Tatort

Marmor und Milchbar

Wieder suchen wir ein Bauwerk, das eine besondere Rolle in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt oder gespielt hat – sei es durch eine besondere Eigenschaft, eine ungewöhnliche Geschichte oder eine spezifische Merkwürdigkeit. Lösungsvorschläge können per E-Mail (redaktion[at]die-architekt.net) an die Redaktion gesandt werden. Unter den Einsenderinnen und Einsendern der richtigen Antwort verlosen wir das Buch „Martin Rauch – Gebaute Erde. Gestalten & Konstruieren mit Stampflehm“. Einsendeschluss ist der 20. November 2023.

Im Zentrum einer recht jungen Stadt, die von einer ganz bestimmten „industriellen Monokultur“ (Pehnt) geprägt wurde und wird, befindet sich der diesmalige Tatort. Die Baukörper und Grundrisse des gesuchten Gebäudes sind unrechtwinklig und frei entwickelt sowie ausdifferenziert für die multiplen Nutzungen (ursprünglich vor allem: Lehren, Lesen, Spielen). Das Besondere daran ist, dass der Bau bis auf wenige Räume fensterlos ist und sein Licht hauptsächlich über verschiedenartig gestaltete Lichteinlässe in den Dächern erhält. Eine Dachterrasse, die wie ein Innenhof baulich umfasst wird, wurde einst mitunter zum Kickern und Tischtennisspielen genutzt.

Die fensterlosen Fassaden der unterschiedlich hohen Bauvolumen werden nur durch eine Verkleidung aus farbigem Marmor gegliedert. Als Ergänzung des edlen Steins gibt es mit Kupferblech verkleidete Stützen, einige haben mit den Jahren eine typisch grüne Patina angesetzt. Ein schönes Detail sind zudem Scheinwerfer auf dem Dach, die bei Dunkelheit in einem ähnlichen Einfallswinkel wie das natürliche Sonnenlicht durch die Dachfenster ins Innere scheinen. Heute sitzen unter diesen Oberlichtern Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kultur- und Bildungsverwaltung, während die Lesenden sich ins Erdgeschoss zurückgezogen haben. Der nicht aus Deutschland kommende Architekt hatte kurz vor diesem Auftrag auch in seinem Heimatland einen Bau mit ähnlicher Funktion umgesetzt – jedoch in etwas größerem Maßstab und mit einem etwas bescheideneren Fassadenmaterial.

Foto: Brita Knoche

Im Erdgeschoss des „Tatorts“ wurden einige Geschäfte untergebracht, die den öffentlichen Raum mit dem Gebäude verbinden. Dort, wo einst eine Milchbar war, befindet sich heute ein Restaurant, das nach dem Baumeister benannt wurde – diese Geste veranschaulicht in gewisser Weise die innige Beziehung der Stadt zu dem Architekten, der hier noch zwei weitere Gebäude umsetzte. Im Jahr 2022 initiierte die Kommune sogar eine ganze Veranstaltungswoche zu dessen Ehren. Dass er seinerzeit als Gewinner aus dem Architekturwettbewerb für den „Tatort“ hervorging, mag Ausdruck einer damaligen Hoffnung gewesen sein, der Entwurf könne der blutjungen, durch die funktionale Nachkriegsmoderne geprägten Stadt einen etwas gefälligeren, humaneren Akzent verleihen. Zudem fehlte es noch etwas an repräsentativem „Schmuck“ für die Innenstadt, den man sich durch den international renommierten Architekten vermutlich versprach. Doch wer war dieser Architekt, wie heißt der „Tatort“, in welcher Stadt steht er und wann wurde er gebaut?
Elina Potratz

Beim Tatort aus Heft 4 / 2023 handelt es sich um die Grugahalle in Essen, benannt nach dem benachbarten Grugapark, der 1929 als Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung eröffnet wurde. Die Halle wurde durch die Architektengemeinschaft Ernst Friedrich Brockmann mit Gerd Lichtenhahn 1956 bis 1958 erbaut und 2002 unter Denkmalschutz gestellt. 1977 bis 1986 wurden von hier aus die legendären Rockpalast-Nächte live im Fernsehen übertragen. Gewinnerin des Buchpreises ist Sabine Jochem.

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