Das verdeckte Stellwerk von Stadt und Architektur

Der Zahn der Zeit

Der Lauf der Uhren hat sich selbstredend nicht verändert; dass die Zeit sich aber beschleunigt, die Stunden und die Tage gleichsam „rennen“, kann als Phänomen der kapitalistischen Gesellschaften erfasst werden. Mit der Ökonomisierung der Zeit konstituierte sich die Herrschaft der Geschwindigkeit, so der Architekt und Publizist Robert Kaltenbrunner. Dieser Beitrag untersucht die zum Teil verheerenden Auswirkungen der gebotenen Effizienz auf die Qualität des Bauens sowie der Stadtplanung und skizziert mit temporären Nutzungen einen Lösungsansatz.

In seinem hellsichtigen, lange vor dem Internet – das heißt Ende der 1980er-Jahre – erschienenen Buch „Uhrwerk Universum“ hat Jeremy Rifkin erzählt, wie die ersten Turmuhren nichts anderes waren als soziale Netzwerke. Sie wurden in der Mitte des Stadtplatzes aufgestellt und ersetzten bald die Kirchenglocken als Treffpunkt und Bezugspunkt für die Koordination der komplexen Interaktionen des Stadtlebens.

Das war einmal. Die Einteilung des sozialen Lebens in präzise Raum-Zeit-Zonen ist brüchig geworden. Unter den Bedingungen der Globalisierung gewinnt der Wandel der Zeitstrukturen generell an Dynamik. Deren Auswirkungen wiederum offenbaren sich zuerst – und wohl auch am stärksten – in den Städten: Und zwar nicht nur in der Ausdifferenzierung der Arbeitszeiten nach Dauer und Lage, in modifizierten Lebensgewohnheiten oder der Veränderung der Ladenöffnungszeiten. Hartmut Rosa bemüht unzählige Studien, die belegen, wie sehr sich Zeitwahrnehmung und Temporalstrukturen beschleunigen, wie Unruhe und Zeitnot wachsen, Vergangenheit verdämmert, Gegenwart schrumpft und Zukunft schwindet. Konnten die Menschen der „klassischen Moderne“ noch halbwegs das Gefühl haben, ihre Identität in einer gerichteten Zeit stabilisieren zu können, geht heute die Balance zwischen Beharrung und Beschleunigung verloren. Es sei die Zeit selbst, die sich „entzeitliche“.(1)

Die ersten Turmuhren als soziale Netzwerke, A. Reckziege, Zeitglockenturm, Bern 1890 – 1900, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Deshalb ist der Begriff der Ungleichzeitigkeit zur Beschreibung der widersprüchlichen Wirklichkeit kapitalistischer Gesellschaften durchaus brauchbar. Er verweist auf die Koexistenz verschiedener Zeiten in einer Gegenwart, auf Wirkweisen unerledigter Vergangenheit und verhinderter Zukunft, auf Widersprüche in und zwischen den gesellschaftlichen Verhältnissen. Man kann, so Bruno Latour, Zeit definieren „als eine ‚Ordnung der Aufeinanderfolge‘ und Raum als eine der ‚Gleichzeitigkeit‘. Solange wir alles unter der Macht des Fortschritts zu den Akten nahmen, lebten wir in der Zeit der Aufeinanderfolge. Kronos fraß alles Archaische und Irrationale in seiner Nachkommenschaft auf und verschonte nur jene Nachkommen, denen eine strahlende Zukunft bestimmt war (…). Anders gesagt, der Raum hat die Zeit als prinzipielles Ordnungssystem abgelöst.“(2) Und doch gestaltet sich das Wechselverhältnis von Raum und Zeit offenkundig immer komplexer: Ortszeit wird um Echtzeit ergänzt; Kommunikationstechnologien machen die Gleichzeitigkeit zu einer weltweiten Erfahrung. Die Globalisierung lässt die Entfernung zwischen den verschiedenen Lebenswelten schrumpfen. Am konkreten Ort häuft sich indes das Kontrafaktische: Wachstum und Schrumpfung vollziehen sich heute kleinräumig neben- und ineinander; zur selben Zeit und in der gleichen Stadt expandieren Gewerbe und Wohnen gen Suburbia, während in der City Gebäude leerstehen und Flächen brachfallen.

Unabhängig davon stellt Stadt eine Ansammlung von Räumen dar, in denen Geschichte und Geschichten eingelagert sind: offensichtliche und verborgene, vertraute und mit Aufregung zu entdeckende. Diese unbekannte und unsichtbare Dimension der Zeit betrifft nun nicht nur Gebrauchswert und Stimmung, sondern die Wahrnehmung überhaupt, wie es der nigerianische Schriftsteller Chris Abani einmal beschrieb: „Sie haben mal eine Untersuchung gemacht: Leute, die hier lebten, wurden gebeten, die Stadt zu zeichnen, in der sie zu Hause sind. Die korrektesten Zeichnungen stammten von jenen, die am kürzesten da waren, ungefähr fünf Jahre. Nach zehn Jahren zeichneten die Leute ihre täglichen Wege und Abkürzungen, die nichts mehr mit einem maßstabsgetreuen Stadtplan zu tun hatten. Nach zwanzig Jahren hatte ihr Stadtbild nichts mehr zu tun mit irgendetwas außerhalb ihrer eigenen Vorstellung.“(3)

Freilich, dass die Zeit gleichsam eine aktiv eigenständige Rolle übernimmt, stellt ein vergleichsweise junges Phänomen dar: Erst die Industrialisierung verkoppelte Produktion, Transport, Verteilung und Verbrauch der Güter auf der Grundlage des Prinzips der abstrakten Zeit. Sie sorgte für eine Beschleunigung von der Produktion bis zum Konsum durch den Einsatz von Zeitverkürzungsmaschinen und -techniken. Sie forderte alle Beteiligten zu einem neuen Umgang mit der Zeit auf: zu ihrer wirtschaftlichen Nutzung. Sie führte zur Bewirtschaftung der Zeit, die zu einem anerkannt ökonomischen Faktor wurde. Die vermehrte Arbeitsteilung machte gleichzeitig eine Synchronisierung von einzelnen Produktionsbereichen unumgänglich, die sich in Terminabsprachen und dem Einhalten von Terminen äußerte. Die effiziente Ausnutzung der Investitionen zwang die Unternehmer zudem zu einem rascheren Umschlag des Anlagekapitals sowie zu einer strengeren Disziplinierung der Arbeiter hinsichtlich der Zeit. Mit der Elektrifizierung des Alltags verstärkte sich aber auch die soziale Disziplinierung; ein rationales, „zeitgemäßes“ Denken setzte sich allenthalben durch. Und dies war zugleich der Ausgangspunkt, von dem aus auch im übrigen Leben der Geschwindigkeit zur Herrschaft verholfen wurde.(4)

„Kommunikationstechnologien machen die Gleichzeitigkeit zu einer weltweiten Erfahrung“, Tausende versammeln sich im Oktober 1919 vor dem Gebäude der New York Times am Times Square, um die Ergebnisse der World Series von einer ferngesteuerten Anzeigetafel abzulesen, Foto: The Brown Brothers – The New York Times photo archive

Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde „Effizienz“ zu einem gesellschaftlichen Schlüsselbegriff, die Uhr zu ihrem entscheidenden Gradmesser. Implizit steckte dahinter die Aufforderung, die Zeit optimal zu nutzen, schneller zu arbeiten und schneller zu leben. Geschwindigkeit und Tempo infizierten die Gesellschaft als Ganzes und formten auch den Privathaushalt nach ihren Regeln. Die Hausfrau musste sich bei ihrer Arbeit von Zeitnehmern über die Schulter blicken lassen, die Wohnungseinrichtung wurde nach zeitökonomischen Gesichtspunkten zusammengestellt, indem der Wohnungsgrundriss als zeitsparende Wohnmaschine konzipiert wurde. Damit setzte ein zivilisatorischer Prozess ein, der das Alltagsleben immer weiter verregelte – und der bis heute keineswegs obsolet ist.

Zeitmaschine Architektur

In einer – zugegebenermaßen etwas zurückliegenden – Vergangenheit waren Bauten eine besonders handfeste Wirklichkeit, weil ihre Voraussetzung eine zwar nicht „hand“-feste, dafür aber „gefühlsfeste“, noch stabilere sinnbildliche Wirklichkeit war, ein Interpretationszusammenhang der Welt, der gemeint ist, wenn von Kultur oder Stil gesprochen wird. Architektur war darin ein Leitsystem, in dem und an dem sich Glaube und „Absicht“ einer Kultur mit einer je spezifischen symbolischen Wirklichkeitsauffassung objektivierte. Neben ihren offenkundigen Funktionen hatte Architektur stets auch andere, die dann wiederum Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen waren.

Seit der Renaissance versuchen Baumeister über die Zeitdimension verlorene Architekturbilder wieder zu beleben. Die Rolle der Avantgarde war diesbezüglich ambivalent – und zwar nicht nur, weil sie gegen die Stilregeln des Zeitgeistes verstieß. Die Suche nach dem Neuen war das konstituierende und zugleich tragische Moment der großen Erzählungen der Moderne. Es ist ja offenkundig, dass es etwa dem Bauhaus „um nichts Geringeres als einen großen und für alle modernen Zeiten denkwürdigen Neuanfang ging, um ein neues und ewig währendes ‚Heute‘“.(5) Der Blick voraus wurde jeweils durch seinen gesellschaftlich emanzipatorischen und kritischen Gehalt legitimiert. Allerdings hat das kapitalistische System die radikale Ikonographie des Neuen rasch verdaut – und zum Reflex verharmlost.(6) Eben diese Verwertungsdynamik ist Teil des heutigen Dilemmas. Philosophisch gesehen, zielte die Klassische Moderne auf die Überzeitlichkeit und auf einen unveränderlichen Idealzustand der Architektur. Praktisch aber führten die Experimente der Moderne zu einem beschleunigten Zerfallsprozess der Gebäude.

In Rhythmen von fünf bis 15 Jahren müssen zum Beispiel Gebäude renoviert werden, um als Baubestand aufrechterhalten zu werden. Geschäftsbauten, Produktionsanlagen und Infrastrukturen haben charakteristische Investitions- und Lebenszyklen, die eingehalten sein wollen, wenn ihre Art der Raumnutzung auf Dauer sichergestellt sein soll. Die typische Erscheinungsform der Störung dieser mehrjährigen Rhythmen sind die Verödung, Verslumung und das Brachliegen von Arealen. Auch diese Desinvestitionsphasen können aber wiederum zu regulären Taktteilen noch längerer Rhythmen werden.

„Erst die Industrialisierung verkoppelte Produktion, Transport, Verteilung und Verbrauch der Güter auf der Grundlage des Prinzips der abstrakten Zeit.“ Willy Pragher, Der Verkehrsturm am Potsdamer Platz 1927, Deutsche Digitale Bibliothek

Doch das heißt nicht, dass gebauter Raum in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum stattfindet. Denn die Zeit ist, wie es der amerikanische Philosoph Karsten Harries formuliert, „nicht nur um den domestizierenden Raum herum. Sie ist auch eine große Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit.“(7) Insofern artikuliert Architektur tatsächlich auch Zeit; sie gibt dem unermesslichen, ortlosen und unendlichen Raum ihr auf Erfahrung beruhendes menschliches Maß und Bedeutung, und sie verhilft auch der endlosen natürlichen Zeit zu ihrem menschlichen Maßstab. Folglich ist die übliche Sicht von Architektur als Projektionen von futuristischem Interesse und Aspiration für Neues falsch. Statt den Sinn für Kontinuität, für die Historizität der Kultur und die menschliche Erfahrung zu stärken, erleben wir seit gut 25 Jahren eine zunehmende Bildhaftigkeit gesellschaftlicher Kommunikation, die Iconic turn genannt wird und in der visuelle Medien und Phänomene bestimmend geworden sind. Nicht zuletzt die Domäne der Architektur glaubte, von diesem Anzeichen für einen grundsätzlichen kulturellen Wandel zu profitieren. Doch diese neue öffentliche Wirkung, die suggestive Kraft von Bildern unterlaufen zuweilen jede vernunftgemäße Argumentation. So scheint es nur konsequent, wenn heute vor allem das Fehlen des „guten Durchschnitts“ beklagt wird: „Bemerkenswerte Qualität wurde zu einer singulären Erscheinung. Überall sonst machte sich dasselbe belanglose Durcheinander breit. Das Bauen nahm in seiner Masse den Charakter eines Zerstörungswerks an Stadt und Landschaft an. In einem Metier, das so schwierig ist wie die Architektur, kommt nicht weit, wer immer wieder ganz von vorn beginnt. In den Sprachen, die einst mit konventioneller Geläufigkeit zu Gebot standen, war viel mehr Wissen und Können gespeichert, als in einer einzigen Generation von neuem hätte aufgebaut werden können.“(8)

Die Stadt und das Problem der Planung

Strukturbildung ist nicht bloß ein geographischer oder räumlicher Akt, sondern auch ein zeitlicher. Doch unsere gesellschaftliche Kurzatmigkeit widmet der Temporarität keine besondere Aufmerksamkeit. Sie erscheint eher wie der blinde Fleck im Auge des Betrachters. Tatsächlich artikuliert Zeit sich als Abfolge, aber auch als Nebeneinander und wechselseitige Überlappung von Phasen und Perioden. Der zeitliche Rhythmus der Stadt wird geprägt durch die unterschiedlichsten Taktgeber formeller und informeller Art. Dazu gehören Betriebszeiten genauso wie natürliche Rhythmen, Lebensgewohnheiten oder sozial-kulturelle Orientierungen.(9)

Desgleichen sind – gerade in der Stadt – die Zeit und die traditionellen drei Raumdimensionen untrennbar miteinander verbunden. Denn hier „verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei (…) der Raum gewinnt Intensität (…). Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“(10) Das Beispiel des Fordismus macht das sinnfällig. Er hat nicht nur Binnenmarkt und Massenkonsum in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch die Systeme sozialer Sicherung, einen hoch arbeitsteiligen Arbeitsalltag, die Mobilität und die Familienzelle als Kompensation dieses dicht regulierten Alltags. Das den Raum ordnende Prinzip dieser Phase war die Zonierung: Nicht nur Wohnen und Arbeit wurden in unterschiedlichen Gebieten organisiert – vom Kinderspielplatz über die Fußgängerzone bis hin zum Landschaftsschutzgebiet bildet dieses Prinzip den roten Faden. Die Architektursprache dieser Zeit war – ausweislich nicht nur der industriell erstellten Großsiedlungen – der Standardisierung und Gleichmacherei verpflichtet.

Spätestens die Postmoderne hat zwar mit dieser Vorstellung aufgeräumt. Geblieben aber ist die Auffassung von einer linearen Entwicklung mit einem festen Fluchtpunkt. Dem ist allerdings nicht so. Bereits die Veränderungen der Arbeitswelt – oder die der Ladenöffnungszeiten – hat ungeahnte Folgen.(11) Grundsätzlich, auf gesellschaftlicher Ebene, wird man auch konzedieren müssen: Alle Rettungsaktionen und alle Präventionen sind rückwärtsgewandt. Je mehr sie für sich beanspruchen, die Zukunft zu beherrschen, umso gefährlicher werden sie. Politiker, Intellektuelle, Planer, Unternehmer möchten die Zukunft in den Griff nehmen, um „Planungssicherheit“ zu geben. Sie wollen den Zufall eliminieren. Aber sie haben nicht alle Informationen, und sie wissen noch nicht einmal, welche Informationen relevant sein werden. Und selbst wenn sie es wüssten, könnten sie nicht ahnen, ob sich deren Relevanz im Zeitverlauf ändert. Denn die Zukunft ist eine spontane Ordnung, sie ist „Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs“, wie der schottische Aufklärer Adam Ferguson einmal schrieb. Handeln aber ist immer ein Akt der menschlichen Freiheit, bezogen auf die Freiheit anderer, nicht denkbar ohne Zufall und überraschende Konstellation, sei sie glücklich oder unglücklich. All das entzieht sich der Planbarkeit.

So nimmt es nicht wunder, wenn die Kategorie Zeit sich in der Stadtentwicklung durchaus diffus und widersprüchlich bemerkbar macht. Was umgekehrt bedeutet, dass man Urbanismus – mehr als bisher – als vielschichtiges und wechselseitig verknüpftes Gebilde begreifen muss: Bei einer sektoralen Optimierung geraten die oft durch komplexe Rückkopplungs- oder Kumulierungseffekte verstärkten Auswirkungen auf die Stadtentwicklung aus dem Blickfeld. Allzu oft werden Wirkungsgrad und Nachhaltigkeit einzelner Maßnahmen durch die Nebenwirkungen anderer Politikbereiche wie beispielsweise der Steuerpolitik, der Wirtschaftsförderung, der Sozialpolitik oder diverser Umweltmaßnahmen beeinträchtigt: gewissermaßen „Kollateralschäden“ des Umstands, dass viele Programme weithin „raumblind“ sind, weil sie einen konkreten Gebietsbezug ausblenden, weil territoriale Kategorien für sie nicht aktiv existieren.

Warten auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station 42nd Street, New York 2018, Foto: Eddi Aguirre

Zudem wäre das klassische Planungsverständnis auf den Prüfstand zu stellen: Traditionell wird zunächst ein Ergebnis oder ein Produkt formuliert, um im zweiten Schritt zu überlegen, wie dieses erreicht werden kann. Vielleicht wäre dieses Verhältnis heute umzudrehen: als Frage, wie eine Entwicklungsdynamik entfaltet werden kann, ohne dass ein idealer Endzustand antizipiert und (vorschnell) fixiert wird. Temporäre Nutzungen sind als Korrektiv und Komplementär eines (wie auch immer gearteten) verbindlichen Masterplans zu verstehen: Sie gehen vom Kontext und vom aktuellen Zustand statt von einem fernen Ziel aus, sie versuchen Bestehendes zu verwenden, statt alles neu zu erfinden, sie kümmern sich um die kleinen Orte und kurzen Zeiträume sowie die Zustände zu verschiedenen Zeitpunkten. Damit reagieren sie in gewisser Weise auf jenes Dilemma, das Lucius Burckhardt der Stadtplanung in toto zuschreibt: Erweist sie sich doch als „ein Zuteilen von Bequemlichkeiten und von Leiden; alles was Stadtplanung plant, bringt irgendwelchen Leuten Vorteile und anderen Nachteile. (…) Probleme sind unlösbar – und zwar deshalb, weil sie durchsetzt sind von Leidenszuteilungen. Bei Problemen gibt es keine beste und endgültige Lösung. Es gibt nur Möglichkeiten, wie sich die Gesellschaft für eine Weile einigermaßen gut durchwursteln kann.“(12) Temporarität kann darüber hinaus aber auch heißen, die Richtigkeit sofortiger Intervention in Zweifel zu ziehen. Häufig braucht es Geduld, eine konsolidierte Abwartehaltung, den berühmten „langen Atem“, wenn man mit bestimmten Problemsituationen in der Stadt umgehen will.(13)

Selbst in der drängenden Ökonomie der Zeit schwingt – in einer Art gegenläufigem Pendelschwung – die Ahnung davon mit, dass die Beständigkeit der gewohnten Räume um die Menschen herum das Aushalten von sozialen und anderen Veränderungen abfedert, wenn nicht gar ermöglicht. „Untrennbar von unserem Ich sind die gewohnten Bilder der äußeren Welt.“(14) Überspitzt ausgedrückt: Je schneller der Wandel der Arbeits- und Lebensweisen, umso wichtiger scheint die Trägheit der alten Routinen und Formen als mentales Gegengewicht zu sein. Wenn die Zeitachse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine sichere Orientierung mehr bietet, wenn „quer dazu“, im „Hier und Jetzt“, die viel zitierte Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem Verwirrung stiftet, scheint man den Fortschritt im Bewahren zu suchen.

Welche Lehren lassen sich daraus ziehen? Es geht darum, für den Städtebau die Zeit gleichsam urbar zu machen. Und dabei zu berücksichtigen, dass Stadtveränderung Detailarbeit ist, ein sanftes Steuern von Prozessen, die am besten gleichsam von selbst laufen; zumal die Einwirkungsmöglichkeiten auf große Prozesse gering sind. Gerade die inhärente Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen ist es, was Städte einerseits zu höchst dauerhaften und andererseits zu brodelnd lebendigen Gebilden macht. Zugleich muss man anerkennen, dass der Rhythmus einer belebten Stadt von Ungleichzeitigkeit geprägt ist. Hier funktioniert nichts nach einem zentralen Zeitregime. Eine Stadt ist nur dann lebendig, wenn man darauf hoffen darf, dass nicht alles nach Plan verläuft. Die tatsächlich urbane Stadt lebt wesentlich von der beständigen Erwartung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte.

Dr. Robert Kaltenbrunner ist ausgebildeter Architekt und Stadtplaner, leitet die Abteilung „Bau- und Wohnungswesen“ im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Bonn / Berlin) und ist als freier Publizist tätig.

Fußnoten

1 Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005.

2 Bruno Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Karlsruhe, Berlin 2005, S. 74.

3 Chris Abani: Der diebische Engel. In: Süddeutsche Zeitung, 26.5.2007.

4 Als treibende Kraft dahinter macht Lewis Mumford wiederum „die Maschine“ aus. Sie sei, aufgrund ihrer rationellen Konstruktion und der Vollkommenheit ihrer Leistung, nunmehr zu einer Art „moralischen Kraft“ geworden, die dem Menschen neue Maßstäbe setze. Vgl. Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Frankfurt a.M. 1980, S. 571.

5 Sonja Neef: An Bord der Bauhaus. Einleitung. In: Dies. (Hg.): An Bord der Bauhaus. Zur Heimatlosigkeit der Moderne. Transcript Verlag, Bielefeld 2009, S. 12.

6 Wobei man einräumen muss, dass es wahrscheinlich notwendig war, mit der Vergangenheit zu brechen, um der heutigen Gesellschaft die Freiheit. zu geben, das Wertvollste aus ihr auswählen zu können – wie ein Heranwachsender mit seinen Eltern brechen muss, bis er reif genug ist, von der älteren Generation schließlich das zu übernehmen, was seiner Entwicklung förderlich ist.

7 Im Original: „Architecture is not only about domesticating space, it is also a deep defence against the terror of time.“ Karsten Harries: Building and the Terror of Time. In: Perspecta, Yale Architectural Journal, issue 19, 1982, S. 59 – 69.

8 Georg Franck, Dorothea Franck: Architektonische Qualität. Carl Hanser Verlag München 2008, S.225

9 Vgl. Jürgen P. Rinderspacher: Der Rhythmus der Stadt – Die Bedeutung der Zeit für die städtische Gesellschaft. Berlin 1988 (difu-Materialien 1 / 88).

10 Bachtin, Michael M.: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. In: Kowalski, Eduard; Wegner, Michael (Hg.): Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Berlin u. Weimar 1986, S. 236.

11 Vgl. Henckel, Dietrich; Grabow, Busso; Kunert-Schroth, Heidrun; Nipper, Erwin; Rauch, Nizan: Zeitstrukturen und Stadtentwicklung. Stuttgart 1989, S.30ff.

12 Lucius Burckhardt: Das Ende der polytechnischen Lösbarkeit (1989) in: Ders: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer u. Martin Schmitz, Berlin (o. J.), S. 119 – 128, hier S. 122 u. 128.

13 Geduld zu haben ist schon deswegen von Bedeutung, weil man häufig nicht sofort wissen kann, was das eigentliche Problem und was – vor allem – das Potential einer urbanen Situation in einer bestimmten Zeit ist. „Hände weg, liegenlassen”, hat Karl Ganser schon vor Jahren programmatisch gefordert, und zugleich vor der Lebenslüge gewarnt, mit der sich unsere Gesellschaft an den vermeintlichen Rettungsanker Funktionswandel klammert: „Denn irgendwann werden die Dinge liegen bleiben.“ Damit darf man umgekehrt nun nicht dem Attentismus, dem Nichtstun, das Wort reden. Im Gegenteil. Aber es mag heißen: Lieber ein bisschen länger nachdenken und abwarten, sich nicht durch, oftmals ohnehin vermeintliche Sachzwänge unter Druck setzen lassen.

14 Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt / M 1985, S. 127.

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