Veränderung ohne Verdrängung
Über Intersektionalität, Commitment und neue Wege in der Planung
Dipl.-Ing. Niloufar Tajeri ist Architektin, Architekturtheoretikerin, Aktivistin und lebt in Berlin. Von 2017 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt (GTAS) der TU Braunschweig und von 2021 bis 2023 Lehrbeauftragte an der Hochschule Anhalt, am Bauhaus Dessau und im Masterstudiengang Coop Design Research. Seit 2022 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DFG-Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“ an der TU Berlin. In ihrer Dissertation setzt sich Niloufar Tajeri mit strukturellem Rassismus in politischen Planungsprozessen und in der Architekturpraxis – mit Fokus auf ein geplantes Großprojekt am Hermannplatz in Berlin-Neukölln – auseinander. Mit Niloufar Tajeri sprach Elina Potratz, Chefredakteurin von Die Architekt.
Elina Potratz: Sie haben Architektur studiert, sich dann aber entschieden, nicht den Weg der klassischen Architektin zu gehen, weil Sie mit den Voraussetzungen, unter denen Architektur produziert wird, nicht einverstanden sind. Ihr Ansatz war, diese Voraussetzungen zunächst konkret zu verändern.
Niloufar Tajeri: Genau. Ich habe kurz vor der Finanzkrise Diplom gemacht, kam also zu einer Zeit auf den Markt, als es nicht mehr so viele Aufträge und Jobs gab. Auf der Suche danach habe ich aber auch festgestellt, dass dies meist nicht die Art von Raumpraxis ist, die mit meinen Werten einhergeht. Ich hätte beispielsweise in eine Wettbewerbsabteilung gehen müssen, wo ich einerseits die Arbeitsbedingungen nicht in Ordnung und andererseits auch die Form des Wettbewerbs für die Entwicklung von Ideen nicht zielführend finde. Denn beim Wettbewerb muss man schnell sein, mit Ideen überzeugen, die unmittelbar visuell greifbar sind – das sagt jedoch noch nichts über den Raum aus, den man schafft. Das war mir zu wenig. Ich wollte mich mit Raum auf eine Art und Weise auseinandersetzen, die der Komplexität von Raum gerecht wird und bei der es nicht um schnelle Lösungsansätze geht. Über Exkurse in Ausstellungsgestaltung und Kulturmanagement kam ich dann zur Theorie und in die Forschung. Vor allem die Wohnraumforschung hat mich beschäftigt und die Frage, wie man im Bestand des sozialen Wohnungsbaus tatsächlich auch als Architektin tätig werden kann – nicht nur im Sinne von technischer, energetischer Sanierung, sondern auch in architektonischer Arbeit am bestehenden Wohnungsbau.
Was ist das Gegenbild zu dem, das Sie als Negativbild gezeichnet haben? Was wäre das positive Bild?
Das positive Bild ist, mehr mit dem Bestehenden umzugehen. Weg von der Neuproduktion und mehr danach zu schauen, was es schon gibt und wie wir mit unserem Verständnis von Raum den Bestand angehen. Das reizt mich – hier habe ich mir in den letzten zehn Jahren ein Arbeitsfeld erschlossen, was sich grob unter dem Konzept „Kleine Eingriffe“ zusammenfassen lässt.
Es geht dabei aber nicht nur um den materiellen, sondern auch um den sozialen Bestand, richtig?
Ja, und das ist einer der großen Unterschiede. Beim Neubau spekulieren wir ja meist über die zukünftig Nutzenden. Wie das Zusammenleben gedacht wird, ist erst einmal eine Imagination. Beim Bestand ist es genau anders herum: Da wird oder wurde schon gelebt, schon zusammen genutzt. Ob das ein öffentlicher Platz, ein Warenhaus, eine oder mehrere Wohneinheiten sind: Es gibt schon soziale Beziehungen, die sich innerhalb dieses Raumes ausdrücken. Der gebaute Raum lässt sich also gar nicht mehr trennen vom sozialen Raum. Dort wird es spannend im Umgang mit dem Bestand, wenn man das Materielle in Bezug zur sozialen Nutzung sieht. Hier sehe ich auch das kreative Potenzial von Architektur und Architektinnen – aber auch, woran wir in Lehre und Praxis viel zu wenig geforscht haben, um gute Methoden und Herangehensweisen zu entwickeln.

Niloufar Tajeri ist Mitbegründerin der Initiative Hermannplatz, die seit 2019 als Reaktion auf das Vorhaben von Signa aktiv ist. Durch die räumliche Aneignung eines leerstehenden Kiosks am Hermannplatz ermöglicht die Initiative Sichtbarkeit für stadtpolitische Anliegen und Platz für soziale Praktiken wie z.B. der Kiez-Küche. Das Logo der Initiative deutet an: Es geht nicht nur um das Gebäude sondern auch um die Menschen darin, Abb.: Nele Brönner
In Ihren Texten taucht oft der Begriff der Intersektionalität auf, die Auseinandersetzung damit, dass Menschen unterschiedlich, aber auch teilweise mehrfach unterdrückt und diskriminiert werden. Inwiefern sehen Sie diese Diskriminierung auch in der Planung?
Ungleichheiten sind nicht nur einfach da, sondern historisch bedingt. Unterschiede haben stark mit der Art und Weise zu tun, wie wir innerhalb der Gesellschaft positioniert sind: Sind wir arm oder reich, sozial anerkannt oder nicht, welchen Pass besitzen wir und sind unsere kulturellen Hintergründe anerkannt oder werden sie eher abgewertet? Das sind keine Geschmacksfragen, sondern historisch bedingte Fakten. Wenn wir über strukturelle Ungleichheit sprechen, müssen wir ebenso über Gegebenheiten der Planung sprechen, denn auch diese greifen strukturell: wie etwa die Entscheidung, wo es Stadterneuerungsprogramme gibt oder wie bestimmte planerische Fördermittel verteilt werden. Zugleich ist es eine entscheidende Frage, wer von den Konsequenzen einer Stadterneuerung profitiert und wer davon negativ betroffen ist.
Worum geht es bei den Konsequenzen einer Stadterneuerung?
Beispielsweise um Verdrängungseffekte bei Stadterneuerungsprozessen. Oft fallen arme Bevölkerungsgruppen durchs Raster – das sind in Deutschland, oder in jedem anderen Land des globalen Nordens, häufig rassifizierte Menschen. Dabei geht es auch um Architektur: Wer ist wie betroffen von den Maßnahmen im physischen Raum, wenn wir uns zum Beispiel Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen anschauen, die sich immer auf die Miete und die Mietenden auswirken. Die Abwägung, welche Maßnahmen wirklich notwendig sind, und inwiefern sich diese auf die Mietenden auswirken, ist vor allem für jene Personen relevant, die finanziell ohnehin benachteiligt sind. Die Art und Weise, wie Sanierung konzipiert wird, ist meist auf jene Bevölkerungsgruppen ausgerichtet, denen etwa zehn Prozent Mietsteigerung nichts ausmacht. Für andere Bevölkerungsgruppen bedeuten diese zehn Prozent aber einen großen Unterschied. Der intersektionale Ansatz sagt nun: Wir schauen nicht auf die Mitte, wir schauen nicht auf den Durchschnitt, sondern wir blicken dorthin, wo es die größten Betroffenheiten gibt, wo die negativsten Konsequenzen auftreten. Denn wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die am stärksten betroffen sind, wird es auch der Mitte nicht schaden.
Meist ist es ja so, dass es von den Planungsstellen her erst einmal gut gemeint ist. Es gibt den Wunsch nach Verbesserung und Verschönerung, den vielleicht naiven Glauben, dass es damit für alle besser wird.
Der gute Wille ist natürlich nicht falsch, aber er ist nicht genug. In der Planung ist der epistemische Paradigmenwechsel, der sich in vielen anderen Disziplinen schon vollzogen hat, noch nicht angekommen. Der gute Wille bezieht sich meist auf einen Durchschnitt, also auf einen imaginierten Standardmenschen, und die Überlegung, was dessen Bedürfnisse sind und wie sich die Bedingungen für diesen Menschen verbessern lassen. Mit der intersektionalen Analyse hat sich das schon in den 30er-Jahren oder auch durch den Feminismus verändert, denn dieser „Standardmensch“ ist nicht neutral, er ist weiß, männlich, gesund, heteronormativ konzipiert, er gehört einer spezifischen Gruppe an. Darum gibt es die Überlegung, ein Shift zu vollziehen und zu sagen: Was ist, wenn wir auf eine schwarze, nicht-binäre, disable-bodied Person schauen, und wir die Barrieren für diese Person abbauen, Räume für diese Person schaffen? Die Zugänglichkeit wird dadurch vergrößert, nicht verkleinert. Das bedeutet, davon auszugehen, dass es viele unterschiedliche Positionen und Personen gibt.

Historische Aufnahme: Aufnahme des 1945 zerstörten Karstadt-Gebäudes am Hermannplatz aus dem Jahr 1936, als die Nationalsozialisten in Berlin die Olympischen Sommerspiele für ihre Propaganda nutzten. Foto: Wikimedia Commons
Kommen wir zu der Initiative am Neuköllner Hermannplatz in Berlin, an der Sie beteiligt sind. Warum hat sich diese Initiative gebildet und inwiefern bewerten Sie die Entwicklungen am Hermannplatz als mehrfach diskriminierend?
Da muss ich vielleicht mit dem ehemaligen langjährigen Bürgermeister von Neukölln beginnen: Heinz Buschkowsky. Er war ein Befürworter der Gentrifizierung und hat immer gesagt, dass Gentrifizierung per se nichts schlechtes ist – und dass es in Neukölln einen Bevölkerungsaustausch braucht. Er argumentierte damit, dass die migrantische Bevölkerung kriminell, bildungsfern und so weiter sei. Wenn Neukölln sozusagen in Zukunft erfolgreich werden will, müsse es weniger migrantisch sein. Gentrifizierung wurde befürwortet, um dezidiert die migrantische Bevölkerung loszuwerden.
Es ging also nicht um eine größere Mischung?
Nein, sondern um Entmischung. Das ließ sich auch an seiner Politik ablesen, denn er sorgte zum Beispiel dafür, dass Milieuschutzverordnungen erst sechs Jahre später umgesetzt wurden als etwa in Kreuzberg. Hier kann man betrachten, dass Verdrängung nicht nur durch den finanzbedingten Wohnungsmarkt oder durch die neoliberale Stadtentwicklung vollzogen wird, sondern dass es politisch gewollt ist – und da hat es bis jetzt noch keine Wende gegeben. Das ist die Situation, in der wir am Neuköllner Hermannplatz aktiv wurden: Wir haben bemerkt, dass es hier die größte Mietpreisentwicklung in der Stadt gibt und einen enorm rassistischen Diskurs, und von beidem sind vor allem migrantische Menschen betroffen. Und nun kam auch noch der Plan auf, an diesem wichtigen Platz ein völlig überdimensioniertes Gebäude mit historischen Rückbezügen zu bauen.
Was waren das für Pläne?
Es war geplant, das bestehende Warenhaus am Hermannplatz zu einem großen Teil abzureißen und ein Gebäude wiederzuerrichten, das in der Zeit zwischen 1929 und 1945 dort stand: das berühmte Warenhaus von Philipp Schäfer. Die Idee war, es von David Chipperfield Architects auf der Vorderseite wieder aufbauen zu lassen, und dahinter einen dicht bebauten Komplex mit Büro- und Wohngebäuden zu errichten. Daraufhin regte sich schnell Widerstand – aus unterschiedlichen Gründen: Es ging um die zu erwartende Gentrifizierung, die ökologischen Folgen des Abrisses und des Neubaus, um die Zukunft des dortigen Warenhauses und die Frage der Symbolik. Denn: Für wen steht so eine Art von Rekonstruktion zwischen zwei migrantischen Kiezen? Dabei ging es nicht nur um das Gebäude, sondern auch um den öffentlichen Platz. Es gibt einen sehr negativen Diskurs über diesen Platz, gleichzeitig ist er aber auch ein überaus wichtiger Ort für Demonstrationen, oder für den Markt, der sehr gut funktioniert – und eben für migrantische Sichtbarkeit.

Das Bezirksamt von Berlin-Neukölln baute die Bänke am Hermannplatz vor zwölf Jahren aus Gründen der „städtebaulichen Kriminalprävention“ ab. Seither sitzen ältere und gehbehinderte Menschen auf den Umfassungen der Hochbeete, Foto: Niloufar Tajeri
Wie würden Sie den negativen Diskurs charakterisieren?
Der Hermannplatz wird schon lange als unattraktiv beschrieben, desolat, laut, mit wenig Aufenthaltsqualität. Auf der anderen Seite wird die Präsenz migrantischer Menschen problematisiert, teilweise mit rassistischer Festschreibung, vor allen Dingen in den sozialen Medien, bei den Posts der Signa Gruppe…
… der inzwischen insolvente Mutterkonzern von Galeria Karstadt Kaufhof und damit Besitzerin des bestehenden Warenhauses am Hermannplatz…
Ja. Die Pläne der Signa-Gruppe ermunterte Stimmen im Diskurs mit rassistischen und klassistischen Behauptungen wie etwa, dass am Hermannplatz ohnehin nur Kriminelle und Clans abhängen würden und dass er ein „verkeimter Platz des Nahen Ostens“ sei. Im Diskurs wird immer wieder antimuslimischer Rassismus mit der Abwertung der Aufenthaltsqualität dieses Platzes verbunden. Das ist eine hochproblematische Reduktion realer Verhältnisse, aber durchaus normalisiert.
Ein weiterer Kritikpunkt, den Sie geäußert haben, betrifft die Zukunft des Warenhauses vor Ort. Was denken Sie darüber?
Das Warenhaus dort ist als Nahversorgungsinfrastruktur zentral, nicht nur für den Markt, der auf dem Platz davor stattfindet, sondern auch für die Läden in der Umgebung und natürlich für die Leute, die dort wohnen. Denn es gibt weit und breit keine anderen Warenhäuser oder Orte, an denen mehrere Güter unter einem Dach zur Verfügung gestellt werden. Es ist für Zentren wichtig, dass es diese Orte gibt, an denen man vom Nähgarn über Unterwäsche bis hin zu Kinderschuhen alles unter einem Dach hat – eben für all die kleinen Dinge, die man so braucht.
War in dem neuen Plan kein Warenhaus mehr vorgesehen?
Das war immer die große Frage, dies lässt sich in einem Bebauungsplan nicht festsetzen. Interessant ist, dass sich die Fläche mit dem neuen Gebäude fast verdoppelt hätte, und dass aber zur Hälfte Büros geplant waren, daneben Gastronomie, Einzelhandel und so weiter. Doch Einzelhandel kann alles bedeuten, etwa ein Mall- oder Shop-im-Shop-Konzept.

Bereits 2021 waren die zwielichtigen Unternehmensgebahren der Signa Holding bekannt. Im Hintergrund ein Werbebanner für Signas Projektvorhaben, Foto: Silke Mayer
Was waren die befürchteten Folgen, vor allem in Hinblick auf Verdrängung?
Die Signa-Gruppe hatte als Geschäftsmodell immer eine Steigerung des Wertes ihrer Immobilien im Sinn. Wenn der Wert der Immobilie durch Umbau – es gab aber auch andere, weniger legale Methoden – gesteigert wird, gehen auch die Bodenpreise nach oben, und das wiederum hat einen Effekt auf die komplette Nachbarschaft. Wir können also immer davon ausgehen: Wenn großmaßstäbliche, ikonische Projekte an einem Ort entstehen, hat das immer Auswirkungen auf die Mieten. Außerdem ging es um die Veränderung des Platzes: Mit so einer Aufwertung ist auch immer die Frage verbunden, ob die Menschen, die jetzt dort sind, dann noch erwünscht sind und auf welche Art und Weise dafür gestalterisch gesorgt wird. Architektinnen und Architekten wissen, dass man mit der Gestaltung einen großen Einfluss darauf haben kann, wer sich an einem Ort aufhält und wer nicht.
In der gestaltenden Planung gibt es das Paradigma, dass Aufwertung zunächst etwas Erstrebenswertes ist, man will schließlich etwas schöner und besser machen. Ihnen geht es jedoch auch darum, die Schattenseiten der Aufwertung kritisch zu hinterfragen. Wie soll Veränderung und Aufwertung stattdessen stattfinden?
Die Initiative Hermannplatz hat sich zwar diesen Plänen widersetzt, aber nie behauptet, dass sie nicht für Veränderung ist – sie wird einfach anders qualifiziert. Veränderung ist nicht per se gut, wenn ein neues Gebäude entsteht oder ein Platz neugestaltet wird. Die Frage ist: Für wen ist die Veränderung gut und wem schadet sie? Sind diejenigen, denen die Veränderung schadet, Menschen, die generell schlechter dran sind in der Gesellschaft? Was wäre eine gute Aufwertung für diese Leute? Das ist die Veränderung, auf die ich als Architektin lieber hinaus will: Warum wurden vor zehn Jahren auf dem Hermannplatz die Bänke entfernt? Wäre es nicht sinnvoll, die Bänke wieder zu installieren? Das wäre schon eine massive Aufwertung für die Menschen, die sich jetzt dort aufhalten. Da muss kein großes Design passieren, sondern kleine Eingriffe könnten ausreichen. Darauf will ich auch mit Blick auf die Architektur hinaus: Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, wir wissen, dass ein Platz Bänke braucht. Dafür müssen wir aber zum Beispiel erst einmal herausfinden, dass es da einmal Bänke gab und aus welchem Grund sie entfernt wurden, um dann zu schauen, wie wir sie wieder zurückbringen können. Das hat nichts mit Zeichnungen und Visualisierungen zu tun, sondern mit kritischem Denken.

Die Initiative Hermannplatz besitzt den Kiosk vor dem Karstadt und bespielt ihn zusammen mit sozialen und stadtpolitischen Initiativen als Protestkiosk unter dem Namen „Platz_Halter“, Foto: Sebastian Díaz de León

Die Initiative Kiez Küche veranstaltet jeden Sonntag ab 16 Uhr Küche für alle am „Platz_Halter“, Foto: Sebastian Díaz de León
Was könnten dafür die Strategien sein? Es gab ja wahrscheinlich tatsächlich Gründe, die Bänke zu entfernen…
Mein Vorschlag war zunächst, eine Bank zu installieren und zu beobachten, was da passiert. Eine kleine Veränderung also, wie man das in der Forschung auch macht. Beobachten, ob es in die richtige Richtung geht, wie etwas angenommen wird, was die Probleme sind, was die positiven Effekte, und was verbessert werden muss. Ich glaube, dass wir in der Architektur viel zu oft denken – aus guter Absicht heraus –, dass wir ein Problem lösen wollen, einen Vorschlag entwickeln, und dass es dann gut und vorbei ist. So ist das aber in der Realität nicht. Vielleicht müsste man eine Idee erst einmal ausprobieren, dabei aber radikal offen bleiben dafür, dass auch Probleme entstehen können. Es muss eine realistische Einschätzung dafür geben, dass es immer Probleme und Konflikte gibt, wenn unterschiedliche Menschen an einem Ort zusammenkommen.
Sie haben bereits die geplante Rekonstruktion am Hermannplatz angesprochen. Warum finden Sie diese gerade in diesem Kontext problematisch?
Interessanterweise wurde das Gebäude, auf das man sich in den Plänen bezog, architektonisch auch schon zu seiner Zeit kritisch rezipiert, von Sigfried Giedion zum Beispiel, der den Bau pseudo-modern nannte. Auch Siegfried Kracauer hat kritisch über das Gebäude geschrieben. Die 1920er-Jahre waren eine Zeit der Armut, in der Kinder unterernährt waren, Menschen zuhause keine Toiletten hatten, und gleichzeitig wurde ihnen ein Konsumtempel vor die Nase gesetzt – das war damals noch viel polarisierter, als es heute der Fall ist. Die Kritik, die es heute gibt, ist ähnlich wie damals: Es gibt aktuell genug andere Probleme, wir brauchen das Gebäude nicht. Und nicht nur, dass wir es nicht brauchen, wir wollen es auch nicht.
Geht es um Architektinnen und Architekten, sprechen Sie mitunter von Komplizenschaft. Welche Rolle können Planende überhaupt noch einnehmen, wenn sie mehr oder weniger nur ein Rädchen im Getriebe sind? Können sie in dem, was sie machen, überhaupt Widerstand leisten?
Es ist für mich in dem Moment Komplizenschaft, in dem man einen Auftrag annimmt von Investoren, die sich schon bei der kleinsten Recherche als zwielichtig oder zumindest als fragwürdig erweisen, und man dann aber sozusagen dafür sorgt, dass diese Auftraggeber zum Schluss besser dastehen. Und zwar, indem man sich als Legitimation daneben stellt und damit zeigt, dass das ein guter Investor und ein cooles Projekt ist. Wenn man dem Auftraggeber hilft, trotz großem gesellschaftlichen Widerstand, seine Ziele zu erreichen, dann bewegt man sich als Architekt auf dem politischen, ideologischen Feld.
Wie auch beim Hermannplatz gibt es bisweilen den Vorwurf, dass Partizipation missbraucht wird, weil sie in solchen Prozessen zwar beschwichtigen kann, jedoch letztlich nur ein Feigenblatt ist. Was sind für Sie die Schwachstellen der Partizipation?
Die Art und Weise, wie Partizipation heute im Baurecht durchgeführt wird, ist sehr voraussetzungsvoll, gleichzeitig aber haben die Leute, die dort mitmachen, nicht genug Einblick in die Prozesse, um sicherzustellen, dass ihre Belange wirklich beachtet werden. Bei der frühzeitigen Beteiligung werden Statements eingeschickt, die anschließend ausgewertet werden. Ich habe versucht herauszufinden, ob dann die Tabelle, in der diese Statements ausgewertet werden, einsehbar sind. Das können aber selbst die Abgeordneten im Abgeordnetenhaus nicht. Was sie hier zum Beispiel an Informationen bekommen, ist, wie viele Statements es gegeben hat. Aber offen bleibt, wie sie interpretiert und ausgewertet werden oder welchen Einfluss sie auf die Planung haben.

Veranstaltungsreihe „Berlin Scarcity“, organisiert durch das Kollektiv spätispäti am „Platz_Halter“-Kiosk, Filmvorführung, Foto: Sebastian Díaz de León

Stadtspaziergang mit Input von Niloufar Tajeri am „Platz_Halter“, Projekt „Berlin Scarcity“ von spätispäti , Foto: Sebastian Díaz de León
Durch die Insolvenz von Signa könnte die Frage, wie mit den innerstädtischen Warenhäusern umgegangen werden soll, auch in anderen Städten relevanter werden. Halten Sie das Konzept der Warenhäuser weiterhin für tragbar? Was könnte mit diesen Gebäuden passieren, wenn das Kaufhaus darin schließt?
Das ist eine Frage, die sich auch schon vor drei Jahren, im Herbst 2020, gestellt hat. Rund 40 Kaufhäuser von Galeria Karstadt Kaufhof wurden deutschlandweit geschlossen, und dann im Zuge der letzten Insolvenz noch weitere. Dafür, was mit diesen Häusern passieren kann, gibt es schon einige gute Beispiele: in Hanau will die Stadt das Warenhaus-Gebäude kaufen und danach selbst betreiben, in Cottbus ist der Kauf bereits beschlossen und Teile der Stadtverwaltung und das Stadtarchiv sollen einziehen. Ähnliche Vorstöße der Stadt gibt es in Hamburg-Harburg, Leverkusen, Darmstadt, Stuttgart. Wenn diese Gebäude erstmal in städtischer Hand sind, ist sehr viel denkbar und machbar! Berlin ist da viel zu ängstlich. Hier wartet man auf den nächsten Investor. Ich frage mich jedoch: Kann man irgendwann von seinen Fehlern lernen, anstatt sie immer weiter zu wiederholen? Ich denke, es braucht echte Veränderung, nicht die Wiederholung von Handlungen, die sich nicht bewährt haben. Es muss für jeden Standort überlegt werden, auf welche Art und Weise die Nahversorgung weiter aufrechterhalten werden kann. Es sollten nicht überall Kreativ-Zentren oder Konzerthäuser und so weiter entstehen, sondern die Frage sollte im Zentrum stehen: Was kann man tun, damit Nahversorgung ermöglicht wird, und zwar auf eine Art und Weise, die ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig ist.
Was wären denn andere denkbare Szenarien, ohne den großen Investor?
Man müsste viel mehr in Richtung genossenschaftlicher Modelle zum Betreiben von Warenhäusern gehen, konzipiert wurde das zum Beispiel in Kaiserslautern bereits 2010. Statt den nächsten Investor zu suchen, macht es mehr Sinn zu fragen, was die Mitarbeitenden sagen, diejenigen, die die Gebäude in- und auswendig kennen, die wissen, wie man die Logistik betreibt. Man müsste Dinge erproben und sich dann vielleicht aus dem Fenster lehnen, sich vielleicht sogar die Finger verbrennen… Aber zumindest weiß man dann mehr und kann etwas anderes ausprobieren. Aber dafür braucht es natürlich politisches Commitment – und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen bezahlt werden. Wer das macht, und wie man das macht, ist eine politische Fragestellung. Was mich übrigens sehr stört: Es gab an vielen Architekturfakultäten Entwurfsprojekte, die sich Nutzungsansätze für die unterschiedlichsten Warenhäuser überlegt haben. Doch immer, ohne über die Menschen nachzudenken, die sich seit Jahrzehnten um das Gebäude gekümmert haben und die von diesem Geschäftsmodell und dieser Nutzung auch abhängig sind. Das ist ein Feld in der Architektur, das oft ignoriert wird: dass wir uns, wenn wir auf den Bestand schauen, die Menschen dort nicht einfach wegdenken können.
Literatur
Walter Nägeli, Niloufar Kirn Tajeri (Hrsg.): Kleine Eingriffe. Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne, 2016