Neu im Club: Henrik Becker Architekt BDA, Hamburg / Lübeck

Bestand im weitesten Sinne

Wir sind im Zentrum Hamburgs, nur wenige Minuten vom Bahnhof Altona entfernt. In einem der vielen 60er-Jahre-Bauten, die in diesem Quartier das Stadtbild prägen, befindet sich das Büro von Henrik Becker. Große quadratische Fenster schaffen ein lichtes und offenes Raumgefühl, neben Beckers Mitarbeitenden sitzen hier noch weitere Architektinnen und Architekten, die Atmosphäre ist geschäftig und konzentriert. Leider sei die Nutzung der Räumlichkeiten zeitlich begrenzt, erzählt Henrik Becker, während wir uns mit Kaffee an einem runden Konferenztisch niederlassen. Man sei hier nur für einige Zeit als Zwischennutzung einquartiert, daher müsse man wahrscheinlich demnächst nach einem neuen Ort innerhalb Hamburgs suchen.

Henrik Becker Architekt, Haus B, Timmendorfer Strand 2019, Foto: Lisa Winter

Dass Henrik Becker seinen Bürositz heute in Hamburg hat, hing unter anderem mit der Nähe zur Heimatstadt Lübeck zusammen, was gerade in der Anlaufphase der Bürogründung 2017 hilfreich war. Eines der ersten Projekte in Timmendorf an der Ostsee ergab sich beispielsweise aus dem erweiterten Bekanntenkreis. Das Zweifamilienhaus steht zwischen Wohnhäusern, die zum größten Teil aus den 1970er-Jahren stammen und verbindet vollflächig verglaste Wohnräume mit der Gravität eines Reetdaches. Das Reetdach beziehe sich dabei jedoch nicht auf die Bebauung im direkten Umfeld, sondern auf eine viel weiter zurückreichende Historie, so Henrik Becker: „Die Bauherren besitzen das Grundstück schon seit sehr langer Zeit und dort steht bereits ein winzig kleines Reetdachhaus. Ausgehend davon habe ich mich mit dem Baumaterial, seiner Kultur und seinen Verwendungsmöglichkeiten beschäftigt.“

Henrik Becker Architekt, Haus B, Timmendorfer Strand 2019, Foto: Lisa Winter

Mit seinem Studienort – der ETH Zürich – und den ersten Projekten, die er nach dem Studium in Zürich umsetzte, lässt sich das Timmendorfer Haus auf den ersten Blick nicht unbedingt in Verbindung bringen. „Zu Beginn meines Studiums haben mich vor allem die sehr strukturellen Schweizer Architekturen in Graubünden und Tessin fasziniert, die konsequent durchdacht und durchgearbeitet sind. Nach und nach habe ich diese Herangehensweise etwas erweitert durch die Beschäftigung mit Kontext und Geschichte von Architektur“, erzählt Henrik Becker. Neben der Schweiz zog ihn während des Studiums auch die belgische Architektur an, ein Jahr arbeitete er beim renommierten Brüsseler Büro OFFICE. Deren intensive Auseinandersetzung mit Vorbildern in der Architektur habe ihn sehr angesprochen: „…daraus wurde jedoch nichts kopiert, sondern eine zeitgenössische Architektur entwickelt. Zudem hat mir die Arbeit dort ein Verständnis für die Komplexität und Widersprüche in der Architektur vermittelt.“

Henrik Becker Architekt, Fisch 18, Lübeck 2021, Foto: Hannes Heitmüller

„Mehr und mehr befasse ich mich mit Bestand im weitesten Sinne, was aber sicher viel mit den vergangenen Bauaufgaben zu tun hat“, sagt Becker. Bestes Beispiel dafür ist das Haus Fisch 18, ein giebelständiges Mehrparteienwohnhaus in einem Neubaugebiet auf der Lübecker Altstadtinsel. Das im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörte Gründungsviertel wurde in den letzten Jahren – den UNESCO-Vorgaben für das Welterbe Lübecker Altstadt sowie dem Ergebnis eines Beteiligungsverfahrens folgend – zu großen Teilen in der engen Vorkriegs-Parzellierung wiederhergestellt. Leitbild für alle Häuser war das Lübeck-typische giebelständige Kaufmannshaus. Henrik Becker wollte jedoch weder eine historisierende Fassade wiedererrichten noch gestalterische Freiräume ungenutzt lassen: „Eine Schaufassade ist eine schöne und auch einzigartige Aufgabe“, sagt der Architekt über das 2021 fertiggestellte Gebäude. Die Schmuckelemente und Rundbogenfenster wurden dabei konsequent aus dem Material entwickelt: „Ich hatte von Anfang an Lust, ein Ziegelhaus zu machen. Dafür gibt es viele Vorbilder; mich haben aber insbesondere die relativ einfachen Gebäude, und vor allem die Lübecker Salzspeicher interessiert.“ Was es mit dem kuriosen hängenden Rundbogen im straßenseitigen Giebelfenster auf sich hat, erklärt er zum Schluss ebenfalls: „Neben den handwerklich hergestellten gemauerten Rundbögen wollte ich den Giebel mit einem dezenten, aber prägnanten Bauschmuckelement akzentuieren. Die modernen Produktionsmethoden kamen mir dabei zugute und machen nun auch ablesbar, dass es sich um ein zeitgenössisches Gebäude handelt“. Zugleich bietet der auch als Augenzwinkern lesbare Ziegel-Vorhang einen Sonnenschutz an dem nach Süden ausgerichteten Fenster.

Henrik Becker Architekt, Fisch 18, Lübeck 2021, Foto: Hannes Heitmüller

Den Wunsch von Bürgerinnen und Bürgern nach historischen Stadtbildern, der vielerorts – und auch in Lübeck – immer wieder geäußert wird, kann Henrik Becker durchaus nachvollziehen: „Das, was in Neubaugebieten oder auch in der Stadt neu gebaut wird, ist tatsächlich zum Teil schrecklich. Ich kann verstehen, dass viele Menschen Städte schätzen, die im Kern noch intakt sind, weil sie qualitativ viel bessere Räume bieten, städtebaulich wie auch architektonisch.“ Daher sieht er Gestaltungsbeiräte und Baubehörden in der Pflicht: „Ich denke, es ist absolut möglich, etwas Neues und Zeitgenössisches zu schaffen, das die Qualitäten des Bestands hat oder diese sogar übersteigt.“ Die entwurfliche Einbeziehung von Historie und baukulturellem Kontext bei einem Bauprojekt findet Henrik Becker jedoch auch in Bezug auf einen anderen Aspekt interessant: „Wie wir bauen müssen und was Vorschriften von uns abverlangen, stelle ich stark infrage. Der Blick zurück zeigt, dass es früher schon gute Lösungen gab, die oftmals besser sind als diejenigen, die von der Industrie und den Normen oktroyiert werden. Gerade die Technik und die Schichten sind heute völlig aufgebläht.“

Ein größeres Wohnungsbauprojekt umzusetzen, könne ein schöner nächster Schritt sein, so Becker: „Allerdings haben wir hier, wie fast alle jungen Büros, große Schwierigkeiten, in Verfahren hineinzukommen“. Jedoch wurden sie immerhin kürzlich zu einem Wettbewerb in Hamburg Bergedorf eingeladen: „Irgendjemand hat dort offenbar seine Stimme für uns erhoben, was uns natürlich sehr freut“, erzählt der Architekt und zeigt auf die Pläne an der Wand – die Aufgabe umfasst ein innerstädtisches Grundstück, auf dem Gewerbeflächen und Wohnungen geschaffen werden sollen. Auch an einem Wettbewerb der Münchner Genossenschaft Kooperative Großstadt für das Projekt Freihampton hat Becker gemeinsam mit seinen Büronachbarn Basista Jansen Architekten teilgenommen und einen dritten Preis erhalten. Insbesondere die unkonventionellen und experimentellen Verfahrensansätze der Genossenschaft sprechen Henrik Becker an, passenderweise ist er nun an einem partizipativen Anschlussprojekt involviert, das mit einer ganzen Reihe an Planenden, Architekturbüros und Laien durchgeführt wird. Dass Architektinnen und Architekten wie Henrik Becker jedoch insgesamt noch mehr Gelegenheiten erhielten, um auch in umfangreicheren Wohnprojekten Einfluss auf die hiesige Architekturlandschaft zu nehmen, wäre sehr wünschenswert.
Elina Potratz

www.hbarch.de

Talk mit Henrik Becker im DAZ
Donnerstag, 25. August 2022, 19.00 Uhr
Deutsches Architektur Zentrum DAZ
Wilhelmine-Gemberg-Weg 6, 2. Hinterhof
10179 Berlin
www.daz.de
www.neuimclub.de

Medienpartner: www.marlowes.de

Neu im Club wird unterstützt von Haushahn, Erfurt und Heinze
sowie den BDA-Partnern.

 

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