editorial

tagwerk und geschichte

Blindes Huhn findet Doppelkorn: Eines dieser Deutschpunkrock-Ensembles, die seit einigen Jahren in diesem Land im Gefolge der Düsseldorfer Toten Hosen ihr Unwesen treiben, hat in einem Stück eine treffende Beobachtung gemacht. Madsen, fünf politisch-korrekte Brüder aus dem Wendland, rufen: „Weil die Welt sich so schnell dreht, weil die Zeit so schnell vergeht, kommst Du nicht hinterher, weil die Hektik sich nicht legt und Du in der Masse untergehst, bist du ein Tropfen im Meer.“ Auja. So geht’s uns allen: kein Anfang, kein Ende, das Leben ein ewiges Hamsterrad. Doch die Jungs aus Clenze gehen über das bloße positivistische Abbilden der Wirklichkeit hinaus. Sogleich heißt es nämlich: „Doch Du lebst länger als ein Leben lang, Du bist das, womit alles begann, denn Du schreibst Geschichte, mit jedem Schritt, mit jedem Wort, setzt Du sie fort“. Da haben die Wendland-Buben in ihrer Reform-Variante neoromantischen Torfrockfiebers doch ganz gut erkannt, dass das Gefühl, das man gerade mal keine Geschichte schreibt, eine charakteristische Erscheinung unserer Zeit ist, die von diversifizierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen des „entwickelten Kapitalismus“ geprägt wird. Insofern beschreiben die Herren aus dem Norden nicht unsensibel indirekt ein Phänomen des Verlusts. Ihr Trost indes ist fraglich.

Denn wenn man „Geschichte“ als komplexe, zeitlich geordnete Erzählung von abgeschlossenen Geschehnissen versteht, rückt unsere Gesellschaft mit ihrer Struktur und ihren Mechanismen immer näher an deren Auflösung. Wir können beim Individuum ansetzen: Eine wichtige Voraussetzung der zeitlichen Strukturierung – also der Geschichtsbildung, auch der eigenen, individuellen – ist das Erleben von Ereignissen mit einem Anfang und einem Ende. Das Wort „Tagwerk“ beschreibt hier eine Analogie. Tagwerk: In der vor- und frühindustriellen Gesellschaft bezeichnete man damit die Landfläche, die an einem Tag – von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang – bestellt werden konnte. Jeden Abend ließ sich zurückblicken auf eine abgeschlossene Handlung: „Das Tagwerk ist vollbracht“.

Dieses Erleben abgeschlossener Tätigkeiten und Erlebnisse oder erledigter Aufgaben und Probleme ist uns abhanden gekommen. Statt des „Tagwerks“ sind fast alle Menschen in Arbeitsprozesse, soziale und mentale Verflechtungen „eingebunden“, die eine Erledigung eines dieser Prozesse in einem deutlich absehbaren Rahmen mit Anfang und Ende unmöglich machen. Stets und ständig laufen viele verschiedene Arbeits-, Problem-, Ereignis- und Erlebnisstränge nebeneinander her, die wiederum kausal und temporal andere Stränge bedingen und kontinuierlich hervorrufen. Nur selten ist uns noch das Erlebnis des Abschlusses vergönnt, weil bereits eine Vielzahl anderer Problemstellungen begonnen haben, die auf ihre Erledigung warten.

Statt des „Vollbringens“ eines „Tagwerks“, die uns ein Schichten von Geschehnissen ermöglicht, sind uns oft nur noch Ausschnitte, Fragmente unserer mannigfaltigen Betätigung präsent. Unser tägliches Leben kennt keinen Anfang und kein Ende, sondern nur einen Strom von Ereignissen und Handlungen, dessen Unablässigkeit eine Beschreibung in zeitlicher Abfolge erschwert. Der Tag hat kein Ende. Vielleicht ist das der Grund, warum manche wegen des Mangels an der Fähigkeit und an der Möglichkeit, selbst Geschichte zu bilden, zu historischen Surrogaten Zuflucht suchen, die mehr und mehr in unseren Phantasien, unseren Museen und unseren Städten erscheinen. Sie erscheinen als Heilmittel für die eigene Geschichtslosigkeit, als Ruhepunkt von fragmentierten Lebensläufen und Lebenszyklen, die wir als unser Leben bezeichnen müssen. Madsens Antwort: „Denn Du schreibst Geschichte, mit jedem Schritt, mit jedem Wort setzt Du sie fort, Du schreibst Geschichte, an jedem Tag, denn jetzt und hier, bist du ein Teil von ihr“, ist da ein schwacher oder gar falscher Trost.

Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

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