künste und vor allem der Baukunst arbeitete. In diesem Buch der beginnenden siebziger Jahre hatte der französische Soziologe in der Auseinandersetzung mit Schriften des exilierten Kunsthistorikers Erwin Panofsky ein Modell weitergedacht, das Panofsky im Begriff der „mental habits“ als ein Ausdruckssystem fasste, das lehrte, die Kompositionsverfahren und Bedeutungen von Kunstwerken und Artefakten als „‚kulturelle Symbole’, als Ausdruck der Kultur einer Nation, einer Epoche oder einer bestimmten Klasse“ aufzufassen. (Panofsky hatte seine Thesen am Stilrepertoire der gotischen Kathedrale und ihren analogen Formen unter anderem im Buchdruck entwickelt). Bourdieu hat Panofskys Habitusmodell später in seinen soziologischen Untersuchungen zur „kulturellen Produktion“ und des „Geschmacks“ ungemein verfeinert und in den heute gewiss schon gängigen erkenntnisleitenden Begriffen des „Habitus“ und des „Lebensstils“ aufgefächert.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Im Umfeld dieser französischen Wissenschaftsgeschichte, in der die Namen Michel Foucault, Gaston Bachelard, Roland Barthes, Jean Baudrillard und schließlich Jacques Derrida prägend wurden, konzentrierte sich Maak im Dissertationsprojekt bei Martin Warnke an der Universität Hamburg schließlich auf jenen Architekten der Moderne, der seiner Städtebautheorien und seines architektonischen Purismus wegen inzwischen in Verruf geraten und im Postmodernediskurs zum master of the evil stilisiert worden war. Während Maak für die Doktorarbeit über Le Corbusier die „Fondation Le Corbusier“ in Paris besuchte, wurde er im Rahmen seiner Philosophiestudien in Seminaren Derridas an der renommierten „Ecole des Hautes Etudes en Sience Sociales“ in Paris um 1996 / 97 dazu ermuntert, seine Studien im Sinne eines fundamental kritischen Wissenschaftsverständnisses zu betreiben. Derrida hat es später als eine Denkform bezeichnet, deren „dekonstruktive Aufgabe“ darin bestehe, „…um ihre eigene Geschichte zu wissen und sie disziplinübergreifend zu betreiben.“ Tatsächlich hat sich diese wissenschaftliche Ausrichtung in Maaks Studien über den Architekten Le Corbusier insofern niedergeschlagen, als er es unternahm, die im Umfeld der Postmodernekritik einäugig gewordenen Blicke der Corbusierforschung zu korrigieren.

Mit Architekturhistorikern wie Charles Jencks und vielen seiner Adepten war Le Corbusier zum geschmähten Meisterarchitekten degradiert worden, zum Propagandisten der städtebaulichen Tabula-Rasa-Moderne, der als autoritär manipulativ agierender CIAM-Funktionalist und Selbstdarsteller mit Vorlieben für das Vichy-Regime und Anbiederungen an die totalitären europäischen Herrscher der 1930er Jahre vollkommen zu ignorieren war. Maak hat diese Lesart des Architekten Le Corbusier als ausgefuchstem Selbstdarsteller und Opportunist nicht übergangen. Was er aber auch tat war, das Programm der wissenschaftsgeschichtlichen Selbstbefragung in Hinblick auf die Corbusier-Forschung anzuwenden. Sie hatte Le Corbusiers Konzeption moderner Architektur, die er im Begriff der Poesie immer wieder theoretisch zu illustrieren versucht hatte, gar nicht mehr in ihrer Relevanz für das Projekt einer Architektur als Kunst wahrgenommen. Offensichtlich aber zeigten Gebäude wie die 1955 vollendete Kapelle in Ronchamp Raumformen und Ausdruckswerte, die die dogmatische Modernekritik diesem Erfinder des Hauses als Wohnmaschine mit dem Hang zur Mythisierung der Automobile und Flugzeuge vollkommen abgesprochen hatte.

Kehren wir zur Aufklärung dieses Problems zur Le-Corbusier-Studie Maaks zurück. Von den vielen Aspekten, die in dieser Untersuchung eine Rolle spielen, seien hier kurz jene betrachtet, die uns den intellektuellen, den literarischen, den ästhetisch prägenden Hintergrund des Architekturkritikers und des inzwischen als Hochschullehrer arbeitenden Niklas Maak verdeutlichen.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Eines der Kapitel seines Buches über Le Corbusier beginnt mit der kurzen prägnanten Frage: „Was macht der Architekt am Strand?“ Dieser Ansatz hat dann der veröffentlichten Dissertation den Titel „Der Architekt am Strand“ gegeben. Was wir als Antworten auf diese Frage lesen, präsentiert uns zunächst einen Architekten als Sommerfrischler, der das Meer liebt, gerne badet und auf seinen Strandspaziergängen mit neugieriger Leidenschaft die angespülten Relikte des Meeres sammelt, fotografiert und in ihren Strukturen später zeichnerisch interpretiert. Wir lernen, wie Le Corbusier aus Fundstücken wie Steinen, Muscheln, Schnecken oder Knochen mathematische Strukturen und Gesetze rekonstruiert und damit die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gepflegte Lesart seiner Architekturproduktion befördert, ein „gesellschaftsferner, visionärer Formsucher im Grenzbereich von Natur und Kultur zu sein, der nicht mehr die Mathematik, die Maß- und Proportionsregelsysteme ins Zentrum seiner Architekturtheorie, sondern diese „‚Objets a récréation poétique’“ an deren Stelle setzt. Le Corbusier inszenierte sich also, so Maaks Folgerung, als Schöpfer, der die natürlichen Fundstücke zur Entfaltung seiner künstlerischen und räumlichen Phantasie unmittelbar nutzte und Raumkonzeptionen wie die Ronchamp-Kapelle auf der Grundlage solcher Naturvorbilder entwickelte. Der Architekt am Strand zeigt sich uns seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als ein Baukünstler, der auf diese Weise zu den grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Kunst und den mimetischen Qualitäten der Architektur zurückkehrte.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Damit wurden Positionen der ästhetischen Theorie wieder virulent, die den Diskurs zur Ästhetik seit Kant von Zeit zu Zeit beschäftigt haben. In der „Kritik der Urteilskraft“ hatte Kant geschrieben: „An einem Produkte der schönen Kunst, muss man sich bewusst werden, dass es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muss die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.“ Dieses „als ob“ der Kunst hat Le Corbusier im Begriff des „Objet a récréation poétique“ zum Inspirationsmodell der künstlerischen Imagination erklärt. Das Fundstück der Natur ist somit der Auslöser seiner Gestaltungsideen, die das Artefakt nicht als Abbild, Surrogat oder Kopie animieren, sondern als Produkt eigener Prägung und Kreativität erst entstehen lassen. Wie sich dieser Akt der Formentwicklung allmählich, das Material in Form bringend, herausbildet, wie sich also das Geheimnis der kreativen Imagination materialisiert, hat Le Corbusier, unser „Architekt am Strand“, dem Geheimnis einer Seeschnecke entlockt. Schon in seinem Städtebaubuch von 1925 findet sich zur Einführung des 12. Kapitels das Röntgenbild eines solchen Schneckenhauses, das Le Corbusier, wie Tim Benton berichtete, im holländischen Magazin „Wendingen“ gesehen und das ihm die unsichtbare geometrische Struktur dieser Naturform im „Bild vollendeter Harmonie“ offengelegt hatte.

Maak wird in seiner Analyse der Architektur Le Corbusiers nachweisen, dass Le Corbusier seit den 1930er Jahren die Studien der Schriften des Dichters und Schriftstellers Paul Valéry nutzte, um diese naturbezogene Entwurfsmethodik intellektuell zu fundieren. Nicht nur die durch Rainer Maria Rilke übersetzte Fassung des 1921 in der Manier eines platonischen Dialogs verfasste Prosa „Eupalinos oder der Architekt“ gehörte zur Lektüre Le Corbusiers, es war vor allem Valérys 1937 veröffentlichter Essay „Der Mensch und die Muschel“, der ihn intensiv beschäftigt hat. In diesem Meisterstück der sprachphilosophischen Prosa, das uns Valéry – in Ansehung der Gehäusestruktur einer Muschel – als Selbstbeschreibung der sich allmählich verfertigenden Erkenntnis beim Beschreiben einer Schneckenform offeriert, begegnen wir jenen geometrischen Figuren aus „Schraubenwindungen, Spiralen und Entwicklungen gewinkelter Verbindungen im Raum“, die im analog angelegten Kunst-Raumgefüge der spiralförmig geometrisierten Architektur Le Corbusiers zu finden sind – und nicht nur bei ihm.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Einige der im Strandgut entdeckten Raumfiguren haben, wie die Spirale, schon zu Beginn der 1920er Jahre zum bevorzugten Repertoire der modernen Architektur gehört. Wir finden sie als Bild einer zukunftsfreudigen Menschheit bei den russischen Konstruktivisten, und auch der Bauhauslehrer Laszlo Moholy-Nagy liebte diese Figur und schrieb sie seinen kinetisch-konstruktiven Systementwürfen ein. Le Corbusier befand sich in der Wahl der Helix also in guter Gesellschaft mit der europäischen Architektenavantgarde. Und auch sein am Naturvorbild orientiertes Entwurfskonzept ist ja kein Einzelfall geblieben. Der diesjährige, viel zu spät geehrte Pritzker-Preisträger Frei Otto hat seine brillanten, leichten Konstruktionen ebenfalls an Vorbildern natürlicher Konstruktionen wie beispielsweise Spinnennetzen geschult.

Schon 1959 hat Frei Otto angesichts der „wachsenden Menschheit“ von der Notwendigkeit eines „anpassungsfähigen Bauens“ gesprochen, ein Gedanke, der 1931 von dem Berliner Stadtbaurat Martin Wagner im Konzept des „Wachsenden Hauses“ angestoßen worden ist. Nun, wenn Frei Otto davon träumte, Gebäude zu entmaterialisieren, so konnte er in dieser Hinsicht nicht auf die ungeteilte Zustimmung des Architekten der kompakten, haptisch orientierten Architektur der Ronchamp-Kapelle rechnen. Auch Ottos Vision, ein Haus zu entwickeln, das nach Bedarf „wachsen und schrumpfen“ sollte, und das vom „Menschen lediglich Steuerimpulse empfängt“, hätte Le Corbusier vielleicht skeptisch beurteilt. Worin sich diese beiden Architekten allerdings in gewisser Weise trafen, war die Idee von der Minimierung. Denn was Frei Otto im „entmaterialisierten Haus“ als Materialminimierung vor Augen hatte, entspricht Le Corbusiers Idee zur Minimierung der Räume zum Wohnen. Sein kleines Ferienhaus „Le Cabanon“ in Roquebrune-Cap-Martin entsprach ja diesem Muster – und es ist dieses Konzept des kompakten Raumes, in dem alles, was der Architekt zum Leben brauchte, minimiert und ohne außenarchitektonische Selbstdarstellungsansprüche organisiert wurde, von dem Maak unzweifelhaft begeistert ist. So dürfen wir diese Entwurfshaltung Le Corbusiers als Grundsatz auffassen, der die Urteile des Architekturkritikers Maak über die Architektur des Wohnens leitet.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Damit nähern wir uns nun endlich jenem Kapitel, das ich unter den Titel gestellt habe:

Maak oder die Liebe zur Architektur

Jetzt sei dezidiert vom Architekturkritiker Niklas Maak und seiner Position zur Entwurfshaltung der Architekten die Rede. Nun kann auch sein Buch zum „Wohnkomplex“ langsam aus der Seitenbühne durch die Gasse kommend die Hauptbühne betreten. Denn hier begegnen wir in verschiedenen, kleineren oder längeren Abhandlungen dem Kritiker als Architekturliebhaber. Niklas Maak, der sich vielfach mit den Facetten des Wohnens in unserer Gesellschaft befasst hat, fordert in seinem Buch derweil eine „neue Wissenschaft der Habitologie“, die, wie er schreibt, „eine politische Ökonomie der Architektur, der Macht- und Interessensstrukturen“ sein müsste. Wieder vernehmen wir eine kapitalismuskritische Sprache, die ihre Prägung im Umfeld der französischen Soziologie und Philosophie erhalten hat. Entsprechend lässt uns der Architekturkritiker Maak im „Wohnkomplex“ auf seine Weise jener „misère du monde“ des Pierre Bourdieu begegnen, die der französische Gesellschaftskritiker des neoliberalen Lebensstilelends 1998 in der Aufsatzsammlung „Der Einzige und sein Eigenheim“ als missratenen Traum des Kleinbürgers vom eigenen Häuschen am Rande der großen Städte diagnostizierte. Und nun erkennen wir auch den „Mann mit dem duschkopfartigen Endstück eines Gartenschlauchs in der Hand“ als Akteur dieser verfehlten Wunschökonomie, dem der herrschende Fetischcharakter des Wohnens zum Verhängnis wurde, weil er sich im Weichbild Hannovers die Idylle eines backsteinernen Einfamilienhauses mit Krüppelwalmdach leisten mochte, das er sich allem Anschein nach aus eigener Tasche nicht leisten konnte. Jetzt erinnert man sich an den Autoroman, worin die Geschichten von Menschen beschrieben werden, die am Stadtrand der großen Städte, in sogenannten Speckgürteln, ein vielleicht glückliches, aber langweiliges Leben führen – mit der Tendenz zum Scheitern.

Was uns der Schriftsteller Maak im halbfiktionalen Gewand eines Romans präsentiert, wird in den Texten des Architekturkritikers zur Realanalyse eines Gesellschaftsmodells, das die poetischen, authentischen Qualitäten der Architektur nicht mehr schützt.

Maaks Kritik hat den Fetisch des Einfamilienhauses vor dem Hintergrund der seit Jahren andauernden Prozesse der Suburbanisierung seziert und analysiert, wie eine völlig durchökonomisierte Bauindustrie dabei „Trostlosigkeit statt Architektur produziert“. Maak hat die Folgen dieser bauindustriell belieferten und gelenkten Randwanderung des Wohnens als ein Raumvernichtungsprogramm charakterisiert, das auf die Zukunft gesehen katastrophale Auswirkungen im Weltmaßstab haben wird. Schließlich ist die Vorortexistenz à la longue nicht nur für Vater-Mutter-zwei-Kinder-Konstellationen zu teuer, sondern auch landschaftsvernichtend, zudem mit dem Anwachsen des Individualverkehrs ökologisch untragbar und im Kleinfamilienverband gesellschaftlich überholt.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Als Alternativen präsentiert uns der Architekturkritiker experimentelle Entwürfe japanischer Architekten, die im Sinne des Le Corbusierschen Minimierungsmodells neue, um Höfe gruppierte Zellenstrukturen planen, wie sie einst Moshe Safdie oder Archigram angeregt haben. Dass Niklas Maak dabei an Modelle der Wohn- und Lebensgemeinschaften meiner Jugendjahre anknüpfen mag, trifft ja auf eine gewisse Genugtuung. Aber auch die Wohngemeinschaftsideen von einst waren schon von Wohnidealen geprägt, die mit der Bauhüttenbewegung der Moderne entstanden waren. Und wie alles, was sich in Zukunft als tragfähig erweisen soll, brauchen auch neue Lebensmodelle jenseits der Kleinfamilienidyllen eine gewisse mentale Disposition der Menschen, die sie motivieren, Lebensstilprogramme freiwillig zu verändern. Nun, man muss Maaks Wohnideal nicht unbedingt teilen – allemal ist es ein großes intellektuelles Vergnügen, seine Texte und Zeitungsartikel als Herausforderungen der Zukunft und ihrer Lösungsmöglichkeiten im Denken des „als ob“ zu lesen: als ob es möglich wäre, eine neue Wohnarchitektur als Baukunst schon in der Architekturkritik prospektiv zu entwerfen. Dabei treffen wir in seinen Artikeln auf den Denk- und Sprachakrobaten, der uns das Lesen zur Lust werden lässt. Es sind die eigenwilligen Wortkonstruktionen, Komposita wie „Wiedervereinigungslächeln“ oder adjektivische Bereicherungen wie die Rede vom „wirtschaftlichen Lächeln“, die die Leserin immer vergnüglich zum Weiterlesen animieren. Es ist die Metaphernfülle, mit der Entwürfe oder Gebäude einiger unserer Stararchitekten gleichsam lustvoll vernichtet werden, wenn wir sie als „Schmelzscheiblettenarchitektur“ charakterisiert finden. Es ist diese Wortschöpfungsphantasie, der genaue Blick auf die Dinge, Maaks Fähigkeit, die Phänomene, die wir Architektur nennen, in den Kontext ihrer künstlerischen und materiellen Produktion zu stellen, die von einem blitzgescheiten Journalisten künden, dessen mutige Texte zu jenen „ungenierten Personen“ werden, die es nach Roland Barthes schaffen, dem (Über-)„Vater Politik ihren Hintern“ zu zeigen. Nicht anmaßend, sondern knapp und prägnant das Missratene und das Gelungene im Kontext der politökonomischen Verhältnisse zu beschreiben, gehört zu den herausragenden Eigenschaften dieses Architekturkritikers, der mit allen theoretischen Wassern gewaschen ist. Glücklich die Zeitung, die solch kluge Köpfe hinter sich weiß – und glücklich ein Bund Deutscher Architekten des Jahres 2015, der einen solchen Begleiter an seiner Seite ehrt.

Prof. em. Dr. phil. Karin Wilhelm MA studierte Kunstgeschichte, Soziologie, Philosophie in Hamburg, Heidelberg, München, Berlin und Marburg. 1981 wurde sie mit ihrer Dissertation (Walter Gropius – Industriearchitekt) bei Prof. Heinrich Klotz in Marburg promoviert. Nach verschiedenen Lehrtätigkeiten war sie von 1991 bis 2001 Ordinaria für Kunst- und Architekturgeschichte im Fachbereich Architektur an der Technischen Universität Graz und von 2001 bis 2012 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig.

Anlässlich der Verleihung des BDA-Preises für Architekturkritik an Niklas Maak legt der BDA eine Festschrift vor, die neben ausgewählten Texten des Preisträgers auch die hier publizierte Laudatio von Karin Wilhelm und ein Gespräch zwischen Niklas Maak, Benedikt Hotze (Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BDA) und David Kasparek (Redakteur bei der architekt), zu Gegenwart und Zukunft der Architekturkritik versammelt. Die 48 Seiten umfassende Publikation kann in der Bundesgeschäftsstelle des BDA (Tel.: 030. 27 87 99 13; hotze@bda-bund.de) angefragt werden.

Fotos: Till Budde

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