BDA-Preis für Architekturkritik 2015 an Niklas Maak

Kritik, Selbstermächtigung und Sprache

Erwiderung des Preisträgers

Ein Preis für Architekturkritik ist nichts Selbstverständliches, im Gegenteil: Wenn man zum Beispiel Romane liest und Filme anschaut, bekommt man dort ein derart unvorteilhaftes Bild des Architekturkritikers vermittelt, dass man froh sein kann, wenn die Bewertung im wirklichen Leben freundlicher ausfällt. Das Bild einer Berufsgruppe wird auch in den Künsten, in Literatur und Film geprägt, und wenn dort Architekturkritiker auftreten, sind es meist ausgemachte Unsympathen. Der berühmteste fiktive Architekturkritiker ist in Ayn Rands berühmtem Roman „The Fountainhead“ zu finden; er heißt Ellsworth Toohey und ist der Gegenspieler ihres Helden, des Architekten Howard Roark.

Besonders dramatisch setzt die Verfilmung des Romans mit Gary Cooper von 1949 den Gegensatz in Szene zwischen dem heroischen, unverstandenen Avantgarde-Architekten Howard Roark und dem mittelmäßigen, selbstverliebten Architekturkritiker Toohey, der seine Aufgabe vor allem darin sieht, außerordentliche Beispiele des bauenden Geistes in den Brei des Mittelmaßes, aus dem er heraussteht, zurück zu prügeln. Gary Cooper, der hier zum ersten Mal einen Architekten darzustellen hat, macht auch aus dieser Figur das, was er aus allen Figuren macht: einen Cowboy. Sein Architekt ist ein Cowboy der Vertikale, der nicht mehr auf dem Pferd in den Sonnenuntergang, sondern auf dem Baustellenfahrstuhl in den Himmel reitet. Nur der Architekturkritiker begreift diesen neuen Heroismus nicht: Er will, dass alles flach, ebenerdig und so bleibt, wie man es kennt. Er ist der große Verhinderer, der die Massen gegen den Architekten aufhetzt.

Es gibt nur einen positiven, versöhnlichen Auftritt des Journalismus in diesem Epos: Dominique Francon, eine Kolumnistin, beschließt, mit dem heroischen Architekten Howard Roark gemeinsame Sache zu machen und zusammen mit ihm eine missratene Sozialbausiedlung kurzerhand wegzusprengen, weswegen der Film auf Deutsch auch den schönen Titel „Ein Mann wie Sprengstoff“ trägt. Man könnte mit Blick auf weitere Architektenromane, etwa Susannah Lezards „Architekt der Begierde“, zusammenfassen, dass Architekturkritiker nur dann gut wegkommen, wenn sie Dynamit dabei haben.

BDA-Tag 2015, Preisverleihung, Foto: Till Budde

Doch auch das Bild der Architekturkritik im wirklichen Leben ist nicht unproblematisch. Leider wird die Internetplattform Wikipedia ja von immer mehr Benutzern als Lexikonersatz benutzt, was man nicht tun sollte, wie sich schon am Stichwort „Architekturkritik“ zeigt. Denn wer es dort eingibt, bekommt allen Ernstes folgendes zu lesen: „Philosophisch gesehen erfolgt die Kritik: 1. subjektiv, nach persönlichem Geschmack und Empfinden und wird 2. objektiv begründet durch Anwendung gesicherter, messbarer Prinzipien, um den Wert (oder Unwert) einer Bauform zu erkennen.“ Weiter heißt es: „(…) Die zeitgenössische Architekturkritik ist meist dogmatisch und belehrend, da der Kritiker durch seine Stellungnahme immer Partei ergreift. Der Architekturkritiker exponiert sich, indem er zwischen Bauwerk und Betrachter steht und glaubt‚ es besser zu wissen als andere. Die Kritik ist auch Kritik an der Person des Architekten, wenn er mit seinem Werk schockiert und provoziert oder langweilt.“ Ich zitiere das, weil man gar nicht besser zusammenfassen kann, was Architekturkritik nicht sein sollte, was Kritik nicht ist.

Mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit hält sich die Vorstellung, der Kritiker verhalte sich zum Künstler wie ein Lehrer zum Schüler, oder schlimmer, er sei eine Art Verwaltungsbeamter, der einen Antrag auf Anerkennung als Kunstwerk zu genehmigen hat. Leider herrscht diese Vorstellung auch bei einigen Kritikern selbst vor. Sehr oft steht über Buchrezensionen der verräterische Satz „Schriftsteller soundso legt seinen ersten Roman vor“. Was soll das heißen: legt vor? Und wem – der Prüfungsbehörde für Kulturerzeugnisse?

Die Aufgabe des Kritikers ist sicher nicht die, „subjektiv, nach persönlichem Geschmack und Empfinden“ ein Geschmacksurteil über den Architekten abzugeben, und erst recht nicht die, „durch Anwendung gesicherter, messbarer Prinzipien den Wert (oder Unwert) einer Bauform zu erkennen“. Denn was sollen diese messbaren Prinzipien sein? Immer, wenn einer kommt und ruft: Eure Städte sind eine Katastrophe, eure Plätze unwirtlich, kommt ein anderer und sagt: Das ist eure Sicht, wir finden es schön – und so fährt sich die Diskussion über Jahrzehnte im Sumpf schwer objektivierbarer Geschmacksurteile fest. Ich meine, eine Architekturkritik, die nicht in diesen Schützengräben der Architekturideologien steckenbleiben will, muss etwas anderes sein – nämlich eine politische Ökonomie der Architektur.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Sicher: Man kann und muss sich streiten über Gebäude und Architektur, darüber, in was für einer Stadt wir leben, auf welchen Plätzen wir uns treffen wollen, und dieser Streit ist wichtig und wird, wie ich finde, zur Zeit nicht energisch genug geführt. Aber bevor ein solcher Streit  – an dem sich in Zukunft die Architekten mit ihren Ideen und ihrer Wut hoffentlich noch energischer beteiligen – überhaupt stattfinden kann, müssen andere Fragen gestellt und beantwortet werden. Fragen nach den strukturellen, ökonomischen Bedingungen des Bauens: welche Machtstrukturen, welche Regelungen prägen das Bauen, was ermöglichen, was verhindern sie? Dies herauszufinden, wäre die erste und wichtigste Aufgabe der Kritik, die ja, wie wir wissen, Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis schaffen soll.

Architekturkritik, verstanden als eine politische Ökonomie der Architektur, muss zunächst einmal den Interessen nachspüren, die sich in den Neubauten und Masterplänen abbilden oder hinter ihnen verbergen – denn Bauen ist in den allermeisten Fällen eben keine primär ästhetische, sondern eine vor allem ökonomische Disziplin, was man etlichen Bauten ja leider auch sehr deutlich ansieht.

Die erste Frage lautet also nicht: Ist dem Architekten dieses oder jenes gelungen. Sie lautet: Wer hat ein Interesse daran, dass Häuser und Städte so aussehen, wie sie aussehen? Welche Lobbys und Machtinteressen bilden sich in den Bauformen ab? Und wie kommt es, dass so viele neue Stadtviertel entstehen, für die später niemand verantwortlich sein will und die jenseits von Geschmacksdifferenzen wirklich niemandem gefallen? Warum ist so wenig über die Hintergründe und Bedingungen des Bauens zu erfahren? Vielleicht auch, weil der radikalen Ökonomisierung des Bauens die Bot-Politisierung des Baudiskurses gegenübersteht.

Das liegt auch an den Medien, denn wenn jenseits der Fachmagazine über Architektur berichtet wird, dann meistens, wenn bei großen Prestigeprojekten etwas schiefgeht – und das, obwohl die meisten Menschen vielleicht nur ein Tausendstel ihrer Zeit vor dem Schloss und am Flughafen verbringen und ansonsten in Vorstädten, Verwaltungsbauten und anderen Baumassenballungen sitzen, über die, auch weil sie so trostlos aussehen, außer einigen engagierten Fachjournalisten keiner gern sprechen möchte.

Die politische Ökonomie der Architektur
Viele begegnen der gebauten Umwelt mit einem grimmigen Kulturpessimismus: Architektur sei nun einmal das Abbild von gesellschaftlichen Machtkonstellationen, jede Gesellschaft bekomme die Architektur, die sie verdiene. Man könnte die Frage natürlich auch andersherum stellen: Welche Strukturen verhindern, dass sich eine Gesellschaft die Räume bauen kann, die sie gern hätte? Das ist manchmal nicht einfach. Man muss als Architekturkritiker seinen Lesern ermüdende bürokratische Verflechtungen erklären. Man muss vermitteln, dass Architektur insgesamt besser aussehen könnte, wenn dem Architekten, der eine gute Idee hat, nicht gleich das Gespenst der gesamtschuldnerischen Haftung ins Haus flattert und ihn in einen existenzgefährdenden Strudel von Mängelbehauptungen reißt, und zwar auch dann, wenn sein nicht nach dem anerkannten Stand der Technik, sondern intelligenter gefertigtes Fenster tadellos funktioniert.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Man muss nachweisen, dass die Behauptung, bestimmte Bautechnologien und Vorgänge seien „alternativlos“, meist genauso falsch ist wie in der Politik. Nimmt man ein Thema, dass wir in unserer Zeitung seit einiger Zeit verfolgten: die Dämmung von Gebäuden. Mit der Dämmung ändert sich das Gefühl für das, was ein Haus ist: Jahrhundertelang war die gemauerte Wand das Solide, die Glasscheibe das Fragile.

Man ermahnte Kinder, nicht mit dem Fußball auf die Wohnzimmerscheibe zu zielen, sondern nur gegen die Wand. Heute ist es umgekehrt: Modernes Sicherheitsglas hält es sogar aus, wenn man rückwärts mit dem SUV hineinfährt; die Wärmedämmverbundwand zerfällt schon beim Beschuss mit normalen Fußbällen in unansehnliche Einzelteile.

Wie kann es sein, dass – anders als in Frankreich – die Dämmstofflobby solch große Erfolge feiern kann? Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass in Deutschland zum ersten Mal1957 in Berlin ein modernes Wärmedämmverbundsystem verbaut wurde, also in jener Epoche, in der auch luftdicht eingeschweißter Käse in den Läden auftauchte. Die Zutaten des mit Wärmedämmverbundsystemen eingeschweißten Hauses sind nicht weniger unökologisch: Um das Klima zu schützen, werden ganze Ölfelder mit gigantischem Aufwand in Hartschaum verwandelt, es ist Kunststoff, der hinter dem Putz als Dämmungsmaterial für ökologische Korrektheit sorgen soll. Wer heute ein Haus mit Vollwärmedämmung baut, kann sich schon einmal darauf einstellen, die Fassade alle zehn Jahre zu erneuern – was ein langfristiges Bombengeschäft für die Dämmindustrie ist: Jeder Auftrag kommt automatisch alle zehn Jahre wieder. Auf diese ökonomischen Hintergründe hinzuweisen, sie offen zu legen, ist Aufgabe einer Architekturkritik als Teil einer politischen Ökonomie der Architektur.

Manchmal ist es auch ganz einfach, zu erklären, was in der Architektur und im Städtebau schiefgegangen ist. Und wenn man sich mit den Gründen befasst, hat man oft das Gefühl, Entwickler und Stadtplaner behaupten gern, alles sei viel komplizierter und vielschichtig global verwickelter, als es tatsächlich ist, um sich in diesem erfundenen Dickicht der angeblichen Komplexität der Zusammenhänge besser verstecken und von klar benennbaren eigenen Fehlern ablenken zu können.

Ein Beispiel: In der Hamburger HafenCity baute man das sogenannte Überseequartier. 800 Millionen Euro wurden investiert, unter anderem in einen „Überseeboulevard“, der eher an den etymologischen Ursprung des Worts Boulevard im deutschen Kriegsvokabular, nämlich an ein Bollwerk, erinnert. Was ist hier passiert? Warum baute man in allerschönster Wasserlage eine Fußgängerzone, wie man sie öder nicht hätte erfinden können?

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Die Antwort ist einfach: Weil man hier vor allem Büroflächen bauen wollte – und das mit dem Argument, eine durchmischte, kleinteilig parzellierte Wohnstadt mit erschwinglichen Wohnungen und wassernahen Gärten sei eine schöne Utopie, aber realitätsfremd; hier brauche man Büros, damit sich das Ganze rechne. Aber die behauptete ökonomische Notwendigkeit war ein Irrtum: Denn während in Hamburg der Wohnraum knapp ist, stand schon vor Baubeginn rund eine Million Quadratmeter Bürofläche leer, und das Überangebot drückte die Preise. Die Folgen waren vor allem ökonomisch desaströs: Dem Investor eines Geschäftskomplexes war vom Senat die Abnahme von 45.000 Quadratmetern zugesichert worden: nun stand die öffentliche Hand in der Pflicht. Nachdem man keinen anderen Abnehmer fand, musste die Stadt als Mieter einspringen. Zunächst wollte man das Bezirksamt Mitte in die HafenCity umsiedeln, was den Bezirkspolitikern zu teuer war – sie hätten mit einer Miete von fünfzehn Euro statt wie bisher acht Euro pro Quadratmeter den Mietmarkt der HafenCity subventionieren müssen.

Es war hier also nicht so, dass die globale Ökonomie der öffentlichen Hand Geld in die Kassen spülte, das sie segensreich verwenden konnte. Die öffentliche Hand alimentierte das Bild einer florierenden Wirtschaft um den Preis, dass der öffentliche Raum verödet. Ich erwähne das hier noch einmal, weil ich glaube, dass vor allem die Unterordnung unter das angeblich unvermeidbare Diktat des Ökonomischen das Bild aktueller Städte prägt. Das sogenannte „Herz der HafenCity“ wurde früh an ein deutsch-niederländisches Konsortium verkauft, und die Versuche der Stadtplaner, dem Areal doch noch irgendwie Leben einzuhauchen, beschränkten sich auf Urbanokosmetik: Man verpasste also den Bürokisten mit Backsteinfassaden und rostigen Paneelen ein nostalgisches Lokalkolorit, die Architekten durften die anheimelnde Tarnkappe für die trostlosen Bauformen liefern, die die ökonomischen Verwertungsinteressen angenommen haben.

Wie kann man über diese bürokratischen Ärgernisse und ihre Folgen in einer Sprache sprechen, die diejenigen, die diese Bauten betreffen, verstehen, die ihr Interesse weckt und sie mitreißt? Auch das ist die Aufgabe der Kritik.

BDA-Tag 2015, Foto: Till Budde

Sprache
Die Sprache, in der wir über Architektur reden, ist manchmal ein Problem. Ich meine damit gar nicht das seltsame Esperanto der Architekturwettbewerbstexte, die es immer noch gibt, die einzige Sprachform, die es schafft, gleichzeitig blumig und bürokratisch zu sein und alle Architekten kennen. An wen wendet sich so ein Text, der, wie gerade bei einem Berliner Wettbewerb, die „stadträumlich sensible Eingliederung des Baukörpers in den urbanen Kontext“ lobt, „in dem die Grenzen von Innen und Außen aufgelöst und das Öffentliche mit dem Privaten amalgamiert werden“. Ich meine auch nur zum Teil den rätselhaften Hang einer ganzen Branche, interessante Innovationen mit möglichst depressiven Begriffen zu belegen, obwohl ich mich frage, warum allen Ernstes immer noch vom Passivhaus, vom Nullenergiehaus gesprochen wird, das ist wie ein Witz: „Warum steht Ihr Haus so traurig an der Ecke? – Weiß auch nicht, ist halt ein Passivhaus.“

Ich meine die Sprache, die nicht der Beschreibung von schon fertigen Objekten dient, sondern dem Verfertigen von Bauten. Der Philosoph, Essayist und Dichter Paul Valery notiert im fünften seiner Ideenhefte, den berühmten ‚Cahiers‘, in dem er sich mit einer Theorie des Entwurfs befasst, dass der Künstler Sprache nicht nur benutzt, um das Vorhandene zu beschreiben, sondern dass im Prozess des Entwurfs vor allem Begriffe, teils unbewusst, das formende Denken rahmen.

Beim Entwerfen denkt man in Kategorien, bisweilen behindert eine kategoriale Sprache das Entwerfen. Bei der Bitte, ein vier Geschosse hohes Haus zu zeichnen, liegt etwa der Gedanke an vier etwa gleich hohe, aufeinandergestapelte Kisten nahe. Dabei könnte man ja, wenn man sich freimacht vom Begriff der Etage, auch dreißig Plateaus zeichnen, die sich auf eine Höhe von 16 Metern türmen und auf denen sich der Bewohner einnisten kann. Auch deswegen braucht das Sprechen über Architektur eine kritische Revision – und auch das ist Teil einer Architekturkritik, die sich nicht nur in Zeitungen abspielt.

Selbstermächtigung
Gerade weil sich so viel wandelt, sind es spannende Zeiten für Architekten. Sicher: Angesichts von Vergabeverfahren und, Stichwort „gesamtschuldnerische Haftung“, des wachsenden Drucks, eher abgesichert und konventionell als innovativ zu bauen, könnte man als Architekt schnell das entwickeln, was in der Psychologie eine „depressive Handlungshemmung“ genannt wird. Ich freue mich zu sehen, dass dies offenbar nicht der Fall ist, im Gegenteil.

Ausstellung „Neue Neue“ während des BDA-Festes, Foto: Till Budde

Ich möchte hier noch auf das Phänomen der Selbstermächtigung des Architekten zu sprechen kommen. In den Sozialwissenschaften ist „Selbstermächtigung“ von Albrecht, Gebhardt, Geulen und Liebert definiert als Versuch, „die vorgegebenen Institutionen und damit die institutionelle Ordnung ‚spätmoderner‘ Gesellschaften durch neue Formen der ‚freien‘ Selbstorganisation zu überwinden.“ Was bedeutet das für die Architektur? Lange verhielten sich Architekten ein wenig wie Raymond Chandlers berühmter Privatdetektiv Philip Marlowe: Sie saßen in ihren Büros unter dem Ventilator und warteten, dass ein Auftraggeber durch die Tür platzt. Wenn keiner kam und einen Entwurf für bezahlbares Wohnen bestellte, wurde auch keiner angefertigt.

Jetzt aber werden immer mehr, gerade auch jüngere Architektinnen und Architekten aktiv und entwerfen ohne Auftrag Häuser, in denen sie gern wohnen würden; sie trommeln Freunde und Investoren zusammen, bilden Baugruppen, kämpfen bei den Bezirken um freie Grundstücke und bauen die Häuser, von denen sie denken, dass sie der Stadt fehlen. Diese Form von Selbstermächtigung ist umso ermutigender und wichtiger, als sie neuerdings auch von der Politik unterstützt wird.

Auch Politiker haben begriffen, dass man mit Baupolitik Wahlen gewinnen oder verlieren kann und dass es ein Fehler wäre, jetzt schnell, nur um das politische Soll zu erfüllen, tausende von den üblichen Wohnriegeln zu bauen, die mit unseren Lebensentwürfen nur noch wenig zu tun haben und die wirklich niemand mehr als auf eine öde funktionale Weise „praktisch“ findet. Ein erstes Ergebnis dieses neuen Interesses der Politik an der Frage, wie die Wähler wohnen wollen, ist das mit dreißig Millionen Euro geförderte Berliner Programm für experimentellen Geschosswohnbau; das Ergebnis wird eine kleine Miniatur-IBA zum Thema Wohnen sein.

BDA-Fest „20 Jahre DAZ“, Foto: Till Budde

Nun kann man mit Recht sagen, dreißig Millionen sind nicht viel, allein die historische Verzierung des jetzt etwas ruppig dastehenden neuen Berliner Betonschlosses wird ja das Dreifache dessen kosten, was die Stadt für die Erprobung neuer Wohnformen übrig hat – aber ein Anfang ist gemacht. Es sind gute, geradezu ideale Zeiten für Architekten. Ich betone das hier nochmal, und bewusst auch an die Adresse aller anwesenden Architekturstudenten. Sie haben mit Ihrer Berufswahl alles richtig gemacht; lassen Sie sich von niemandem das Gegenteil einreden. Als ich in den neunziger Jahren im Architekturstudium saß, erklärten uns einige Professoren, Architektur könne Gesellschaft allein ohnehin nicht verändern, höchstens das Vorhandene ein bisschen weiterbauen, und die Zeit der großen Entwürfe sei auch vorbei. Ich habe den Verdacht, dass dieses Argument vor allem von Vertretern der Zunft vorgetragen wird, die sich mit großen Entwürfen eher schwer tun und sich von daher freuen würden, wenn deren Zeit vorbei wäre. Ich habe es schon damals nicht geglaubt, und heute ist es noch weniger wahr. Es gibt fast nichts Spannenderes, als heute Architekt zu sein. Denn fast alle großen Krisen der Gegenwart sind in ihrem Kern Raum- und Immobilienkrisen.

Am Anfang der globalen Bankenkrise stand die amerikanische Immobilienblase. Klimawandel und soziale Spaltung der Gesellschaft werden dadurch verschärft, dass zu viele Menschen sich in den überteuerten Stadtzentren keine Wohnung leisten können und in die Vororte pendeln. In den südlichen Ländern Afrikas leben 72 Prozent der Bevölkerung in Slums. Nach einer Studie der ‚Deutsche Bank Research‘ wird die Zahl der Haushalte in den kommenden zwei Jahrzehnten um gut 700 Millionen zulegen. „Weil jedoch der Umzug eines Haushalts vom Land in die Stadt zusätzliche Wohnungsnachfrage induziert, müssen bis 2030 weltweit etwa eine Milliarde zusätzlicher Wohnungen fertiggestellt werden.“ Wie werden diese Hunderte von Millionen Wohneinheiten aussehen, die man bauen muss – und wer wird sie bauen? Es sind apokalyptische Zahlen, aber eben auch Aufgaben, die niemand besser bewältigen kann als die Architekten.

Vielleicht ist eines der Probleme der Architektenschaft falsche Höflichkeit. Ich meine damit nicht, dass Architekten auf riesigen Plakaten die hässlichsten Häuser der Stadt zeigen und dazu den Slogan „Mit Architekten wäre das nicht passiert“ rufen. Aber Architekten melden sich viel zu selten öffentlich. Sie rufen fast nie bei uns an. Ich wünsche mir aber, dass sie, die so viele gute Ideen, profunde Kenntnisse von bürokratischen Missständen haben, das tun. Wird der Architekt vielleicht gerade wieder eine kämpferische öffentliche Figur?

BDA-Fest „20 Jahre DAZ“, Foto: Till Budde

Es gibt einen neuen Aktivismus in Berlin, auch er ist vielleicht Teil dieses neuen Hangs zur Selbstermächtigung. Nicht aus der Politik, sondern aus der Berliner Architektenschaft stammt einer der besten Vorschläge, wie man Marktinteressen und Anstrengungen zur Erhaltung der sozialen Stadt durch einfache Eingriffe ins Bauverordnungswesen miteinander in Einklang bringen könnte. Es ist der Vorschlag, die erlaubte Traufhöhe in bestimmten Gegenden der Stadt um ein Geschoss anzuheben, so dass ein Penthouse gebaut werden kann – unter der Bedingung, dass die Eigentümer sich im Gegenzug verpflichten, eine Etage bei 6,50 Euro pro Quadratmeter zu vermieten. Den privaten Hauseigentümern und Developern von Neubauten würde das den Bau von attraktiven, teuer zu vermietenden Dachlagen ermöglichen – und gleichzeitig würden im Handumdrehen tausende von bezahlbaren Wohnungen geschaffen. Hier tritt der Architekt nicht nur als Hired Gun, als Entwerfer, sondern auch als Aktivist, als Gestalter von Gesellschaft auf.

Ein letztes noch: Ich habe über die Produktionsbedingungen von Architektur gesprochen, ich möchte auch etwas zu den Produktionsbedingungen von Texten über Architektur sagen. Ich hätte an dieser Stelle auch gern jemandem gedankt, mit dem ich über zehn Jahre wunderbar zusammengearbeitet habe und der viele Texte angeregt hat, einem wunderbaren Kollegen, für den ein Gebäude der Entwurf eines möglichen anderen Lebens war – und der diesen Preis des BDA schon vor Jahren erhalten hat: Ich hätte gern Dieter Bartetzko im Publikum zugewunken und gedankt, und es ist furchtbar, dass das nicht mehr möglich ist. Er hatte den berühmten Musil‘schen Möglichkeitssinn, der ja das ist, was das Bauen und das Schreiben verbindet: die „Freude am gedanklichen Erproben von Möglichkeiten, die über die Wirklichkeit hinausgehen, andererseits aber zu einer anderen Form des ‚Verstehens‘ der Realität führen“. (Vosskamp)

Dass ich jetzt vor Ihnen stehe, habe ich vor allem meinen Kollegen von der FAS zu verdanken. Es ist nicht selbstverständlich, dass man in einer Redaktion sagt: „Ich möchte ein riesiges Bild von einem sehr hässlichen Neubauviertel oder ein Bild dieser gipsernen Sahnetortenarchitektur der neuen Berliner Luxusresidenzen auf die Seite eins des Feuilletons setzen und einen Text schreiben, wie es zu diesen Scheußlichkeiten kommen konnte“, und die Kollegen sagen: „Super, wir freuen uns.“ Das ist nicht überall so.

Ich war 1998 eine kurze Zeit beim ‚Spiegel‘, dort bekam ich als allererstes gesagt, „lass das lieber mit der Architekturkritik, schreib lieber über Kunst, die Architekturkritiker sind nach den Ballettkritikern die ersten, die rausfliegen, wenn Stellen gekürzt werden.“ Und bei einer anderen Tageszeitung sah man, wie der Chef dem Architekturkritiker, als dieser in der Konferenz den Mund öffnen wollte, lachend entgegen rief: „Lassen Sie mich raten: Sie haben wieder dreihundert Zeilen über ein goldenes Stellwärterhäuschen in der Schweiz?“

BDA-Fest „20 Jahre DAZ“, Foto: Till Budde

Es ist ein unglaubliches Privileg und eine Freude, mit Kollegen zu arbeiten, die sich für Architektur interessieren, und die einem nachts noch Emails mit Links schicken zu neuen Projekten von Bjarke Ingels, und vier Fragezeichen dazu.

Und natürlich danke ich dem BDA, der ja eigentlich das Geburtstagskind ist und stattdessen so großzügig Preise verteilt. Wie sagte Peter Richter gestern [zum 100jährigen Jubiläum des BDA-Berlin am 3. Juli 2015, Anm. d. Red.] so treffend: „Es sind, wie es aussieht, die nächsten hundert Jahre, die wirklich zählen“. In diesem Sinne freue ich mich nicht nur über diesen Preis, der mir sehr viel bedeutet, sondern auch auf die kommenden Jahre mit Ihnen.

Dr. Niklas Maak (*1972) studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Architektur in Hamburg und Paris, promovierte 1998 zur Entwurfstheorie bei Le Corbusier und Paul Valéry. Nach einigen Jahren als Feuilletonredakteur und Streiflicht-Autor der Süddeutschen Zeitung kam er 2001 als Redakteur zum Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort leitet er heute zusammen mit Julia Voss das Kunstressort. Er unterrichtete Architekturgeschichte und -theorie unter anderem als Gastprofessor an der Frankfurter Städelschule sowie in Basel, Berlin und New York. Gegenwärtig lehrt er als John T. Dunlop Lecturer of Housing and Urbanization in Harvard. Im Hanser Verlag veröffentlichte er die Bücher „Der Architekt am Strand“ (2010), „Fahrtenbuch. Roman eines Autos“ (2011) sowie „Wohnkomplex. Warum wir neue Häuser brauchen“ (2014). Für seine Arbeit wurde er unter anderem mit dem George F. Kennan Award und dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet.

Anlässlich der Verleihung des BDA-Preises für Architekturkritik an Niklas Maak legt der BDA eine Festschrift vor, die neben ausgewählten Texten des Preisträgers auch die hier publizierte Laudatio von Karin Wilhelm und ein Gespräch zwischen Niklas Maak, Benedikt Hotze (Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BDA) und David Kasparek (Redakteur bei der architekt), zu Gegenwart und Zukunft der Architekturkritik versammelt. Die 48 Seiten umfassende Publikation kann in der Bundesgeschäftsstelle des BDA (Tel.: 030. 27 87 99 13; hotze@bda-bund.de) angefragt werden.

Fotos: Till Budde

 

 

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