Aus der Zeit gefallen
Welche Rolle spielt Zeit in der Architektur? Sie zählt, wie auch die Begriffe Ort und Zweck, zu den „äußeren“ Grundlagen der Architektur und stiftet, so die These, Sinn, Inhalt und Schönheit. Zeitgenössische Architektur hat zunehmend Schwierigkeiten, sich von der Vergangenheit zu unterscheiden, zumal „das Neue“ immer schwerer wahrzunehmen ist. Dieser Beitrag von Uwe Schröder analysiert, was das für die Architektur bedeutet und auf was sich der Entwurf konzentrieren sollte: die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft?
„Wir sollten also lernen, uns selbst schon als Gewesene zu betrachten und das Gegenwärtige als ein Vergangenes.“(1)
Warum Zeit? In heutigen Diskursen zur Architektur kommt der Begriff der Zeit vergleichsweise selten vor und vielleicht liest er sich auch hier ein wenig ungewohnt. Zeit ist der Oberbegriff all jener temporalen Beschreibungen von Architektur, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch mitführen, wenn wir etwa von Architekturgeschichte sprechen und uns die Zeitgeschichte(2) der Architektur – in- oder auch exkludiert von der Architekturgeschichte – vorstellen. Aber um Begriffsgeschichten soll es nicht gehen und auch die Geschichte der Architektur soll hier zunächst im Hintergrund bleiben.
Ungenauer noch als bei der Differenzierung zwischen Architektur- und Zeitgeschichte geht es beim Nacheinander in der Zeit mit den adjektivischen Zuschreibungen von alt und neu zu. Diese scheinen im Gespräch über Architektur bloß noch konzeptualisierte Bedeutungen zu besitzen. Dass wir in der Architektur scheinbar immer weniger Neues sehen und dass dieses wenige Neue unverzüglich dem Alten zuzufallen scheint, gehört zu unseren Zeiterfahrungen unter der „evolutionären Dynamik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“(3). Mit anderen Worten: Das Neue tritt zwar mannigfaltig, aber in immer kleiner werdenden Abständen auf, sodass wir es als das Neue weder wahrnehmen noch vom Alten unterscheiden können.(4) Die „bedächtige“ Architektur kann da schon länger nicht mehr mithalten und für Avantgarden fehlt schlicht die Zeit.

„Präzeption – als vorausahnende Erinnerung – ist das Mittel der Wahl und die vorweggenommene Antwort auf die Frage, woran man sich erinnern wird.“ Joseph Michael Gandy, Vogelperspektive der Bank of England, wie sie 1830 von John Soane vollendet wurde, Aquarell auf Papier, um 1830, Sir John Soane’s Museum, London
Von Wandel und Umbruch ist zudem die Rede. Man spricht vom „Fall des Zeitregimes der Moderne“, die Aufmerksamkeit für Modernisierungsprozesse, Fortschritt und Zukunft nähme ab und die neuen Kategorien – „Kultur, Identität und Gedächtnis“ – träten auf.(5) Jedenfalls schien das noch für die Vor-Krisenzeit zu gelten. Längst hat sich neben der Aufmerksamkeit für das Vergangene das „diensthabende Organ der wahrnehmbaren Zeit“ – die Sorge(6) für und um das Kommende – mit Vehemenz zurückgemeldet. So wie das Wohnen zu unserer räumlichen, so gehören die Sorge, das Sorgetragen zu unserer zeitlichen Verfasstheit.(7) Als zeitliches Organ hält die Sorge auch einen Übergang zum derzeit dominierenden Diskurs über Nachhaltigkeit offen. Und auch die nachfolgenden Überlegungen zu Sinn und Inhaltlichkeit der Architektur verweisen in dieser Hinsicht auf weitere Möglichkeiten.
Offene Architektur
Neben den Begriffen Ort und Zweck gehört auch Zeit zu den „äußeren“ Grundlagen der Architektur. Dagegen stellen die Begriffe Material, Konstruktion, Form, Funktion und Raum als „innere“ Grundlagen der Architektur zugleich Eigenschaftlichkeiten eines Gebäudes dar. Acht Begriffe, mit denen sich der Anspruch verbindet, dass sich mit ihrer Hilfe wesentliche Beschreibungen von Architektur sowie methodologische Hinweise auf das Entwerfen(8) sammeln und erschließen lassen.
Dass hier exogene Einflüsse als feste Grundlagen der Architektur herangezogen werden, wirft möglicherweise Fragen auf. Entgegen ihren Anlagen sollte Architektur von Beginn ihrer theoretischen Aufzeichnung an immer schon eine Andere sein, sollte Kunst sein, aber erst im Verlauf der architektonischen Moderne konnte das Autonomiebestreben radikal vorangetrieben und weitgehend durchgesetzt werden. In der Moderne wählte die Architektur den Übergang zur Selbstbestimmtheit. Bindungen an Geschichte, an Orte, schlussendlich auch an Gesellschaften, sollten als „Fremdbestimmungen“ sukzessive verworfen und getrennt werden. Die Frage nach Sinn aber blieb offen.(9) Und noch in den 1990er-Jahren, beispielsweise in amerikanischen Diskursen, konnte man eine „weiße“, kontextlose und selbstreferentielle Architektur proklamieren. Die nachfolgende Generation forderte sogar – mit der erklärten Wirkungslosigkeit jeder Bedeutung – eine Architektur ein, die absolut nichts mehr ähneln sollte.(10) Auch diese jüngeren Kapitel der Zeitgeschichte der Architektur scheinen zeitlich wie inhaltlich gleichsam zu schrumpfen und sich in schneller Folge ab- und aufzulösen. Jedenfalls können wir uns gegenwärtig – in dieser Zeit – ein architektonisches und städtebauliches Gestalten, das neben der Sinnlichkeit nicht auch den Sinn zum Ziel erklärt, vielleicht schon nicht mehr vorstellen, ganz sicher aber nicht mehr leisten – auch zeitlich nicht. Die Frage nach dem Sinn, nach „neuer Inhaltlichkeit“ steht also im Raum(11): Architektur wendet sich dem Äußeren zu, öffnet sich gegenüber Einflüssen und nimmt die örtlichen, zweckmäßigen und zeitlichen Kontexte auf. Das also ist die Bedeutung der „äußeren“ Grundlagen der Architektur: Sinnstiftung. Die Spiegelung des Übergeordneten und Unendlichen im Begrenzten und Endlichen der Architektur stiftet Sinn, Inhalt und ja, auch Schönheit.(12)
Sicherlich, es ist auch sinnvoll, wenn etwa das Material die Konstruktion empfiehlt, die Konstruktion in der Form Ausdruck findet, die Form die Form des Raums ist und die Funktion die Architektur für einen „schönen Gebrauch“ offenhält. Doch wenn aus dem Inneren heraus das Wesen zu seiner freien Erscheinung gelangt, dann spiegelt sich darin – in der Schönheit – nicht allein nur Inneres(13): Auch die übergeordneten Bedeutungen und Inhalte schreiben sich beim Entwerfen und im Entwurf den inneren Grundlagen ein. Also nur unter der Prämisse von Sinnlichkeit und Sinn gelangt die Architektur zu wirklich „inhaltlichem“ Ausdruck ihrer Zeit.

„Architektur trägt Erinnerung, Architektur ermöglicht Erinnerung. Zugleich sind Erinnerungen schon beim Entwerfen und im Entwurf von Architektur präsent.“ Joseph Michael Gandy, View of the Dome area at 13 Lincoln’s Inn Fields by night, looking east, Aquarell auf Papier, um 1811, Sir John Soane’s Museum, London
Konzentrationspunkt Gegenwart
Die kulturelle Aufmerksamkeit hat sich in der Vergangenheit verschiedenen Erinnerungskulturen und -orten und der Frage nach dem Umgang mit Geschichte zugewendet: „Eines der überraschendsten kulturellen und politischen Phänomene der letzten Jahre ist das Interesse an Erinnerung als Schlüsselphänomen westlicher Gesellschaften und damit verbunden die Hinwendung zur Vergangenheit und Abwendung von der Zukunft, auf die die Moderne in früheren Dekaden des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war.“(14) Erinnerungen vergegenwärtigen etwas, beispielshalber etwas Gewesenes, Novalis hat es prägnant auf den Punkt gebracht: „Alle Erinnerung ist Gegenwart.“(15) Das so Vergegenwärtigte kommt zu aktualisierter Präsenz und Wirksamkeit, nicht als einfache Reproduktion einer Vorstellung, sondern als eine verstehende und reflektierende Aufnahme, als Rezeption. Architektur und ihre Orte sind auf verschiedene Weise mit Erinnerungskulturen verbunden. Architekturen der Erinnerung(16) stiften Orte mit Gedächtnis, zu den ältesten zählen Begräbnisstätten und sakrale Räume. Denk- und Mahnmale erinnern an historische Ereignisse. Artefakte und ihre Geschichten werden in Speichern verwahrt, Archive, Museen und Schaulager halten die Erinnerung wach. Architektur stiftet Orte kollektiver Erinnerung sowie zahlloser individueller Gedächtnisse – etwa das Elternhaus –, in denen Raum und Atmosphäre mit der zeitlichen Lebenskonzeption der Erinnernden zusammenfallen. Architektur trägt Erinnerung, Architektur ermöglicht Erinnerung. Zugleich sind Erinnerungen schon beim Entwerfen und im Entwurf von Architektur präsent. Als Komplementärbegriff zu Rezeption hat der Philosoph Hermann Lübbe den Begriff Präzeption etabliert, der die Vorwegnahme zukünftiger „Vergangenheitsvergegenwärtigung“ beschreibt.(17) Das Problem im Hintergrund ist schnell erklärt, eine einfache Hochrechnung: Gegenwärtig bringen unsere Gesellschaften eine rasant steigende Anzahl von möglichen Relikten der Zukunft hervor: Dokumente, Artefakte, auch Architekturen, die die Kapazitäten von Archiven und Museen, des Denkmalschutzes und der -pflege zunehmend überlasten werden. Präzeption – als vorausahnende Erinnerung – ist das Mittel der Wahl und die vorweggenommene Antwort auf die Frage, woran man sich erinnern wird. Und Architektur? Rezeption, also Erinnern, das Aktualisieren des Vergangenen in der Gegenwart, und Präzeption, also vorweggenommenes Erinnern, das Vorstellen der Gegenwart als Vergangenheit der Zukunft, vermehren die Aufmerksamkeit für unsere Zeit – sie bedeuten eine radikale Konzentration auf die Gegenwart. Nur so kann die Architektur ihrer Zeit entsprechen. Also, keine Architektur der Vergangenheit, aber auch keine der Zukunft, es kann nur eine Architektur der Gegenwart sein: Entwerfen heißt Erinnern!
Prof. Dipl. Ing. Uwe Schröder (*1964), Architekt BDA, studierte Architektur an der RWTH Aachen und an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 1993 unterhält er ein eigenes Büro in Bonn. Nach Lehraufträgen in Bochum und Köln war er von 2004 bis 2008 Professor für Entwerfen und Architekturtheorie an der Fachhochschule Köln, seit 2008 ist er Professor am Lehr- und Forschungsgebiet Raumgestaltung an der RWTH Aachen. Als Gastprofessor lehrte er an der Università di Bologna (2009 – 2010), an der Università degli Studi di Napoli „Federico II“ (2016), am Politecnico di Bari (2016), an der Università degli Studi di Catania (2018), am Politecnico di Milano (2019) und an der Università di Parma (2020 – 2021). Er ist Redaktionsbeirat dieser Zeitschrift.
Fußnoten
1 Bazon Brock: Geschichte als Differenz in der Gegenwart, in: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Schriften 1978 – 1986, hrgs. v. Nicola von Velsen. Köln 1986, S. 191 – 197, hier: S. 193.
2 Vgl. Gabriele Metzler: Zeitgeschichte: Begriff – Disziplin – Problem, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 07.04.2014 https://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte
3 Siehe: Hermann Lübbe: Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Stuttgart 1996.
4 Vgl. die Ausführungen zu den Begriffen „Gegenwartsschrumpfung“ und „Zukunftsexpansion“, in: Ebd. S. 12 – 19.
5 Siehe: Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013.
6 Vgl. Martin Heidegger: Die Sorge als Sein des Daseins, in: Sein und Zeit (1927), Gesamtausgabe, hrsg. v. F.-W. v. Herrmann, Bd. 2, 6. Kapitel, §§ 39 – 44, Frankfurt a. Main 2018, S. 240 ff.
7 Vgl. Rüdiger Safranski: Zeit der Sorge, in: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Frankfurt a. Main 2017, Kapitel 3, S. 63 ff.
8 Exogene und endogene Grundlagen lassen sich methodologisch den Oberbegriffen „Topos“ und „Typus“ zuordnen; vgl. Uwe Schröder: Die zwei Elemente der Raumgestaltung. Tübingen / Berlin 2009.
9 Vgl. Uwe Schröder: Déjà-vu. Orte der Architektur, in: der architekt 3 / 2017, ort. grundlagen der architektur I, S. 18 – 21.
10 Vgl. Frederike Lausch, Zeichen und Affekt. Zur Bedeutung von Spektakelarchitektur, in: der architekt 2 / 2018, zeichen und wunder. beiträge zur architektur als bedeutungsträgerin, S. 64 – 66.
11 Vgl. Andreas Denk / Uwe Schröder: Das Romantische in der Architektur. Fragmente aus Gesprächen, in: der architekt 6 / 2021, geheimnis im gewöhlichen. zum romantischen in der architektur, S. 15 – 18.
12 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800), hrsg. v. Horst D. Brandt / Peter Müller, Hamburg 2000, S. 291.
13 Vgl. Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit, Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner (1793). Stuttgart 2006, S. 18.
14 Ebd. Assmann, München 2013, S. 14.
15 Novalis: V. Aphorismen und Fragmente 1798 – 1800, Magischer Idealismus: „Alles kann am Ende zur Philosophie werden, …“.
16 Vgl. Architectures of Memory, digitales Symposium, mit Beiträgen von Renato Rizzi, Paolo Zermani u.a., Università di Parma, 7. Mai 2021, Video: https://www.youtube.com/@architecturesofmemory5382
17 Siehe ebd.; Lübbe, Stuttgart 1996, S. 8 ff.