Buch der Woche: Offenbach Kaleidoskop

Subjektiv objektiv

Schon die alten Griechen kannten es, aber erst 1816 wurde es von einem schottischen Physiker wieder entdeckt: David Brewster wollte eigentlich die Polarisation doppelbrechender Kristalle untersuchen, schaute sie sich deswegen in einer spiegelnden Metallröhre an und stieß dabei auf das Phänomen sich immer wieder neu arrangierender Bilder kristalliner Strukturen. Heute kennen wir dies als Kaleidoskop und vor allem als Kinderspielzeug. Das Wort Kaleidoskop selbst stammt aus dem Griechischen und lässt sich in etwa mit „schöne Formen sehen“ übersetzen.

ANA: „Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses“, Leipzig 2022.

Nun aber liegt ein Buch vor, das „Offenbach Kaleidoskop“ heißt und das, so der Untertitel, „Geschichten eines Hauses“ zusammenträgt. Und mit Blick auf dieses Buch scheint das mit den schönen Formen zunächst verwunderlich. Jan Engelke, Lukas Fink und Tobias Fink haben es herausgegeben als Teil einer „kollaborativen Architekturpraxis“, zu der auch Ruben Bernegger, Dorothee Hahn und Philipp Rohé gehören und die auf den Namen ANA hört: Architektur, Narration, Aktion. ANA hatte zuletzt mit „Berlin Portraits. Erzählungen zur Architektur der Stadt“ für ein breites mediales Echo gesorgt und wirft nun also den Blick nach Offenbach.

Im Fokus dieser Betrachtung steht ein merkwürdiges Haus, das vielen bekannt ist, die die Stadt am Main kennen. Das sogenannte Gothaer Haus wurde zwischen 1972 und 1977 von den Architekten Martin Müller und Peter Opitz für die Adresse Berliner Straße 175 entworfen. Wegen der auftraggebenden Lebensversicherung ging das Gebäude als Gothaer Haus in die Stadtgeschichte ein, dabei sieht es selbst ein wenig so aus, als hätten Müller und Opitz ihren damaligen Entwurf durch einen Blick in ein mit architektonischen Versatzstücken gefülltes Kaleidoskop gefunden. Was der eigentliche Grund für die heterogene Vielschichtigkeit des elfgeschossigen Gebäudes ist, legt Peter Opitz in einem Gespräch im Buch dar.

Gespräche nämlich sind es, mit denen sich ANA hier der Architektur nähern. Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Menschen, die im Haus wohnen, kommen ebenso zu Wort wie solche, die hier arbeiten, die Perspektive der Kunst- und Kulturhistorikerin auf das Haus wird so gleichermaßen nachvollziehbar wie die des Geschäftsführers der Firma, der es gehört. In ihrer Vielfältigkeit ist diese Sammlung von Geschichten selbst ein Kaleidoskop: Immer wieder ergeben sich neue Perspektiven auf das Haus, werden unterschiedliche Ansichten und Konstellationen nachvollziehbar. Dabei wird nicht bloße Lobhudelei für ein offenkundig ästhetisch unbequemes Stück Stadt betrieben, sondern auch kritische Stimmen eingefangen. Durch diese Subjektivität entsteht paradoxerweise eine recht objektive Betrachtung des Hauses jenseits aktueller Hypes rund um derlei architektonische Merkwürdigkeiten.

Wie ein Kaleidoskop ist auch die Gestaltung des Buchs. Beeindruckend und doch irgendwie irrlichternd, dabei gewissen, wenngleich auf den ersten Blick schwer nachvollziehbaren Regeln folgend, scheinen sich die bunt gemischten historischen Bilder, Pläne, Zeitungsausschnitte und aktuellen Fotografien von ANA selbst zu immer wieder neuen grafischen Konstellationen zusammenzufinden. Es kommt zu einer Vielzahl von Überschneidungen – von Text und Bild, mal sehr wenig, dann wieder ganz viel Weißraum –, was das Buch sehr zeitgenössisch erscheinen lässt, gleichzeitig aber auch an Publikationen aus den 1980er Jahren erinnert. Einer Zeit, als ebenfalls sehr viel über Architektur geredet und geschrieben wurde, ohne sie selbst notwendigerweise zeigen, zeichnen oder abbilden zu müssen. Und so wiederholt sich Geschichte eben doch. Die Notwendigkeit, sich Architektur erneut über derlei Narrative annähern zu wollen, scheint offenkundig. Dass sich so eine tiefere Erkenntnis über das Funktionieren – oder Nicht-Funktionieren – von Architektur einstellt, liegt auch heute wieder auf der Hand. Hätte dieses in weiten Teilen so aufschlussreiche und dadurch wertvolle Buch nur nicht auf die Komponente klassischer Architekturdarstellung verzichtet: Ein sauberer Plansatz, der mehr zeigt als die wenigen Archivalien, hätte den sonst so überzeugenden Ansatz im Hier und Jetzt verortet und der Idee, Architektur mittels Narrativ und Aktion beizukommen, eine wichtige Zeitschicht hinzugefügt – und sei sie auch ebenso sympathisch wahllos wie die übrigen Abbildungen in dieses bunte Kaleidoskop hineingewürfelt.
David Kasparek

ANA: „Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses“, Leipzig 2022.

ANA – Architektur, Narration, Aktion: Offenbach Kaleidoskop. Geschichten eines Hauses, 192 S., zahlr. Abb., 28,– Euro, Spector Books, Leipzig 2022, ISBN 9783959056274

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