Tagung des BDA und der Evangelischen Akademie in Tutzing

Master plans, they have no style

Was für ein Bekenntnis zu Stadt! Zwei Tage lang debattierten Fachleute unterschiedlichster Disziplinen auf ein Einladung des Bundes Deutscher Architekten BDA und der Evangelischen Akademie in Tutzing unter dem Titel „Lebensform Stadt“. Besonderes Augenmerk, so legte der Untertitel nahe, sollte dabei dem „Mensch als unbekannten Leitbild“ gelten. Der Arbeitskreis Stadtplanung im BDA und die Evangelische Akademie konzipierten die Veranstaltung als Abfolge von drei Begriffspaaren: „Gemeinsinn und Individualität“, „Inspiration und Leidenschaft“ sowie „Planung und Improvisation“. Als gelungen darf dabei der Clou angesehen werden, den Vortragenden drei Kommentatoren an die Seite zu stellen, die das Gesagte unmittelbar reflektierten und die Tagung so inhaltlich rahmten. Übernommen hatten diese anspruchsvolle Rolle die Vorständin der Bonner Montag Stiftung Urbane Räume, Frauke Burgdorff, der in München tätige und in Stuttgart lehrende Architekt Markus Allmann und der Weimarer Soziologe Frank Eckardt.

Den Anfang aber machte am Freitagabend bei einsetzendem Schneefall am Starnberger See der belgische Kurator und Theaterwissenschaftler Chris Dercon. Als Direktor hatte er das Münchner Haus der Kunst einst zu neuem Glanz verholfen, ehe er 2011 an seine jetzige Wirkungsstätte, die Tate Gallery for Modern Art in London, wechselte. Unter dem Titel „Stadt ist großartig“ sprach der designierte Intendant der Berliner Volksbühne über Commons – also jene Orte, die von jedermann im öffentlichen Raum zu nutzen seien. Anders als von Vielen vermutet, stellten Sharing-Modelle des Web 2.0 eben solche Entwicklungen nicht dar. Hintergrund von Firmen wie AirBnB oder Uber sei stets die persönliche Bereicherung Einzelner – nämlich die der Firmengründer – und nicht das Gemeinwohl. Dercon stellte in diesem Kontext die ehemalige Wichtigkeit von öffentlichen Parks und Freiflächen als Treffpunkte und Verhandlungsräume allgemeiner Anliegen in den Vordergrund, schränkte aber gleichzeitig ein, dass es solche Räume derzeit schon und in Zukunft immer weniger geben wird. Der wirtschaftliche Druck auf solche Flächen sei in Städten wie London, München oder Berlin schlicht zu groß. Dercon legt dar, dass es nun an den Theatern und Museen der Stadt sei, sich so für die Allgemeinheit zu öffnen, dass diese ihre Räume für deren Zwecke bespielen können. Im Zweifel müsse man dafür den Alltag „hacken“, also Lücken in den Gesetzen und Verordnungen suchen oder einfach Fakten schaffen. Und wenn das Ergebnis dann sei, dass immens viele Besucher einer Kunstausstellung diese vor allem aufsuchten, um dort mit Freunden picknickend mitgebrachte Heißgetränke eines internationalen Kaffeeriesen zu verzehren, dann sei das eben so.

Freiheit und Verantwortung

Statt eines Auftritts des erkrankten Wolf Lotter spielte man zu Beginn des Samstags einen kurzen Auftritt des Chefredakteurs der Zeitschrift brand eins ein. Unter der Sub-Headline „Freiheit und Verantwortung“ sollte so der Typ der „Selbstbestimmer“ umrissen werden. Gemeint sind damit jene Bürger der Stadt, die jene Verantwortung für sich übernehmen, die mit der eigenen und durch unseren digital geprägten Alltag abseits des Big Business herbeigeführten (Handlungs-)Freiheit einher ginge. Da Lotter selbst nicht anwesend sein konnte, blieb dies weitestgehend folgenlos, wenngleich der ihm gegenübergestellte Niels Boeing einwand, „schon gerne mal ein Wörtchen mit ihm gewechselt“ haben zu wollen. Boeing begleitete als Bewohner St. Paulis und Autor die dort entstehenden Stadtteilversammlungen. Hier übernimmt der Einzelne zwar auch Verantwortung – aber eben nicht nur für sich, sondern auch für seinen Stadtteil und dessen Bewohner. Boeing schlug unter anderem vor, ein neues städtisches Verwaltungsprinzip einzuführen, in dem die Stadtteilversammlungen schnell agierende und ortskundige laizistische Fachleute darstellten, die ihrerseits Vertreter in die administrativen Ebenen der Stadt entsenden könnten. Wenn Big Business, wie bei Lotter, „böse“ sei, dann sei für die Stadtentwicklung im Sinne der Bürger auch „Big Government“, wie wir es in unseren Städten bisher erleben, schlecht. Stattdessen sollten nicht nur Projekte wie die Hamburger „PlanBude“ Schule machen, sondern auch „Hilfe zur Selbsthilfe“-Projekte vermehrt von den Bürgern für die Bürger umgesetzt und dabei wenigstens nicht von den offiziellen Seiten der Stadt behindert werden.

Foto: David Kasparek

Foto: David Kasparek

Gemeinsinn und Individualität

Ulfert Sterz, Pastor in Hamburg, stellte in der Folge im Cluster „Gemeinsinn und Individualität“ das auf der Veddel initiierte Stadtteilprojekt „New Hamburg“ vor. Beeindruckend machte Sterz dabei die Wichtigkeit Einzelner für das Gelingen eines solchen Projekts deutlich, stellte zudem dar, wie wenig wichtig sich die Institution Kirche in diesem multikulturellen Kontext auf der Elbinsel nahm und wie groß die integrative Wirkung des Projekts vor Ort war. Umso bitterer die Erkenntnis, dass die von ihm bis Ende des Jahres 2014 bekleidete Planstelle eines Pastors gestrichen wurde. Auf Dauer scheint die Kirche ihre neue – und den aktuellen Erfordernissen der Stadt an dieser Stelle angepasste – Rolle nicht mehr wahrnehmen zu wollen. Die Arbeit führt dennoch derzeit eine, so Sterz, hochengagierte Vikarin weiter. Michael Hirsch legte anschließend seine Thesen zu einer anderen Aufteilung von Raum, Zeit und sozialer Praxis dar – mithin eine Anleitung zu einer „anderen städtischen Lebensform“. Das Manko des zu geringen Miteinanders machte der Autor und Privatdozent für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Siegen an der Überlastung der Menschen durch Gelderwerb fest. So könne keine relevante und die Stadt voranbringende kulturelle Arbeit geleistet werden. Er plädierte folglich dafür, Planstellen jeglicher Art künftig nur noch doppelt zu besetzen, auf dass jeder Zeit zur Erholung sowie dem Entwickeln und Ausleben kreativer Potentiale finde. Das Geld dafür könne beispielsweise aus einem Modell für ein bedingungsloses Grundeinkommen stammen. Klar sei dabei aber, dass das nicht ohne Umverteilungen und damit mit Einbußen derer vonstatten gehen könne, die viel mehr haben als die meisten anderen.

Foto: David Kasparek

Foto: David Kasparek

Geborgenheit und Sicherheit

Den Auftakt des dritten Abschnitts „Geborgenheit und Sicherheit“ machte Christian Pfeiffer. Der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen in Hannover wartete zunächst mit einer Reihe nüchterner und durchaus überraschender Zahlen auf. Der Wandel in der Erziehungskultur der letzten Jahre, den Pfeiffer mit „Weniger Hiebe, mehr Liebe“ überschrieb, führe dazu, dass es Kindern in Deutschland heute so gut ginge wie nie zuvor. Die Gesellschaft profitiere davon unmittelbar, sei doch die nachwachsende Generation deutlich weniger gewaltbereit. Die Zahlen der Jugendkriminalität seien ebenso rückläufig wie die im Bereich der sexuellen und gewalttätigen Übergriffe gegenüber Frauen. An letzterem machte Pfeiffer in der Folge eine teils schwer nachvollziehbare Kritik an der Einwanderungspolitik der aktuellen Bundesregierung fest. Eine durch eine „Machokultur“ geprägte Generation sei dadurch ins Land gekommen, die zum einen eine Trendwende dieser bis dato rückläufigen Zahlen einleiten könne und zum anderen ob der Einschränkung der Anerkennung als Asylsuchende durch die Erklärung sicherer Heimatländer entweder in die wirtschaftliche Not ihrer Herkunftsstaaten oder schlicht in die Illegalität hierzulande getrieben würden. Seehofer, so Pfeiffer, habe Recht, wenn er Obergrenzen für die Zuwanderung fordere. Kopfschüttelnd, wenngleich weitestgehend klaglos nahm das Auditorium diese Äußerungen hin.

Pfeiffers Gegenpart war die Darmstädter Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung Cornelia Koppetsch. Sie sekundierte ihrem Vorredner, dass das Leben an sich zwar sicherer geworden sei, die Angst aber bliebe und sich gewissermaßen andere Bereiche suche. Untersuchungen wie etwa die Shell-Studie zeigten, dass einer ganzen Generation von Menschen Sicherheit und Geborgenheit derzeit wichtiger sei als Freiheit und persönliche Selbstbestimmung. In der Stadt, so Koppetsch, stünden sich unterschiedliche, antagonistische Gruppen gegenüber, der Gemeinsamkeit der Wunsch nach Erhaltung und Festigung der Grenzen um das eigene Habitat sei. Auch das linke Bildungsbürgertum könne sich, so eine Vermutung Koppetschs, die eigene Toleranz gegenüber Flüchtlingen nur deswegen leisten, weil es letztlich eben doch nicht mit diesen um Wohnraum und Arbeitsplätze konkurrieren müsse.

Foto: David Kasparek

Foto: David Kasparek

Inspiration und Leidenschaft

Der Spätnachmittag schließlich war mit „Inspiration und Leidenschaft“ überschrieben. Guy Dermosessian, DJ und Kulturmacher der Zukunftskademie NRW, stellte sein Konzept für die Aneignung öffentlicher Räume vor. Ausgehend von Eindrücken seiner zerbombten Geburtsstadt Beirut, hatte Dermosessian in Karlsruhe und Bochum Aneignungen privater Räume für Ausstellungen, Konzerte und Parties organisiert. Aus der Partyreihe resultierte schließlich eine Art Spielanletitung für den Umgang mit einer öffentlichen Wiese eines Bochumer Parks. Tatsächlich inspirierend war der Vortrag der gebürtigen Schweizerin Anna Anderegg. Die Choreographin und künstlerische Leiterin der Kompanie „Asphalt Piloten“ aus Berlin stellte Tanzprojekte vor, die direkt mit dem jeweiligen Ort interagieren. Der öffentliche Raum wird dabei nicht nur als Bühne genutzt, die Tanz-Interventionen öffnen vielmehr neue Perspektiven und zeigen Zusammenhänge auf. Einen „hypersensiblen Raum“ beschrieb Anderegg als Ziel ihrer Arbeit. Diese würde natürlich von jedem Betrachter unterschiedlich wahrgenommen. Aber genau diese Differenz sei die Basis für Kommunikation. Architekten und Stadtplaner nannte sie dabei die „Choreografen der Stadt und Gebäude“.

Wer ihn noch nicht kannte, konnte sich als Abschluss des Abends den Film „Wem gehört die Stadt?“ von Anna Ditges ansehen, der die Geschehnisse rund um eine Kölner Bürgerinitiative beleuchtet, die sich erfolgreich gegen die vom Kölner Investor Paul Bauwens-Adenauer geplante Bebauung des Ehrenfelder Helios-Geländes mit einer Shopping Mall stemmte. Hier zeigte sich einmal mehr die Qualität der auch im Publikum breit aufgestellten Veranstaltung, als Anne-Luise Müller, Amtsleiterin der Kölner Stadtplanung, den Anwesenden zusammen mit Kölner Architekten den derzeitigen Stand dieses Prozesses erläuterte.

Foto: David Kasparek

Foto: David Kasparek

Planung und Improvisation

Klara Bindl, Gewinnerin des BDA-SARP-Award 2015 und Absolventin der RWTH Aachen, stellte am Sonntagmorgen als erste Rednerin des vierten Veranstaltungsaktes mit dem Titel „Planung und Improvisation“ ihre Abschlussarbeit vor. Ihre Masterarbeit sah Bindl dabei als Wiederschreibung eines der ersten deutschen Romane, dem Lalebuch, und mithin als Chronik einer Stadtgeschichte an. Eine Parabel über den Irrsinn des Bauens sei die Schilderung der Bautätigkeit der Bürger der fiktiven Stadt Laleburg. Die von der gebürtigen Bonnerin wunderbar illustrierte Geschichte erzählt den chaotischen Bau eines Rathauses, an dem sich jeder Bewohner der Stadt nach seinem Können und Geschmack einbringe, bis das Haus schließlich vollendet, der Rest der Stadt ob der in der Bauphase des Rathauses erfahrenen Vernachlässigung aber verfallen ist. Für den Wiederaufbau müssten schließlich die im Rathaus verbauten Materialien eingesetzt werden, was in letzter Konsequenz zu einem völligen Rückbau führte und damit zu einer Leerstelle in Stadt und Gesellschaft, die die Stadtbewohner einige Zeit später – nach dem Vergessen der Vergangenheit – auf ein Neues mit einem Denkmal für sich füllen wollen.

Christopher Dell bildete in einer Doppelrolle als Theoretiker und Musiker den Abschluss der Tagung. Er erläuterte seine Idee der Übertragung des Prinzips der Improvisation auf das Bauen. Dabei machte der Professor für Urbane Wissensformen, Organisationstheorie und relationale Praxis der HCU Hamburg deutlich, dass es ihm dabei nicht um die improvisierte Reparatur fehlgeleiteter Planung gehe, die wir auch heutzutage schon zuhauf fänden. Stattdessen schwebt Dell ein „konstruktiver Umgang mit der Unordnung der Gemeinschaft“ vor, bei dem nicht bereits vor der Planung feststünde, was für die „beplante Gesellschaft“ das Beste sei. Dabei seien die momentan bereits installierten Werkstattverfahren allesamt unbefriedigend, da die dort thematisierten Begrifflichkeiten zu unklar seien. Es fehle schlicht ein Transmissionsriemen für die Begriffe der heutigen Stadt. Es gelte, nicht länger der Wirklichkeit etwas Gedachtes überzustülpen, sondern vielmehr zunächst zu reden und zu recherchieren – und nicht zu zeichnen oder gar „all die hässlichen gelben Aufkleber auf Stellwände zu kleben“. Ein Stadtbegriff ohne epistemologische Begriffsklärung sei schlicht nicht möglich. Dell, der als bedeutendster zeitgenössischer Vibrafonist Europas gilt, gab in der Folge noch einen rund halbstündigen Einblick in sein musikalisches Können und damit einen wahrlich virtuosen Ausklang der Tagung.

Weg von der „guten Stadt“

In der Gesamtheit wagte die Tagung in Tutzing den Sprung aus der Stadt hinaus und in die große Politik hinein. Frank Eckhard plädierte danach für eine angemessene Betrachtung all jener Prozesse, die seiner Meinung nach von all zu vielen gar zu schnell als „Gentrifizierung“ subsummiert werden. Nie war das Leben besser, nie war es sicherer, nie haben so viele Menschen so viel Reichtum besessen und nie zuvor hatten so viele Menschen die Chance, sich nach ihren Wünschen zu verwirklichen. Auch wenn man als Zuhörer bei einer solchen Veranstaltung nicht immer alles verstünde, sei selbst dieses Nichtverstehen bereichernd, zeige es doch auf, dass „es weitere Horizonte gibt, die bereist werden können“, so der Soziologe augenzwinkernd. So hoffe er doch, von Idealen wie der „guten Stadt“ voller „best practice“-Beispiele wegzukommen. Frauke Burgdorff konstatierte, das Neue der Stadt sei nur denkbar und in der Folge auch gestaltbar, wenn ihre systematischen Probleme beleuchtet würden, ohne dabei die individuellen Biografien ihrer Bürger aus den Augen zu verlieren. Dazu zählte Burgdorff durchaus auch die ökonomischen Probleme, von denen zu klären sei, wie sie auf einem menschlichen Maßstab von der Allgemeinheit getragen werden könnten. Markus Allmann, der Dritte im Bunde der Kommentatoren, eröffnete seinen Kommentar mit einem Zitat der englischen Elektro-Gruppe „Groove Armada“: „Master plans, they have no ending/Master plans, they have no style”. Er wünschte den Architekten und Stadtplanern eine Gelassenheit im Heiderggerschen Sinne, also eben jenes Einlassen auf Neues und Unbekanntes, das die Stadt von heute ihnen entgegenbringe. Ein kritisch reflexives Denken sei vonnöten, Fehler würden ohnehin gemacht, also müsse man sich nicht übermäßig vor ihnen fürchten.

Mit den in Tutzing geschilderten Perspektiven kann man der Stadt als kybernetischem System eine durchaus positive Zukunft bescheinigen.

David Kasparek

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