Pier für Kreuzfahrtschiffe entzweit die Stadtplaner von Rio de Janeiro

Ankerplatz gesucht

Ein Vorhaben wie dieses müsste eigentlich jeden Architekten und Stadtplaner reizen, wäre es nicht mit so vielen Differenzen belastet: Schon seit Jahren überlegt das Rathaus von Rio, wie sich der kilometerlange Uferkai an der Hafenbucht als Anlegeplatz für Kreuzfahrtschiffe verbessern lässt. Zugleich könnte man mit einem geschickten städtebaulichen Eingriff das dort herrschende Verkehrschaos lindern. Und für Einwohner und Besucher der Zuckerhut-Metropole würde der Blick aufs Meer wieder frei, den bisher eine Hochstraße verstellte.

Der einstige Pier „Oscar Weinschenck“, vom Volksmund wegen seiner Nähe zu einem gleichnamigen Platz meist „Pier Mauá“ genannt, wurde schon vor fast 15 Jahren aufgelassen, weil dort die Abfertigung der heute üblichen Passagierschiffe von 30 bis 70 Metern Höhe und mehreren hundert Metern Länge nicht möglich ist. Stattdessen ankern seither die Schiffe parallel zum Uferkai – unmittelbar links vom alten Pier – vor den Lagerhäusern Nr. 1 bis 6, die heute nur zeitweilig für kulturelle und gesellschaftliche Veranstaltungen genutzt werden. Auf dem stillgelegten Pier selbst entsteht derweil das „Museum der Zukunft“ der Stiftung Roberto Marinho.

Während der Sommermonate auf der Südhalbkugel (Oktober bis April) ankern am Kai im Schnitt zwei bis drei Kreuzfahrer täglich, an Neujahr und im Karneval aber bis zu sieben. Das Passagieraufkommen liegt bei 700000 bis 800000 Personen jährlich. Das schafft Probleme sowohl bei deren Abfertigung wie auch für den reibungslosen Zugang von Handelsschiffen zu den Lagerhäusern ab Nr. 7, die noch dem Frachtumschlag dienen.

Um den Engpass aufzubrechen, schrieb der öffentliche Lagerhausbetreiber Companhia Docas den Auftrag zum Bau eines neuen Piers aus, den Ende vorigen Jahres das Konsortium „Rio Y Mar“ erhielt. Der ursprüngliche Kostenvoranschlag für das Projekt belief sich auf etwa 75 Millionen Euro (ohne die dazu nötigen Baggerarbeiten in der Hafenbucht) und die vorgesehene Bauzeit auf 28 Monate. Der Baubeginn war zunächst für Juni 2013 beabsichtigt, doch geriet das Vorhaben bald in ein Dickicht stadtplanerischer und haushaltsrechtlicher Kontroversen, so dass bei Redaktionsschluss noch kein Fortschritt zu erkennen war. Dafür kletterten die Baukosten wegen Indexklauseln im Vertrag bereits um mehr als zehn Prozent in die Höhe.

Der wichtigste Vorteil des „Pier Y“ besteht für die Erbauer im geringeren Aufwand für das Ausbaggern von Fahrrinnen, weil in diesem Teil der Hafenbucht die Wassertiefe größer ist. Seine Hauptnachteile bilden die langen Anmarschwege für Touristen, die von der Spitze eines der beiden Y-Arme bis zum Kai etwa 600 Meter zurücklegen müssten, sowie in der ungünstigen Position des Piers: An seinem Fuß ankernde Schiffe würden den Blick auf das „Museum der Zukunft“ und zwei historisch bedeutsame Gebäude beeinträchtigen.

Das sei umso beklagenswerter, meint die Architekturdozentin Cêça Guimaraens von der Bundesuniversität Rio (UFRJ), als man nach dem Abbruch der Hochstraße endlich wieder auf freie Sicht in die Hafenbucht hoffen durfte. „Stattdessen verschandeln wir mit diesem absurden neuen Bauwerk nun auf Jahrhunderte die Skyline von Rio“, rügt sie. Auch das Stadtplanungsamt (Iphan), der brasilianische Architektenbund (IAB) sowie Sprecher der „Grünen“ im Stadtrat von Rio äußerten mehrfach Bedenken gegen die Ende 2012 getroffenen Entscheidung. IAB-Präsident Sérgio Magalhães tadelt an der von Docas geleiteten Ausschreibung zudem die „Politik vollzogener Tatsachen“, die dem Stadtbild schon in der Vergangenheit häufig geschadet habe.

Anfang diesen Jahres schaltete sich dann das spanische Architekturbüro Alonso-Balaguer-Riera (ABR) mit einem Alternativvorschlag in die Debatte ein. ABR ist nicht irgendwer: Im Auftrag der Stadtplanungsbehörde „Barcelona Regional“ entwickelte es anlässlich der Olympiade von 1992 bereits ähnliche Sanierungsprojekte wie das jetzt für Rio beabsichtigte. Gemeinsam mit dem brasilianischen Büro Blac unter Leitung von João Pedro Backheuser skizzierten die Spanier einen Entwurf in E-Form (im Plan: G „E“). Der neue Pier entstände dabei deutlich weiter stadtauswärts; gleichzeitig umfasst der Entwurf von ABR-Blac auch die Anlage einer begrünten Uferpromenade und eines Yachthafens für etwa 250 Boote. Das großzügige Passagier-Terminal könnte wie in Flughäfen kommerziell genutzt werden und böte zudem ausreichend Platz für Zubringerbusse. „Wir haben bei unserem Projekt an eine Gesamtlösung für die Hafenzone von Rio gedacht, die auch 2030, 2040 oder 2050 noch voll funktionsfähig ist“, kommentiert Backheuser die Ideen von ABR-Blac.

Bürgermeister Eduardo Paes reagierte auf den Alternativvorschlag ausweichend. Persönlich gefalle ihm der E-Pier zwar besser, erläuterte er vor der Presse, doch gäbe es die Alternative bisher lediglich als bloße Konzeptstudie, die, soweit er sehe, auch drastische Eingriffe in die Bebauung jenseits des Uferkais umfasse. Sie bedürften erst einmal planungsrechtlicher Studien. Vermutlich ist außerdem in der von ABR-Blac vorgeschlagenen Position der erforderliche Baggeraufwand höher als bei dem Projekt von Docas.

Da die Baggerarbeiten vom brasilianischen Bund finanziert werden müssten, existiert seit Mitte 2013 schließlich noch ein Kompromissvorschlag der Regierung für den Pier-Neubau. Dabei würde die Y-Form beibehalten, das Bauwerk aber soweit stadtauswärts verlagert, so dass sein Fuß etwa auf Höhe des mittleren E-Balkens läge, wo das Wasser tiefer ist. Sicher lässt sich derzeit nur eins sagen: Ohne eine rasche Einigung von Bund, Gemeinde und Bauwirtschaft werden Rio-Touristen weder zur Fußball-Weltmeisterschaft 2014 noch zur Olympiade 2016 über die Gangway auf einen neuen Pier herabsteigen.

Lorenz Winter

Lorenz Winter lebt und arbeitet als freier Fachautor in Rio de Janeiro.

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