Für einen lebendigen Begriff

Sieben Thesen zur Ästhetik der Nachhaltigkeit

Die Zukunft ist nicht mehr das, was sie einmal war, ist nicht mehr Raum unbekannter und unbegrenzter Möglichkeiten: Ausgehend von den Veränderungen, wie sie den heutigen Debatten um Nachhaltigkeit zugrunde liegen, zeigt der Architekturtheoretiker Jörg H. Gleiter mit seinen Thesen zur Ästhetik der Nachhaltigkeit auf, dass wir uns in einer Phase des Übergangs befinden: von der fortschreitenden, offenen Zeit der Moderne zu einer Neukonzeption der Zeit, wo der Sachwiderstand der zukünftigen Gegenwart die Parameter für die aktuelle Gestaltung der Zukunft bestimmt und der Glaube an die utopische Vollendung verloren gegangen ist.

Die Debatten um die Nachhaltigkeit schneiden tief ins Bewusstsein des Menschen von sich und seiner Stellung in der Welt ein, mehr als man im Moment wahrhaben möchte. Sie verändern dabei auch die Konzeption der Architektur, aber nicht etwa nur in weiter Zukunft, sondern jetzt, heute, besonders in der Verbindung von Nachhaltigkeit und künstlicher Intelligenz. Sicherlich, es sind notwendige Maßnahmen, aber mit der Reduzierung des Ressourcen- und Flächenverbrauchs oder der CO2-Produktion bewegen sich die Debatten weitgehend im Vorhersehbaren und Konventionellen. Sie bleiben dabei an der Oberfläche und dringen nicht zum Kern vor. Eher verstellen sie den Blick dafür, dass wir es mit Veränderungen zu tun haben, die das Potenzial besitzen, die Architektur aus ihrer bisherigen 500-jährigen modernen Konzeption abzulösen.

Im Folgenden dazu einige Überlegungen, gefolgt von sieben Thesen einer Ästhetik der Nachhaltigkeit. Warum Ästhetik und nicht Theorie der Nachhaltigkeit? Weil in der formalen, materiellen und räumlichen Figur der Architektur die theoretische wie auch philosophische Konzeption zur sinnlichen Anschauung kommt. Theorie und Philosophie liegen nicht einfach der Architektur zugrunde, sie kommen zur Sichtbarkeit und zeigen sich in der mit allen Sinnen wahrnehmbaren, also ästhetischen Gestalt der Dinge.

Wollte man nun fragen, was die Architektur heute auszeichnet, so kann die Frage nur im größeren Kontext der allgegenwärtigen apokalyptischen Zukunftsszenarien beantwortet werden: Es ist die Erfahrung, die wir täglich machen, dass die Zukunft heute nicht mehr offen ist, auf jeden Fall nicht mehr so offen, wie das noch in der Moderne der Fall war, als alles möglich und alles erlaubt schien. Mit den vielfältigen Krisenerscheinungen und dunklen Aussichten, die sich mit ihnen abzeichnen, scheint sich die Zukunft wieder zu verschließen.

Was bedeutet das? Wie zeigt sich das? Und was hat das mit Nachhaltigkeit zu tun? Dazu vorweg soviel: Das architektonische Projekt war immer utopisch. Projekt war, was neue Möglichkeiten für das Leben imaginierte. Das architektonische Projekt war immer ein Medium der Projektion neuer Modelle eines besseren Lebens. Jedes Projekt eines noch so bescheidenen Einfamilienhauses war Träger des Versprechens für ein befreites Leben. Das ist heute nicht mehr so, auf jeden Fall nicht mehr uneingeschränkt. Die Zukunft ist nicht mehr Raum unbekannter und unbegrenzter Möglichkeiten, wie das noch vor einiger Zeit war. Man muss nur an die großen Utopien der 1960er Jahre denken wie zum Beispiel an die Zukunftsvisionen der Architektengruppe Archigram oder Archizoom, an die utopische Idee einer die Welt umspannenden Röhre von Günther L. Eckhardt oder auch, weiter zurück, an die utopischen Entwürfe einer gerechten und befriedeten Gesellschaft bei Thomas Morus (1517) oder Tommaso Campanella (1623).

Utopie aber ist ein modernes Projekt, das im Kontext der Renaissance und der Entdeckung Amerikas entstanden ist. Das utopische Denken ist das Resultat eines langen Befreiungsprozesses aus den religiösen Erzählungen vom nahen Ende der Zeit, von der Apokalypse oder vom jüngsten Gericht. Das moderne Denken setzte sich nach und nach davon ab, die Moderne emanzipierte sich davon und öffnete die Zukunft einem offenen Erfahrungshorizont. Vor dem Hintergrund der Rückkehr apokalyptischer Zukunftsszenarien scheint es jedoch, als ob heute das Modell einer offenen Zukunft an sein Ende gekommen sei. Das zeigt sich in der Wandlung des Modells der Zukunft und der Zeit. Es unterscheidet sich unser heutiges Verständnis der Zukunft von dem der Moderne darin, dass vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen die Zukunft nicht mehr das völlig Unbekannte ist, was sich ins Offene öffnet, wie es Giorgio Agamben in „Das Offene“ (1) beschrieben hat. Im Gegenteil, die Zukunft ist gerade dabei, sich zu verdunkeln, sie wird opak und löst Ängste aus. Die Zukunft ist nicht mehr, was uneinholbar vor uns hereilt, von dem wir nur den Rücken sehen, dessen Antlitz aber verborgen bleibt.

Die Zukunft hat sich umgedreht, sie schaut uns heute unmittelbar ins Gesicht. Die Algorithmen der Computerprogramme zeigen uns die Zukunft und antizipieren, was unausweichlich passieren wird, wenn nichts passiert, wenn sich nichts ändert. Unsere heutigen Erzählungen von der Zukunft sind von apokalyptischen Visionen vom Ende der Menschheit durchzogen. Die Zukunft geht heute eine Verbindung ein, die die Moderne in einem langen Prozess entkoppelt hat: Die Verbindung von Utopie und Apokalypse. Wir dürfen heute nicht mehr hoffen, was früheren Generationen Ansporn war, dass in einem kontinuierlichen Prozess der Transformation sich die Erde zu einem für den Menschen besseren Ort verwandeln ließe. Apokalypse und Gegenwartspraxis sind wieder aufs Engste ineinander verschränkt und stehen in einem gegenseitigen Wirkungsverhältnis. Das heißt, dass das praktische Handeln heute nicht mehr alleine vom Willen zur Emanzipation des Menschen über die Natur motiviert ist, sondern von einer vorgezeichneten dystopischen Zukunft, die es zu verhindern gilt.

Der Philosoph Arnold Gehlen sprach in Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt vom „Sachwiderstand“ (2) der Dinge, dass der Mensch nicht souverän über die Welt und die Dinge verfügen kann, sondern diese auch einen eigenen Willen haben, mit dem sie sich dem Willen des Menschen widersetzen. Man kann vom Eigenwillen der Dinge sprechen. Das gilt, wie Gehlen feststellte, für alle materiellen Dinge wie Werkzeuge, Geräte und Maschinen, aber auch für immaterielle Dinge wie die Institutionen, die der Mensch erfunden hat und von denen sein Überleben in Gemeinschaft abhängt. In diesem Sinne ist aber auch die Erderwärmung ein Ding, das seine eigene Dynamik hat und erkennbar dem Menschen Widerstand leistet.

In diesem Sinne stellt sich uns heute die Zukunft mit ihrem Sachwiderstand in den Weg. Sie ist nicht mehr Medium eines grenzenlosen Freiheitsversprechens, nicht mehr utopischer Projektionsraum für die Emanzipation des Menschen von den Beschränkungen der Natur. So ist auch das architektonische Projekt heute nicht mehr, wie zuvor noch, offenes Medium neuer Lebensentwürfe und ihrer Realisierung. Wo der Sachwiderstand der Dinge zum Sachzwang des Menschen wird, ist die Architektur nicht mehr Medium übermütiger Erfindung von neuen Räumen oder utopischen Modellen einer „künftigen Gegenwart“ (3).

Eine der Aufgaben des architektonischen Projekts heute, man kann es nicht anders sagen, liegt in der Verhinderung von Zukunft. Und wenn nicht in der Verhinderung, so zumindest im Aufhalten oder Aufschieben der Apokalypse, dass nicht passiert, was vorhergesagt wird. Damit kehrt im 21. Jahrhundert zurück, was vor gut 2000 Jahren die früh- und protochristliche Theologie geprägt hat: das katechon. Was so viel heißt wie das Aufhalten der Zeit mit dem Ziel, das Ende, die Apokalypse und das jüngste Gericht zu verzögern.

Hieronymus Bosch, Garten der Lüste, Museo del Prado Madrid, 1495-1505, Foto: Wikimedia Commons (CC0)

Einiges spricht dafür, dass im Bewusstsein des Menschen für seine Stellung in der Welt sich etwas Fundamentales verändert. Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs von der fortschreitenden, offenen Zeit der Moderne zu einer Neukonzeption der Zeit, wo der Sachwiderstand der zukünftigen Gegenwart die Parameter für die aktuelle Gestaltung der Zukunft bestimmt. Dem Willen zur Zukunft steht der Sachwiderstand der Zukunft gegenüber. Wo der Glaube an die utopische Vollendung verloren gegangen ist, wo der Sachwiderstand aus der Zukunft mehr und mehr das architektonische Projekt konfiguriert – und eben nicht mehr alleine der Zukunftswille –, da zeigt sich das architektonische Projekt in einer neuen, in sich gebrochenen Konzeption. Es wandelt sich vom utopischen zum dialektischen Projekt.

Damit sind einige der Veränderungen skizziert, wie sie den Debatten um Nachhaltigkeit zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun in Thesenform einige Grundsätze einer Ästhetik der Nachhaltigkeit formulieren.

These 1: Im lärmenden Reden über die Bauwende kommt eines abhanden: Eine integrale Idee von Nachhaltigkeit. Der Nachhaltigkeitsgedanke bleibt defizitär, wenn man ihn nur auf den ökologischen Fußabdruck, auf die Reduktion des Verbrauchs von Material, Boden und Energie reduzieren wollte. Nachhaltigkeit im Sinne der longue durée ist nur als Mehrwert denkbar.

Ein Missverständnis ist zu glauben, dass nur in der Einschränkung und Diminuierung des Lebens das Überleben des Lebens möglich sei. Im Gegenteil, Nachhaltigkeit kann nur in der Potenzierung des Lebens bestehen, indem das Leben sich in die Materie und die Formen einschreibt. Das Prinzip der Nachhaltigkeit besteht im Mehr des Lebens und nicht im Weniger.

These 2: Das Prinzip allen Lebens besteht im Überschuss an Energie. Im Zentrum der Frage nach der Nachhaltigkeit steht daher die Frage nach der Verausgabung des Überschusses an Energie des Menschen. Nicht Beschränkung oder Verdrängung, sondern produktive Umlenkung des Überschusses an Energie ist die Herausforderung und das große Projekt der Menschheit. Ob es gelingt und wie es gelingt, daran wird sich die Zukunft der Menschheit entscheiden.

Francesco Corni, Transformation des röm. Stadttors zu einer Burg in Turin (ca. 1000 n. Chr.), 1994 – 1997 Abb.: Francesco Corni Foundation

Es gehört zur paradoxen Konzeption der Nachhaltigkeit, dass ihr nicht Verzicht, sondern das Zuviel an Energie ursächlich als treibendes Prinzip eingeschrieben ist. Die Vitalität einer Gesellschaft kann am „Antriebsüberschuss“ (4) gemessen werden, so Arnold Gehlen (1904 – 1976). Verausgabung des Überschusses ist aber nicht gleichbedeutend mit Verschwendung, wie man an den großen symbolischen Werken wie Kathedralen oder Fußballstadien und ihren gesellschaftsbildenden Ritualen sieht. Dies war auch die Motivation für die riskante Konstruktion der gigantischen Kuppel von Santa Maria del Fiori in Florenz vor 600 Jahren durch Filippo Brunelleschi (1377 – 1446). Ihr Erhalt hat bis heute die Funktion der ritualisierten Gemeinschaftsbildung. Mit Georges Bataille (1897 – 1962) ist die produzierte Energie „stets größer als die Summe, die notwendig war für die Produktion“ (5). Dabei geht der Elan vital oder das Energiequantum des Menschen weit über die „Befriedigung unmittelbarer physischer Bedürfnisse“ (6) hinaus. Nachhaltigkeit ist aufs engste an den Überschuss an Energie gebunden als Voraussetzung für das „Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität“ (7). Es wäre ein Irrtum, Nachhaltigkeit durch Unterdrückung und Einschränkung des Élan vital erzielen zu wollen. Eine nachhaltige Entwicklung kann nur aus der Umlenkung des Antriebsüberschusses des Menschen entstehen, nicht aus dessen Verdrängung.

These 3: Sein materielles Pendant hat der Überschuss an Energie im Überschuss an Form. Die Möglichkeit der Gestaltbarkeit der Materie zu unterschiedlichen Formen ist Voraussetzung für Kreativität – was Grundlage dafür ist, dass der Mensch Materie zu Artefakten, Geräten und Werkzeugen formen kann, die sein Überleben auf der Erde ermöglichen. Gleichwohl liegen die Grenzen im Exzess des gestalterischen Eingriffs. Es zeigt sich dessen paradoxe Konstitution. In Kombination mit dem Überschuss an Energie liegt im Überschuss an Form der Grund für die Entzweiung zwischen Mensch und Erde wie auch, wo diese auf Nachhaltigkeit zielt, die Hoffnung auf deren symbiotische Versöhnung.

Man stelle sich nur vor, dass die Materie – sei es nun Holz, Stein, Lehm, Stahl oder auch Kunststoff – keinen Überschuss an Form zuließe, und sie sich in nur einer Form verkörperte. Es wäre alles vorbestimmt, es bedürfte dann keines Architekten. Erstmals und am Beispiel der Architektur hat dies Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) in Metaphysik beschrieben, dort unter dem Begriff der Stoff-Form-Relation. Materie kommt immer in Form oder Gestalt vor, die nicht völlig determiniert ist, die gestaltet werden kann, die gerade danach verlangt, gestaltet zu werden. Dafür kam im 19. Jahrhundert der Begriff Hylemorphismus auf. Einen Hinweis auf die Bedeutung des Hylemorphismus gibt das dem Vorsokratiker Anaxagoras (ca. 500 – 428 v. Chr.) zugeschriebene und von Aristoteles überlieferte Wort, dass der Mensch das klügste der Tiere darum sei, weil er Hände hat (8). Er ist dadurch, wie man ergänzen kann, auch das freieste. Der Überschuss an Form erlaubt dem Menschen überhaupt das, was Hannah Arendt (1906 – 1975) als „herstellende Lebensweise“ (9) bezeichnet hat. Er kann in freier Entscheidung eine seinen Bedürfnissen angemessene Umwelt schaffen, wie gleichzeitig, wie wir heute wissen, in Ignoranz diese zerstören. Es liegt dem Hylemorphismus der Imperativ nach Nachhaltigkeit zugrunde.

These 4: Man muss heute von einem Zustand totaler Urbanität sprechen. Es gibt keine Orte, die der Mensch nicht schon betreten hätte. Selbst die letzten Winkel der Erde sind vermessen und kartographiert. Wenn wir von totaler Urbanität sprechen, so ist das gleichbedeutend mit totaler Interiorität. Es gibt kein Außen mehr auf dieser Welt – keine unbekannten Kontinente, keine unerforschten Gebirge oder Meerestiefen. Selbst das menschliche Genom ist entschlüsselt. Es gibt damit keine Ausflüchte, es fehlen die „anderen Räume“ für die Utopie eines anderen Lebens. Es gibt nur diese Erde. Totale Urbanität beschreibt damit die neue Einsicht in die nicht hintergehbare Einheit von Mensch, Artefakt und Erde.

Francesco Corni, römisches Stadttor in Turin (um 100 n. Chr.), 1994 – 1997 Abb.: Francesco Corni Foundation

Urbanität (10) leitet sich vom lateinischen urbanitas ab. Der Begriff urbanitas geht auf die Antike zurück und beschrieb den Makrokosmos des Zusammenlebens im verdichteten, also städtischen Raum. Längst hat sich aber der Begriff vom alleinigen Bezug auf die Stadt abgelöst. Er verweist heute auf die Allgegenwart des Menschen auf der Erde. Der Bedeutungswandel deutete sich bei Immanuel Kant (1724 – 1804) an. In Kritik der Urteilskraft gebrauchte er zwei Mal den Begriff, ohne ihn zu definieren. Er scheint zum Allgemeinwissen gehört zu haben. Im Sinne Kants bedeutet Urbanität soviel wie „Nachbarschaft“ und meint die Formen gut-nachbarschaftlicher Beziehung. Der Begriff der totalen Urbanität geht dabei weit über die zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus und enthält die Forderung nach einem neuen nachbarschaftlichen Umgang auf globaler Ebene von Mensch, gebauter Umwelt und System Erde.

These 5: Nachhaltigkeit im Sinne der Transformation, des Weiter- und Umbauens befreit die Architektur vom Druck, ständig das Neue mit einem noch Neueren ersetzen zu müssen. Es verbindet sich damit die Chance auf Rückkehr zu dem, was Architektur in ihrem Kern ausmacht, aber mit der industrialisierten Moderne verloren gegangen ist: Permanenz. Ein anderer Begriff dafür ist Nachhaltigkeit. Damit kann die zeitgenössische Architektur endlich werden, was ihr von den Modernen lange vorenthalten worden ist: Architektur im eigentlichen Sinne.

Francesco Corni, Transformation der Burg zum Palazzo Madama durch Filippo Juvarra (ca. 1718 n. Chr.), 1994 – 1997 Abb.: Francesco Corni Foundation

Langsam, und doch nur unter Androhung von Vernichtung, scheint sich der common sense gegen den modernen Zwang durchzusetzen, ständig das Neue durch das Neueste ersetzen zu müssen. Das ist aufs Engste mit dem Begriff der Permanenz verknüpft. Wobei Permanenz soviel bedeutet wie Wandel der Architektur mit dem Ziel, sich im Kern gleich zu bleiben. Wie der Palazzo Madama in Turin, der sich über gut 2000 Jahre aus einem römischen Stadttor entwickelt hat. Er ging durch verschiedene Phasen des Weiterbauens, das heißt des teilweisen Abbruchs, des Um- und Anbauens hindurch. Sie lassen sich bis heute klar unterscheiden und erfahren. Es entstand ein in sich widersprüchliches, gleichwohl offenes Ganzes. Es zeigt sich hier die Architektur als kulturelle Praxis, die durch Aufnahme widersprüchlicher Einflüsse und deren Amalgamierung entsteht und durch Transformation ihrer selbst, wie auch Musik, Sprache oder Kunst, ihre Identität herausbildet und gleichzeitig erhält. Ein anderer Begriff dafür ist Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit heißt dann soviel wie Transformation der Architektur durch Aufnahme der Widersprüche in ihren Gehalt und nicht durch deren Eliminierung.

These 6: Eine kritische Ästhetik der Nachhaltigkeit zielt auf das, was Architektur im Kern auszeichnet: Großzügigkeit gegenüber den Menschen. Das heißt in der Gegenwart, Potenziale für das Leben zu eröffnen und für zukünftige Generationen offen zu halten. Und nicht umgekehrt, diese zu schließen. Nicht Reduzierung auf Funktion sondern Offenhalten der Architektur für Affordanz, dass also die Architektur uns einlädt, zu unterschiedlichen Zeiten Unterschiedliches mit ihr zu machen und zuweilen geradezu das Gegenteil von dem, was einstmals die Intention war. Großzügigkeit ist, was der Nachhaltigkeit zugrunde liegt.

Nachhaltigkeit heißt Öffnen der Architektur ins Offene. Großzügigkeit ist es, was den schöpferischen, kreativen Akt ausmacht. Dafür steht der Begriff und der Akt der poiesis. Poiesis meint Erschaffung des Neuen aus einem Akt der Öffnung des Bestehenden, das heißt aus einem Prozess der Transformation, Morphogenese und Metamorphose. In diesem Sinne ist Nachhaltigkeit das Gegenteil der modernistischen Avantgarde. Denn der Gedanke der Nachhaltigkeit geht immer davon aus, was ist. Er ist das Gegenteil der modernistischen Tabula rasa. Nachhaltig ist also nicht die Sache, sondern der kreative, poietische Akt, der materielle und räumliche Artefakte hervorbringt, die ihrerseits wiederum zu Auslösern neuer poietischer Akte, Gedanken und Handlungen führen.

These 7: Wir benötigen keine radikal neue Theorie der Nachhaltigkeit oder der Architektur. Nötig ist eine Theorie als „Kritische Ästhetik der Nachhaltigkeit“. Diese hat die bestehenden Theorien und Praktiken auf ihre Defizite, aber auch auf ihre Potenziale hin zu hinterfragen. Kritische Theorie ist nicht Metatheorie, sondern eine an der Praxis und ihren gesellschaftlichen Bedingungen ausgerichtetes Hinterfragen der Konventionen, der Klischees und vorgefertigten Meinungen – von denen es heute so viele gibt.

Eine kritische Ästhetik der Nachhaltigkeit hat die Theorie selbst auf ihre inhärenten Ideologien und verhärteten, pseudoreligiösen Glaubenssätze zu hinterfragen. Dazu gehören heute die regressiven orthodoxen Spar-, Reduktions-, Einschränkungs- und Selbstkasteiungsideologien, in denen verhärtete Positionen der orthodoxen Moderne und mit ihr die schlecht verdrängte protestantische Moral zurückkehren. Die Kernfrage der Nachhaltigkeit betrifft nicht die Reduktion, sondern die Frage nach dem kreativen Umgang mit dem Überschuss an Energie, ohne den es kein Leben geben kann.

Prof. Dr.-Ing. habil., M. S. Jörg H. Gleiter, Mitglied des BDA, war von 2005 bis 2012 Professor für Ästhetik an der Fakultät für Design und Künste an der Freien Universität Bozen. Seit 2012 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Architekturtheorie an der TU Berlin. Jörg H. Gleiter ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift, Herausgeber der Buchreihe Architektur-Denken im Transcript Verlag und Mitherausgeber der Internetzeitschrift für Theorie der Architektur Wolkenkuckucksheim.

 

(1) Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt / M., Edition Suhrkamp 2003.

(2) Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt / M., Klostermann 2016, S. 288.

(3) Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt / M., Suhrkamp 1993, S. 18.

(4) Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt / M., Klostermann 2016, S. 422.

(5) George Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie, München, Matthes und Seitz 2001, S. 289.

(6) Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt / M., Klostermann 2016, S. 422.

(7) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Piper 2019, S. 21.

(8) S. h. Aristoteles, Von den Teilen der Tiere IV, 10.687  a.

(9) Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Hamburg, Piper 2019, S. 20.

(10) Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Frankfurt / M., Suhrkamp 1996, § 53, S. 269.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert