Daniel Lohmann

Palmyra – Was bleibt

Abbild, Wirklichkeit und Verlust

Vierzig Architekturzeichnungen der antiken Ruinen Palmyras sind derzeit im Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu bewundern. Sie stammen aus der Feder des französischen Künstlers und Bauforschers Louis-François Cassas (1756-1827), der auf einer ausgedehnten Orientreise als einer der ersten ausführliche und präzise Bauaufnahmen von Palmyras Bauten anfertigte. Im Gepäck hatte er nicht nur Messgeräte, Zeichenutensilien und Papier, sondern auch eine ganze Liste an konkreten Fragen. Er und seine Zeitgenossen aus Wissenschaft und Architektur versprachen sich von den Bauten der Oasenstadt Antworten auf diejenigen Fragen nach der klassischen Antike, die von Rom und Griechenland bisher noch nicht beantwortet werden konnten. Seine Architekturzeichnungen, von denen sich die meisten heute im Nachlass des Architekten Jakob Ignaz Hittorff im Wallraf Richartz Museum in Köln befinden, können als erste Zeugnisse einer akribisch genauen archäologischen Bauforschung angesehen werden.

Zugleich besitzen die äußerst präzise ausgeführten und mitunter farbig lavierten Zeichnungen eine hohe ästhetische Anmut, die uns Architekten in Ehrfurcht vor seinem Können versetzt, und lässt uns wehmütig an das denken, was sie uns zeigen: Sie gehören zu den frühesten Abbildungen derjenigen Bauwerke, die im letzten Jahr tragischerweise dem Vandalismus des sogenannten Islamischen Staats zum Opfer gefallen sind. Die Kölner Ausstellung versteht sich als stilles kulturelles Zeichen gegen diese Barbarei und ist noch bis zum 8. Mai in Köln zu sehen. (1)

Louis François Cassas, Baal-Tempel (Sonnentempel) von Norden, 1785, Feder in Schwarz, laviert, Wallraf-Richartz- Museum & Fondation Corboud, Köln

Louis François Cassas, Baal-Tempel (Sonnentempel) von Norden, 1785, Feder in Schwarz, laviert, Wallraf-Richartz- Museum & Fondation Corboud, Köln

Cassas hatte das, was wir heute als Bauforschung bezeichnen, sprichwörtlich in die Wiege gelegt bekommen. Als Sohn eines Landvermessers wurde er auf dem Anwesen eines Schlosses geboren, für das sein Vater Pläne anfertigen sollte. In diese Fußstapfen trat er, als er eine Ausbildung zum Bauzeichner auf einer Baustelle absolvierte. Er erlernte dort das Handwerk, ein Bauwerk in Grundrissen, Schnitten, Ansichten und Details darzustellen und es somit gleichsam in die Sprache der Architekten zu übersetzen. (2) Nach dem Handwerk folgte die Kopfarbeit, als Cassas in Paris an einer privaten Zeichenakademie studierte und fortan eine Sozialisation in Gelehrtenkreisen genoss. Das Ideal der Antike in Spätbarock und Klassizismus begann ihn zu faszinieren, und führte ihn nach ersten Reisen durch Italien, Dalmatien und Istrien auf eine große Orientreise. Nur wenige Gelehrte führte ihre Grand Tour in den Orient, da ein solches Vorhaben im osmanischen Reich nach wie vor äußerst beschwerlich und gefährlich war. Somit drang das Wissen über die dortigen antiken Stätten nur langsam in den Westen. Von Konstantinopel aus gelang es Cassas 1784, mit Hilfe und Förderung des dortigen französischen Botschafters nach Nordsyrien, Ägypten und Zypern zu reisen, um dann eigenmächtig die Route zu ändern und zum Zwecke der akribischen Bauaufnahme in die syrische Wüste nach Palmyra und in den Libanon nach Baalbek zu reisen. Nach der Rückkehr 1786 war sein Ziel die Herausgabe einer dreibändigen monumentalen Stichpublikation, die alle Stätten der Reise in perspektivischen Szenen und Beschreibungen, vor allem aber in genauen Bauaufnahmen illustrieren sollte. In letzteren können wir Cassas eigentliche Meisterschaft und offensichtliche Leidenschaft erkennen, wie die Kölner Ausstellung verdeutlicht.

Erwartung und Erkenntnis

Am Beispiel des Bel-Tempels von Palmyra lässt sich nachvollziehen, welche Rolle Cassas Werk für die Architekturgeschichte hat. Wie viele seiner Zeitgenossen hatte er die Erwartung, gut erhaltene und zwar bekannte, aber bis dahin wenig genau erforschte und vermeintlich prototypische griechisch-römische Tempel zu dokumentieren. Dieses Wissen wollte er durch die über dreihundert Zeichnungen wenigstens auf dem Papier in den Westen reimportieren, wo die Architektenszene sehnlichst auf genaue Vorlagen für eigene Architekturschöpfungen wartete. Zunächst erkennen wir in seinen Zeichnungen einen üblichen achtsäuligen korinthischen Pseudodipteros. Doch bei genauerem Hinsehen fallen immer mehr Besonderheiten auf: Der Cella-Eingang befindet sich überraschenderweise auf der Langseite, und ist zudem hinter einem monumentalen Portal um ein Säulenjoch asymmetrisch nach Süden versetzt. Die Wände der Cella sind durch hochliegende Fenster durchbrochen, und in ihren Ecken führen Wendeltreppen in die Höhe. Innen befindet sich nicht wie gewöhnlich ein Adyton, sondern zwei gegenüberliegende.

Was Cassas also vorfand, war alles andere als ein prototypischer antiker Tempel. Diese Erkenntnis zeichnet sich zaghaft in seiner idealisierten Rezeption ab, doch sein Auge fällt immer wieder auf die orientalischen Besonderheiten, und er spiegelt sie in seinen Zeichnungen wider. Damit steht Cassas einerseits für eine verklärte Projektion antiker Idealbilder auf die Sehnsuchtsorte des Nahen Ostens, andererseits wurde er Wegbereiter für die aufklärerische und wissensdurstige Erforschung der antiken Stätten des Nahen Ostens.

Palmyra im Fokus der Historischen Bauforschung

Wie ging es weiter? In über zweihundert Jahren Arbeit konnte die Forschung das Bild der ursprünglichen Erscheinung des Bel-Tempels bedeutend schärfen. In den 1930er Jahren legten französische Wissenschaftler das Heiligtum des Bel in aufwendigen archäologischen Ausgrabungen frei. Die bis heute methodisch vorbildliche Publikation über den Bel-Tempel von Henri Seyrig, Ernest Will und Robert Amy von 1968 führt uns plakativ diese Fortentwicklung vor Augen: Die Kollegen dokumentierten die Bauten nun stein- und verformungsgerecht und in scharfer Trennung von Befund und Rekonstruktion.(3) Letztere ist bis heute gültig und zeigt uns auf den ersten Blick, mit welch orientalisch geprägter Sonderform eines Tempels wir es hier zu tun haben. Zu den genannten Anomalien kamen durch die neue Forschung eine flache Dachterrasse mit hohen zinnenbekrönten Attiken und weitere Details hinzu. Vom hellenistischen Prototyp des Artemisions in Magnesia blieb wenig mehr als ein schematischer Grundriss und die klassische Tempelfront übrig.

Rekonstruktion des Baal-Tempels nach Seyrig, Amy und Will, aus: Le Temple de Bel a Palmyre, Bibliothèque Archéologique et Historique, T. LXXXIII, Paris 1968. Album, S. 141

Rekonstruktion des Baal-Tempels nach Seyrig, Amy und Will, aus: Le Temple de Bel a Palmyre, Bibliothèque Archéologique et Historique, T. LXXXIII, Paris 1968. Album, S. 141

 

Die palmyrenischen Tempel stellen Kultstätten dar, deren Architektur auf die alten und ungebrochenen kultischen Bedürfnisse der heimischen Bewohner kurz vor der Ostgrenze des römischen Reiches reagierte. Diese Bauten wechselten mitunter lediglich ihr „Gewand“, indem sie in der grundsätzlichen Bauform und insbesondere in den Schmuckformen hellenistischen oder römischen Moden folgten, in der räumlich-funktionalen Aufteilung doch ihrem Erbe treu blieben.

Verlust und Leere

So wie sich die Methoden der Bauforschung in den vielen Dekaden zwischen Cassas’ Klassizismus und der wissenschaftlichen Nüchternheit des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt hatte, werden sie sich auch in Zukunft weiter entwickeln, in Richtungen, die wir heute noch nicht ahnen können. Was wir für solche wissenschaftlichen Erkenntnisse aber immer zwingend benötigen, ist die erhaltene Originalsubstanz. Sie ist die wichtigste Primärquelle des Bauforschers, da nur sie die Besonderheiten ungefiltert und in ihren vielschichtigen Dimensionen preisgibt. Bauwerke sind unsere Kulturspeicher, und mit ihrem Verlust geht der Zukunft die Möglichkeit verloren, von der Vergangenheit zu lernen.

Dreidimensionale Reproduktionen, zu denen Vorschläge ab dem Moment der Zerstörung in der Presse auftauchten, stellen aus diesen Gründen keinen Ersatz dar. In einem Plädoyer gegen die Bestrebungen, die Bauten Palmyras einfach wieder in 3D auszudrucken, hat sich treffend Friederike Fless, die Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts, geäußert: Keine Rekonstruktion kann „das Material des originalen Baus wiedergeben, etwas über die Bautechnik des Denkmals oder seine Bauphasen aussagen. Alle historischen Werte sind nicht erfasst, nicht archiviert und damit verloren. Vom Wissensspeicher, den ein historisches Gebäude in seiner komplexen Materialität darstellt, geht somit fast alles verloren.“ (4)

Wessen kulturelles Erbe?

Louis-Francois Cassas Bauaufnahmen stehen am Anfang der Erforschung Palmyras durch westliche Gelehrte. Damit gehören seine Zeichnungen zu den ersten Dokumenten der Inanspruchnahme des morgenländischen Palmyra als kulturelles Erbe des Abendlandes. Nach vielen Jahrzehnten der weiteren Erforschung, Ausgrabung, Dokumentation, Bewunderung und Würdigung markierte die frühe Ernennung des Ortes zum Weltkulturerbe der UNESCO im Jahr 1980 einen vorläufigen Höhepunkt dieser Aneignung. Das Signal war: Dies ist nicht nur syrisches Kulturerbe, sondern geht uns alle, die ganze Welt an. Dass das Denkmalschutz-Prädikat eine vorrangig westliche Sichtweise widerspiegelt, führte nun dazu, dass die wahabitischen Milizen des Islamischen Staats unter dem Vorbehalt der Tilgung „unislamischer Götzenbilder“ die antiken Monumente Palmyras mittig auf ihre Zielscheibe nahmen und sie in unvorstellbar nihilistischem Zerstörungswahn vandalierten.(5) Doch im Hintergrund steht nicht nur das Streben nach dem vermeintlich „reinen Islam“, sondern politisches Kalkül. Der Okzident soll mit Agitationspropaganda der zerstörerischsten Sorte brüskiert werden, die gezielt gegen das westliche Interesse an diesen Kulturstätten gerichtet ist. (6) Gleichzeitig hat diese Art der Machtdemonstration als Ikonoklasmus eine lange Geschichte – auch und vorrangig im Westen.

Doch wessen kulturelles Erbe haben die Barbaren in Palmyra geschleift? Viel mehr noch als uns trifft der Verlust die Syrer ins Herz. Denn es ist natürlich ihr Kulturerbe, ungeachtet aller westlichen Prädikate. Die genannten Besonderheiten der antiken Bauten Palmyras und ihre jahrhundertelange Erforschung und Pflege – allen voran durch den ermordeten Khaled al-Assaad selbst – mögen dies verdeutlichen. Im Falle Syriens funktionierte der Schutz über das Prädikat der UNESCO hinaus hervorragend. Die Antikenverwaltung als zuständige Denkmalbehörde und ihr Direktor, Maamoun Abdulkarim, kümmerten sich bis zum letzten Moment um den Schutz und den Unterhalt Palmyras: Zumindest das bewegliche Kulturgut aus den Museen ließ man in die Depots der Hauptstadt bringen.

Den Syrern geht nun mit ihrem Kulturerbe auch ein wichtiger Teil ihrer Identität und ihres Stolzes verloren. Die antiken Ruinen Palmyras waren zudem die vielleicht wichtigste touristische Attraktion Syriens, die Jahr für Jahr tausende Kulturreisende anlockten. Somit bedeuteten sie als Einkommensquelle einen nicht zu verachtenden ökonomischen Faktor für das öl-arme Land. Der Ausverkauf der syrischen Antiken aus den illegalen Raubgrabungen, die in industriellem Ausmaß durch den IS betrieben werden, erscheint wie eine zynische Karikatur dessen.

Wenn vor dem Krieg irgendetwas den Menschen innerhalb des seit dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches Syrien genannten, höchst heterogenen Konstrukts so etwas wie nationale Identität geben konnte, dann ihr gemeinsames antikes kulturelles Erbe. Ob der Großstädter oder der Beduine aus der syrischen Wüste, beide sahen sich als Erben dessen, was ihnen als Bewohner der „Wiege der Zivilisation“ überkommen war und waren mit Stolz erfüllt, wenn man sie auf Palmyra ansprach. Auch diese schwache Flamme von nationaler Identität versucht der IS mit aller Kraft zu löschen. Der Nihilismus der mutwilligen Zerstörung verdeutlicht, welche Leere sich seine Vordenker wünschen – eine Leere, die nicht etwa Reinheit, sondern Einfalt in sich trägt.

Was bleibt?

Gemäß dem Titel der Ausstellung steht nun die Frage im Raum: „Was bleibt?“ Just in diesen Tagen erreichen uns mit den Berichten der Vertreibung des IS aus Palmyra erste Bilder und Schilderungen vom Zustand der Ruinen. Die Befürchtungen, die durch die Bildpropaganda des IS geschürt wurden, bestätigen sich. Ein schaler Beigeschmack liegt in der Freude über die ‚Befreiung’ der Stadt und ihren vermeintlich guten Zustand. Noch skeptischer darf man gegenüber der Geschwindigkeit sein, mit der nun „Rekonstruktion!“ gerufen wird. Denn wie rekonstruiert man die Ruine einer Ruine? Zunächst gilt es, ohne Hast wieder von vorne anzufangen, und eine sensible Bestandsaufnahme anzufertigen. Erst mit dem genauen Wissen darüber, was übrig ist, kann die Diskussion beginnen, wie es damit weitergeht. Vielleicht kommt dann der Moment, über Restaurierungen oder eine „kämpferische Reproduktion“ nachzudenken, die den Islamisten zumindest nicht das letzte Wort lassen will. Erste Überlegungen hierzu sind im Umfeld der Kölner Ausstellung geäußert worden. (7)
Cassas meisterhafte Zeichnungen mögen nun das Original überdauert haben, und unseren Blick auf die Fehlstelle schärfen. In jedem Falle helfen sie, nicht zu vergessen. Vielleicht können sie nun auch dabei helfen, zu retten, was noch zu retten ist.

Anmerkungen

(1) Palmyra – Was bleibt? Louis-François Cassas und seine Reise in den Orient. Wallraf-Richartz-Museum Köln, Grafisches Kabinett, bis 8. Mai 2016. Es ist ein Katalog unter dem gleichen Titel erschienen als Band 20 der Reihe Der un/gewisse Blick, Köln 2016. Herausgegeben von Thomas Ketelsen, mit Beiträgen von Horst Bredekamp, Andreas Schmidt-Colinet, Agnes Henning, Christian Raabe, Daniel Lohmann u.a..
(2) Westfehling, U.; Gilet, A., Im Banne der Sphinx. Louis-François Cassas 1756–1827. Mainz 1994.
(3) Seyrig, H., Amy, R., Will, E., Le Temple de Bel a Palmyre. Institut Français d’Archéologie de Beyrouth. Bibliothèque Archéologique et Historique, T. LXXXIII. Paris 1968/1975.
(4) Fless, F., Für Palmyras Ruinen gibt es nur eine Chance. Die Welt, 5.10.2015
(5) Doering, M., Krieg der Steine. In: Weltkunst. Nr. 110, Januar 2016.
(6) Hierzu umfassend: Weidner, S., Vandalismus als Waffe. Süddeutsche Zeitung, 26.8.2015.
(7) Bredekamp, H., Vom Untergang Palmyras zur kämpferischen Reproduktion. Beilage zu: Der un/gewisse Blick 20, siehe Anm. 1; Weiterhin der Vortrag Baut die Tempel wieder auf von Hermann Parzinger in Köln am 3.3.2016 im Wallraf-Richartz-Museum Köln, sowie sein gleichnamiger Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.9.2015.

Dr.-Ing. Daniel Lohmann (*1977) studierte Architektur an der RWTH Aachen und de Edinburgh College of Art. Seit 2004 ist er freiberuflich tätig in der historischen Bauforschung und Dokumentation. Von 2006-2009 war er Stipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts für die bauhistorische Erforschung des Jupiterheiligtums in Baalbek (Libanon), wofür er 2014 an der BTU Cottbus promoviert wurde. Seit 2009 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehr- und Forschungsgebiet Denkmalpflege und Historische Bauforschung der RWTH Aachen.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert