Buch der Woche: Spolien

Fremde Federn

Der Tag, an dem 1989 die Mauer fiel und sich das Ende der DDR ankündigte, war ironischerweise der gleiche, der von eben diesem Regime als eine Art Gründungsmythos zelebriert wurde: Am 9. November 1918, nach der Novemberrevolution, die den Kaiser seine Krone kostete, rief Karl Liebknecht die Republik aus. Er stand dabei, so will es die Legende, vis-à-vis dem Lustgarten auf einem Balkon des Berliner Schlosses.

Berlin, Staatsratsgebäude: Foto: Axel Mauruszat (CC BY 3.0 DE)

Diesem Umstand haben wir es zu verdanken, dass der entsprechende Risalit mit dem Balkon, das sogenannte Portal IV, in Teilen vor der Sprengung des monarchischen Baus 1950 gerettet wurde. Die Überreste bezogen Roland Korn und Hans Erich Bogatzky in den frühen 1960er Jahren in das von ihnen errichtete Staatsratsgebäude ein, das heute – ausgerechnet – der European School of Management and Technology als Sitz dient.

Diese gezielte Wiederverwendung von Architekturelementen, die nicht nur aus dem Materiellen schöpft, sondern inhaltlich begründet ist, betrachtet Hans-Rudolf Meier, Professor für Denkmalpflege und Baugeschichte an der Bauhaus-Universität Weimar, in seinem Buch „SPOLIEN. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur“. Das Überblickswerk erforscht den Einsatz von Spolien epochenübergreifend in Hinblick auf architekturhistorische, medientheoretische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen. Nach einem historischen Abriss sowohl der Spoliierung als auch der damit befassten Forschung („Spolie als Architekturbegriff“) werden im zweiten Kapitel ausführlich „(Be-)Deutungen“ der Spolienverwendung beschrieben. In „Objekte und Orte“ stehen ausgewählte Bauteile und ihr architektonischer Kontext im Fokus, während sich das folgende Kapitel den „Materialien und ihrer Verfügbarkeit“ widmet. Anschließend wendet sich der Autor eingehend der spezifischen Art und Weise der Spolienverwendung zu („Praktiken und Wirkungen“). Inwieweit die Spoliierung gestalterisch in den Entwurfsprozess einwirkt, untersucht schließlich das Kapitel „Spolien und Entwerfen“.

Foto: JOVIS

Das Buch erscheint in einer Zeit, in der die Wiederverwendung von Bauteilen aus ökologischer Sicht immer drängender wird. Nachhaltiges Bauen bedarf des Recyclings – bevorzugt des Upcyclings, das die Umwandlung in eine höhere Qualität beschreibt – im Sinne einer Kreislaufwirtschaft, um graue Energie zu erhalten. Dabei sollte Urban Mining sich nicht in dem Gedanken der Stadt als materiellem Rohstofflager erschöpfen, sondern auch den semantischen Implikationen einer Wiederverwendung Beachtung schenken (siehe weiterführend dazu der architekt Heft 4/2020 unter dem Titel „Material der Stadt“, insbesondere das Gespräch zwischen Meier, Andreas Hild von Hild und K. Architekten und dem Chefredakteur Andreas Denk). Einer Spoliierung liegt laut der Definition Meiers ein solch bewusster Umgang mit dem Vorrat an Zeichen notwendigerweise zugrunde. 

Diese Berücksichtigung der immanenten Zeichenwelt lässt sich, um den Bogen zu schließen, für die Rekonstruktion des Portals IV des Stadtschlosses am Staatsratsgebäude eindeutig feststellen. Als Relikt des deutschen Kaisertums kann man die Spolienverwendung hier einerseits als eine feindliche Übernahme im Sinne einer Trophäe interpretieren; andererseits stellte sich das DDR-Regime damit in die Tradition Karl Liebknechts, was nicht nur wertschätzend sondern dezidiert legitimatorisch zu lesen ist.

Wenige Meter neben dem Bau Korns und Bogatzkys wurde nun auch das Schloss in seiner äußeren Anmutung wieder aufgebaut. Spaziert man also dieser Tage durch Berlin, begegnet einem das „Liebknecht-Portal“ gleich zweimal: Ein falsches am rechten Ort, das richtige am falschen.
Theresa Jeroch

Hans-Rudolf Meier: Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur. Hardcover, 240 Seiten, 156 farb. Abb., Deutsch, Jovis, Berlin 2020, 38,– €,
ISBN 978-3-86859-651-9

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