Spaziergänge mit Heiner Farwick

Auf der Promenade

Diesmal treffen sich Heiner Farwick, Präsident des BDA, und Andreas Denk, Chefredakteur dieser Zeitschrift, in Köln am Rhein. Ihr Weg führt sie entlang der neuen rechtsrheinischen Promenade in Deutz, die an diesem sehr warmen Frühsommertag eine architektonische Promenade mit leichter Brise ermöglicht. Das Thema der beiden Flaneure ist berlinisch: Es geht um den geplanten Aufbau der Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel.

Andreas Denk: Die Wiedererrichtung der Schinkelschen Bauakademie ist ein altes, aber heute wieder heißes Eisen. Es ist bemerkenswert, aber angesichts der bevorstehenden Wahl erklärlich, dass das Bauministerium einen solchen zeitlichen Druck auf die Planung macht. Dennoch sind weder die Fragen nach der Rekonstruktion des Gebäudes noch nach der Idee der Institution in der Gegenwart auch nur annähernd beantwortet. Oder wie sehen Sie das?

Heiner Farwick: Ja, es ist unbenommen, dass wesentliche Fragen noch nicht beantwortet sind. Dennoch ist der Druck nicht unnötig. Durch den Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags vom Herbst 2016 wurden Gelder für die Errichtung der Bauakademie ja erst zur Verfügung gestellt mit der Absicht, diese Mittel in nicht allzu ferner Zukunft auch zu verbauen. Die Diskussion um eine Wiedererrichtung der Bauakademie mit allem Für und Wider reicht über zwanzig Jahre zurück. Die Fachwelt ist also nicht unvorbereitet mit der Frage nach dem Sinn einer Bauakademie heute konfrontiert worden. Die frühere Diskussion wurde vor allem über das Gebäude, die Möglichkeiten und Chancen eines Wiederaufbaus geführt – in den letzten Jahren mit geringerer Intensität. Mit welchen Inhalten sich die Bauakademie zukünftig auseinanderzusetzen hätte, ist in den letzten Jahren zumindest öffentlich kaum mehr besprochen worden. Da gibt es also ein Defizit.

Andreas Denk: Einerseits geht es um die bauliche Wiederherstellung eines Denkmals der Frühmoderne und die Frage nach der richtigen Form seiner Rekonstruktion. Auf der anderen Seite diskutiert man über die Funktion einer Institution, die vielleicht ganz andere, auch räumlich andere Voraussetzung benötigt, als die Beherbergung in einem Gehäuse der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts. Architektonische Form ohne Funktion zu diskutieren, ist allgemein schon höchst problematisch, in Bezug auf Karl Friedrich Schinkel verbietet es sich geradezu. Wird da gerade das Pferd vom Schwanz aufgezäumt?

Heiner Farwick: Nicht unbedingt, aber es besteht die Gefahr. In den drei durch das BMUB initiierten und von der Bundesstiftung Baukultur moderierten Dialogforen mit Fachleuten aus verschiedenen Bereichen und einem sehr interessierten Publikum konnten Akteure aus unterschiedlichen Bereichen wichtige Positionen beleuchten. In den Diskursen, die sich sehr schnell auch in öffentlichen Debatten fortsetzten, ist deutlich geworden, dass man sich über das, was in diesem Gebäude stattfinden soll, zunächst weitgehende Klarheit verschaffen muss. Es reicht wohl nicht, nur das jeweils eigene Tun und die äußere Wahrnehmung seines Instituts in einer neuen Bauakademie in den Vordergrund stellen zu wollen.

Andreas Denk: Sprechen wir also als erstes über das Gebäude. Ist da tatsächlich etwas anderes vorstellbar als eine vollständige Rekonstruktion von Schinkels Bauwerk oder ist auch ein ganz anderer Entwurf an dieser Stelle denkbar, der nichts mehr mit der alten Bauakademie zu tun hat?

Heiner Farwick: Nach wie vor steht eine weitgehende Rekonstruktion zur Diskussion. Deutlich geworden ist inzwischen, wie schwierig ein vollständiger Wiederaufbau sein würde. Was passiert mit den im Boden erhaltenen Fundamenten der originalen Bauakademie? Welcher Bauzustand der Akademie sollte überhaupt wiederhergestellt werden, nachdem erste Umbauten schon in den 1870er Jahren stattgefunden hatten. Und schließlich stellt sich natürlich die Frage, wie eine Rekonstruktion sinnvoll mit einer neuen Nutzung verbunden werden könnte. Wäre die historische innere Struktur des Gebäudes mit einer neuen Nutzung vereinbar? Ein Zerlegen in Fassade und Grundriss bei Rekonstruktion der Fassade verbietet sich im Schinkelschen Sinne doch wohl.

Foto: Andreas Denk

Foto: Andreas Denk

Andreas Denk: Eine wesentliche Voraussetzung für eine Rekonstruktion, die dem Baugedanken Schinkels gerecht würde, kann nur die vollständige Wiederholung des Bauwerks mit den Originalmaterialien und der Originalkonstruktion sein. Das Besondere des Bauwerks war die veredelte Übertragung einer englischen Fabrikstruktur in ein hoheitliches, staatliches Gebäude: Schinkel hat hierfür ein Gebäude in Schlossnähe, einen quasi-industriellen Bautyp mit gusseiserner Konstruktion, einem dadurch möglichen seriellen, unterschiedlich und frei schaltbarem Grundriss und mit einem sichtbar belassenen „armen“ Material als Fassade ausprobiert – das war die Revolution der Bauakademie, die viele Architekten der Moderne so beeindruckt und beeinflusst hat. Schinkel hat damit versucht, eine essentielle Frage des 19. Jahrhunderts nach der Verwendung neuer Konstruktionsmöglichkeiten und neuer Materialien universal zu beantworten, was sich im Übrigen in einer großen Reihe von Hochschulbauten seiner Nachfolger niedergeschlagen hat. Insofern wäre jede Teilrekonstruktion ein Missverständnis, das Schinkels eigentliche Absicht konterkarieren würde…

Heiner Farwick: Das lässt sich tatsächlich nicht trennen. Es wird immer wieder in den Raum gestellt, die Fassaden des Schinkel-Baus zu rekonstruieren und eine völlig neue innere Struktur zu bauen. Die Reduzierung Schinkels auf eine Fassadenarchitektur ist meines Erachtens nicht akzeptabel. Da besteht ein großer Konflikt, der uns zum Nachdenken darüber zwingt, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, die nicht eine wie auch immer geartete Rekonstruktion ist, sondern im Schinkelschen Geist Lösungen für unsere heutige Zeit anbieten.

Andreas Denk: Arthur Moeller van den Broek, der ein begeisterter Verehrer des preußischen Oberbaurats war und dann in den 1920er Jahren immer mehr in die mindestens rechtskonservative Ecke abdriftete, hat in seinem Buch über den „Preußischen Stil“ geschrieben, dass die Architekten seiner Gegenwart „nicht wie Schinkel, sondern wie Schinkel“ bauen müssten, um gültige Ergebnisse zu erzielen. Also nicht die Form, sondern der Geist Schinkels müsse begriffen und nachgeahmt werden. Glauben Sie, dass das auch heute dem kommenden Wettbewerb helfen könnte?

Heiner Farwick: Wie eine Architektur aussehen könnte, die dem gerecht wird, muss ein offener Wettbewerb zu Tage bringen. Der Wettbewerb muss gerade deshalb offen sein, um ein breites Spektrum an Ideen hervorzubringen und um Interpretationsspielräume zu ermöglichen, die dem vielleicht gerecht werden.

Andreas Denk: Das beinhaltet natürlich auch die Möglichkeit, dass man dem damaligen Anspruch Schinkels, der in seiner technizistischen Phase der 1820er und 1830er Jahre den Leitsatz „Architektur ist Konstruktion“ zuordnete, nicht im mindesten gerecht wird, weil er möglicherweise in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur unzulänglich durchdrungen wird…

Heiner Farwick: …vielleicht muss man im Vorfeld Schinkels Idee von Architektur stärker herausarbeiten. Bisher ist dieses Rahmenwerk des Denkens Schinkels nur am Rande – als selbstverständliches Grundwissen gewissermaßen – in die Diskussion impliziert. Ich bin mir nicht sicher, ob der Geist Schinkels allen Akteuren gleichermaßen bewusst ist. Vielleicht brauchen wir ein großes Schinkel-Symposium, bei dem geklärt wird, was ihn bewegt hat, dieses Gebäude so zu bauen und welche Rückschlüsse wir daraus für das Bauen für unsere Gegenwart ziehen können.

Andreas Denk: Das ist eine gute Idee. Vielleicht gilt das nicht nur für die Bauakademie, sondern für manches andere wie das „Alte Museum“, das neue Packhaus und das Kaufhaus von Schinkel auch. Ludwig Mies beispielsweise hat erklärt, vom „Alten Museum“ alles gelernt zu haben, was ihm für seine Architektur nützlich war: Vieles von dem, was frühere Architekten noch als selbstverständliche Innovation in Schinkels Bauten lesen konnten, ist im verwandelten Wissenskanon der Architekten von heute verschüttet. Die Inkunabeln der frühen Moderne sind per se sakrosankt und werden kaum einmal mehr auf ihren eigentlichen architektonischen Gehalt hin überprüft – und damit ihrer architektonischen Virulenz beraubt. Da geht es ihnen nicht anders wie Stülers Schloss.

Heiner Farwick: Als weitergehende Anregung können wir als BDA diesen Gedanken einbringen – ein Symposium, das dem Schinkelschen Geist nachforscht. Dass der Bau in unmittelbarer Nähe zum Königsschloss eine städtebaulich prägnante Setzung gewesen ist, die auch symbolische Kraft hatte, ist unbestritten. Aber bei Schinkel geht es um mehr: Hier wird nicht nur die Bedeutung des Bauwesens, der Architektur und Ingenieurkunst durch die Positionierung inmitten der Stadt deutlich, sondern eine allgemeine Idee von Architektur als gesellschaftlicher Konstituente.

Andreas Denk: Architektur sei die „Veredlung der menschlichen Verhältnisse“ hat Schinkel dazu gesagt. Die Bauakademie mit ihrer formalen und konstruktiven Nähe zum Industriebau ist ein unmittelbar ablesbares Zeichen: Vor den Augen des Königs, in der Mitte der Stadt, gibt Schinkel die beispielhafte Antwort auf die epochale Frage „In welchem Style sollen wir bauen?“, die Heinrich Hübsch 1828, also kurz zuvor, formuliert hatte, und leitet damit ein neues Denken über das Wesen der Architektur an sich ein.

Heiner Farwick: Aus heutiger Sicht kann es allerdings nicht mehr allein der Blick 180 Jahre zurück sein. Vielmehr müssen wir uns die Frage stellen, welche Konsequenzen wir aus der Geisteshaltung für unsere eigene Gegenwart, für unsere Problemstellungen ableiten können. Das Lernen aus dieser integralen Art des Denkens ist dringlicher denn je.

Andreas Denk: Was kann, was müsste die Bauakademie heute sein?

Heiner Farwick: Grundsätzlich können wir von Schinkel lernen, dass wir den Anspruch der Architektur und der Ingenieurbaukunst so formulieren müssen, dass sie das fraktionierte Denken über Architektur überwinden können muss. Schinkel ist ein Beispiel dafür: Als Oberbaurat hat er es verstanden, nicht nur seine eigenen Entwürfe, sondern auch den zahlreichen Städten, Orten, Denkmälern und Neubauten, die ihm in den preußischen Provinzen anvertraut waren, mit großer Sorgfalt zu bedenken und zu behandeln. Diese Grundhaltung könnte zu einem wichtigen Prägefaktor auch für das Verständnis von Stadt und Architektur in unserer Zeit sein. Um das mit einer neuen Bauakademie zu fördern, schlägt der BDA eine freie Intendanz mit mehreren Persönlichkeiten vor, die gemeinsam um eine Programmatik ringen: Es geht um weit mehr als das Architekturschaffen retrospektiv, oder allein die Tätigkeit der freischaffenden Architekten, oder beschränkt die Bauwirtschaft oder gar nur den Aspekt der Digitalisierung zu betrachten, sondern es geht mindestens auch um das Handeln von Bauverwaltungen und um das Planen und Bauen allgemein – national wie international.

Andreas Denk: Der BDA hat in unserer Zeitschrift und auf dem Hochschultag immer wieder eine Förderung des interdisziplinären Denken gefordert, um der Bewältigung der großen – nicht nur baulichen – Probleme der Welt etwas näher zu kommen. Dabei gehört zum Programm, die Architektur zu einer „romantischen“ Wissenschaft zu entwickeln, die sich genauso aus dem üblichen architektonischen Wissenskanon wie aber auch aus den notwendigen Kenntnissen der einschlägigen Geistes-, Natur- und Gesellschaftswissenschaften speist. Nur so lassen sich die drängenden Probleme des Klimawandels, der Ressourcenknappheit, der Migration und des demographischen Wandels ernsthaft bearbeiten. Das könnte ein guter Grundgedanke für eine neue Programmatik der Bauakademie sein: Anders als traditionelle Hochschulen, anders als die gängigen Forschungsinstitute und anders als in Architekturausstellungen könnte hier Grundlagenarbeit für ein neues Verständnis der Architektur als einer Leitdisziplin einer umfassenden „Lebenswissenschaft“ sein, die sich der Zukunft der Gesellschaft widmet…

Heiner Farwick: Dazu gehörte aber neben der Problembehandlung auf der rein akademischen, fachlichen Ebene, die natürlich unersetzlich ist, auch eine öffentlichkeitsintensive Vermittlung der Ergebnisse dieses Tuns. Die gesamte Diskussion muss so öffentlich und spannend geführt werden, dass sie nicht nur dem Fachpublikum und einer „interessierten“ Öffentlichkeit zugänglich ist, sondern für jeden von Interesse ist. So ließe sich wohl im Laufe der Zeit ein allgemeines Bewusstsein, eine allgemeine Aufmerksamkeit für die Themen herstellen, die die Akademie verhandelt.

Andreas Denk: Nebenbei schlösse das, was wir „romantische“ Wissenschaft genannt haben, den Kreis zum Denken Humboldts, des Zeitgenossen Schinkels, und dessen gleichmäßigem Interesse an nahezu allen Disziplinen, die zu seiner Zeit die Welt erklären konnten. Dieses umfassende Denken zwischen Kultur, Technik und Wissenschaft hat auch Schinkel wesentlich beeinflusst – und eine solche Widmung der Akademie wäre viel mehr als eine schöne Erinnerung an einen bedeutenden Architekten…

Heiner Farwick: …nämlich die Übertragung einer Geisteshaltung in unsere Gegenwart, von der wir heute profitieren können, wenn wir sie in unser eigenes Aufgabenfeld übertragen. Unsere eigene gebaute Umwelt belegt jeden Tag, dass wir ein solches integrales Denken mehr denn je brauchen.

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