Buch der Woche: Stephan Hubers Weltatlas

Mindmaps

Karten sind immer auch Weltdeutungen: Seit der frühen Neuzeit zeichnen Kartographen Stadtpläne und Landkarten, nicht selten wurde der Maßstab entsprechend einer behaupteten oder gewünschten, jedenfalls eher imaginären Größe bestimmter Landstriche verändert. Später, in Zeiten des Kalten Krieges, erschien Russland plötzlich riesig im Vergleich zum zwergenhaften Amerika – zumindest, sofern das Material von Russen erstellt worden war. Auch im 21. Jahrhundert sind Karten oftmals Instrumente politischer Kommunikation und hegemonialer Zuschreibungen, wie schon vermeintliche „Verdrehungen“ verdeutlichen, die unsere Sehgewohnheiten wortwörtlich auf den Kopf stellen: Betrachtet man zum Beispiel Karten, in denen Europa und Nordamerika nicht „oben“ und Afrika und Südamerika nicht „unten“ sind, sondern umgekehrt, erkennt man leicht, dass Objektivität eben auch beim Kartographieren keine gesetzte Größe ist.

Stephan Huber hat sich dem subjektiven Kartenzeichnen ganz und gar verschrieben. Seit den späten 1990ern collagiert der Künstler Landkarten, die opulente Psychogramme und anspielungsreiche Erklärungen zugleich sind – der Kartograph vermisst sich selbst und die Welt. Sein Material ist nun erstmals gesammelt im Hirmer Verlag erschienen.

In der Ästhetik an Schulatlanten erinnernd, nutzt Stephan Huber amerikanische Militärkarten als Grundlagen und verfremdet, erweitert, zersplintert sie, um sie anschließend neu zusammenzusetzen. Dazu kombiniert er Daten, Begegnungen und Vorbilder seiner eigenen Biographie, verknüpft Erlebtes mit Fiktivem, Kunst mit Literatur, Erträumtes mit Akkadischem und bringt das Ganze in eine fiktive topographische Ordnung biographischer Landschaften. Im Duktus eher trockene Erläuterungstexte sowie Auszüge aus Romanen, Gedichten und Liedern innerhalb der Karten dienen als weitere Reflexionsebene und ein umfangreiches Schlagwort- und Ortsregister am Ende erleichtert den Einstieg in die assoziative Lektüre.

Stephan Hubers Karten sind die Wimmelbilder, Welttheater, Wahnsinnssammlung – was gibt es da nicht alles zu entdecken: Etwa die Karte der „Maleexcentricislands“ mit Inseln für diverse Exzentriker wie Salvadore Dalí, Robert Garcet und Ludwig II. von Bayern, für den „Ludwigs Seelenpark“ angelegt ist mit dem „Areal, in dem sich Ludwig vor Bäumen verneigte, mit ihnen sprach und sie streichelte“. Oder die „Karte der Alten Welt“, die die „neurotische Kommunikation“ des Kalten Krieges verbildlicht – Augen und Ohren belauern einander, die DDR und die BRD sind jeweils mit Moskau und Washington über ein Herz-Kreislaufsystem verbunden und werden durch dieses genährt.

Man kann folglich alles, aber auch alles, in Karten erzählen: Seien es historische Zusammenhänge, etwa die Geschichte des Alpinismus oder der Medizin, seien es Naturphänomene. Auch die Zukunft kann kartographisch erträumt werden, wobei Stephan Huber eine gewisse Sympathie für die Underdogs heutiger weltpolitischer Realitäten erkennen lässt. „The Empire Strikes Back“ betitelt er eine Karte dementsprechend, zu der es heißt: „Durch den Tod und die Verwesung der gesamten Sardinenpopulation im Nordatlantik entstehen um 2024 große Mengen von schwerem Methangas, die den Golfstrom um 12 Grad Ost-Südost ablenken. Die daraus folgende langsame Abkühlung führt zu einer partiellen Vereisung Nordeuropas. Bis 2030 Migrationsströme Richtung Nordafrika.“ In einer anderen Karte versteppt durch Hungersnöte und Seuchen ganz China. Dazu heißt es lakonisch: „Danach langsame Ausdehnung der tibetischen Bevölkerung auf das ehemalige chinesische Zentralgebiet.“

So könnte man stundenlang weiter aufzählen und Beispiele anführen, denn Stephan Hubers Theatrum Mundi scheint unerschöpflich. Um es abzukürzen: Für Freunde von Atlanten ist dieses Buch ein Zeitverschwender im positivsten Sinne. Und allen anderen zeigt es, dass Karten niemals allgemeingültige Erklärungen der Welt sein können, sondern vielmehr ihre Komplexität aufzeigen. Es kommt eben, wie in vielen anderen Bereichen auch, ganz auf die Perspektive und den Maßstab an. „Im Glauben an die unauslotbare Vielschichtigkeit des Wirklichen erweist sich Huber als Erbe einer Dialektik der Aufklärung, die gelernt hat, die Brüchigkeit eines rein rationalen Diskurses und die Wirkmächtigkeit des Verdrängten als Fundament für die eigenen Strategien zu benutzen“, fasst der Autor Stephan Berg in einem abschließenden Aufsatz zusammen. Eine Aufklärung, die „statt auf Eindeutigkeit stets auf Ambivalenz und surrealismusgespeiste Doppelbödigkeit“ setzt.

Juliane Richter

Stephan Huber: Weltatlas, mit Beiträgen von Stephan Berg und Verena Krieger, 186 Seiten inkl. 18 Klapptafeln, 100 Abbildungen, Hirmer Verlag, München 2015, 49,90 Euro, ISBN: 978-3-7774-2387-6

Auf der Homepage des Künstlers sind ausgewählte Karten in hoher Auflösung abgebildet.

Abbildungen: Stephan Huber, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

 

 

 

 

 

 

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