Buch der Woche: Eine Stadt wird bunt

Radikal demokratisierte Kultur

Was sich international präzise mit dem 11. August 1973 datieren und räumlich in der New Yorker Bronx verorten lässt, ist in Deutschland weniger genau zu taxieren: die Geburtsstunde von Hip Hop, der heute weltweit dominierenden Jugendkultur. Rap und von Rap geprägte andere Formen der Popmusik sind allgegenwärtig, Breakdance hat seine Spuren in den Choreografien der größten internationalen Musikstars ebenso hinterlassen wie im zeitgenössischen Ballett, Graffiti beeinflusst Künstler und wurde durch Stars wie Banksy zu einem internationalen Hype zwischen Instagram und Sotheby’s. Der im jamaikanischen Kingston geborene Clive Campbell veranstaltete an jenem Augustabend in New York eine Party, um von ihrem Erlös Schulbücher für seine kleine Schwester zu finanzieren. Campbell ging als Kool DJ Herc in die Geschichtsbücher ein, Rap und Dj-ing, Breakdance und Graffiti wurden Teile einer Kultur. In Deutschland gibt es verschiedene Impulse, die den Grundstein dessen legten, was uns heute in den Streaminglisten, Mode, Tanz und Kunst begegnet. Welche Momente dabei in Deutschland zum Entstehen einer Kultur führten, die seit Ende der 1990er höchst erfolgreich kapitalisiert wurde, zeichnet derzeit unter anderem die von Falk Schacht, DJ Ron, René Kästner und Stéphane Monthiers konzipierte und von Schacht moderierte Dokumentationsreihe „We wear the crown“ des Fernsehsenders Arte schön nach. Eines der Zentren, in denen sich Hip Hop als Kultur entwickelt, ist in den 1980er- und -90er-Jahren Hamburg. Wie anderswo, gibt es auch in der Hansestadt schon in den 1980ern Graffiti: Parolen an den Wänden, teilweise auch illustrative Elemente. Einer der großen Impulse für das Entstehen von Graffiti als Teil von Hip Hop in Deutschland aber ist 1983 das ZDF. Dort läuft am 7. April des Jahres ein Film mit dem Titel „Graffiti Wild Style“. Das ZDF hatte den Film, der im Original nur „Wild Style“ heißt, maßgeblich mitfinanziert, weshalb er noch vor Kinostart im deutschen Fernsehen gezeigt wird.

„Eine Stadt wird bunt“ heißt das Buch, dass die Geschichte von Graffiti in Hamburg nun nachzeichnet und auch hier taucht „Wild Style“ auf, wird von Protagonisten als Initialzündung genannt. Das Herausgeberquartett ­– Oliver „Davis“ Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und Andreas „Cario“ Timm – hat in einem organisatorischen Kraftakt zunächst wahre Grundlagenarbeit geleistet und aus verschiedenen privaten Archiven und Museumssammlungen unzählige Fotografien geborgen – teils bereits in erbarmungswürdigem Zustand. Protagonist:innen der Szene haben ihre Foto- und Zeichenbücher geöffnet, Interviews und Texte wurden gesammelt und schließlich eine Crowdfunding-Kampagne für eine Publikation im Eigenverlag ins Leben gerufen. Auf 560 Seiten treffen nun Texte von Sylvia Necker, Carsten Heinze, Christian Luda, Kathleen Göttsche und anderen auf über 1.300 Fotografien. Durch diese Dichte wird eine spannende Bandbreite abgedeckt, die von politischen Parolen, feministischen Empowerment-Botschaften, ersten Tags und Pieces hin zu detaillierten Schablonengraffiti und großformatigen Whole Cars führt. Diese und andere Begrifflichkeiten werden ebenso nachvollziehbar wie wichtige Protagonisten seit 1980 vorgestellt. Ein Whole Car etwa ist ein komplett bemalter S- oder U-Bahn-Wagen.

Bemerkenswert ist das Buch deswegen, weil es sich nicht in einer Nabelschau aus und für die Szene ergeht, sondern das Phänomen Graffiti in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext einbettet. Der Soziologe Carsten Heinze etwa beleuchtet die Wichtigkeit von Graffiti für die Identitätsbildung Jugendlicher im Spannungsfeld zwischen Kunst und Widerstand. Der kluge Text von Sylvia Necker bettet die Entstehung der Szene in einen stadträumlichen und architekturhistorischen Zusammenhang ein. Nicht zuletzt lässt sich die Stadtentwicklung der Hansestadt anhand der Vielzahl von Bildern auf einer interessanten, weil abseits der tradierten Darstellungsmuster entstandenen Ebene nachvollziehen. Mit dem schlussendlichen Durchbruch von Hip Hop als marktrelevantes Gegenwartsphänomen – etwa durch die Charterfolge von Hamburger Rappern wie Samy Deluxe (und dem Dynamite Soundsystem), den (damals noch „Absoluten“) Beginnern, Eins Zwo oder Fettes Brot – endet das Buch 1999.

So macht „Eine Stadt wird bunt“ deutlich, wie radikal Kunst durch Hip Hop demokratisiert wurde. Dank ihr waren die Kids, die weder über die monetären Mittel verfügten noch die sozio-ökonomischen Zugangscodes beherrschten, nicht mehr auf Konzerthäuser, Ballettsäle und Museen angewiesen. Gerappt wurde im Cypher an der Straßenecke oder im Jugendhaus, wo ebenso von B-Girls und -Boys getanzt wurde wie auf der Zwischenebene der U-Bahnstationen, die Gebäude der Stadt selbst wurden zur Leinwand, die nicht länger irgendwo im Innern und gegen Eintrittsgeld ausgestellt wurde. Das räumliche Gefüge der Stadt wurde damit zu einer tatsächlichen szenischen Hintergrundfolie, vor der das kulturelle Leben von seinen Protagonistinnen und Protagonisten selbst ausgetragen wurde. Die „Hamburg Graffiti History“ macht klar: Die öffentlichen Räume der Stadt selbst sind der Austragungsort von Kultur.
David Kasparek

Oliver „Davis“ Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und Andreas „Cario“ Timm (Hrsg.): Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980–1999, 560 S., über 1.300 farb. u. sw. Abb., Hardcover Double-H, Hamburg 2021, 59,90 Euro, ISBN 978-3-00-069133-1 1

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert