Houston, we have a problem

Das Fenster

Ein energetisch-dynamisches Bauteil
Von Angèle Tersluisen

Mit dem Jahresthema „Kulisse und Substanz“ nimmt der BDA sich 2019 verstärkt den drängenden Fragen rund um den Themencluster Ökologie und Verantwortung an. Dabei steht die Diskussion im Vordergrund, welche Maßnahmen uns substanziell dabei helfen können, die Effekte des Klimawandels zu gestalten, und welche Eingriffe, Postulate oder Moden nur Kulisse bleiben. Bereits vor zehn Jahren haben zahlreiche Verbände – darunter auch der BDA – das Klimamanifest „Vernunft für die Welt“ verfasst und damit auch eine Selbstverpflichtung kundgetan, sich für eine Architektur und Ingenieurbaukunst einzusetzen, „deren besondere Qualität gleichermaßen durch funktionale, ästhetische und ökologische Aspekte bestimmt wird“. Auch der diesjährige BDA-Tag in Halle an der Saale wird sich am 25. Mai dem Thema annehmen und einmal mehr ein ökologisch-gesellschaftliches Umdenken anregen. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Texte und Gespräche erneut, die seit der Publikation des Klimamanifests erschienen sind.

Im Kontext des Gewinnens und Sparens stellt sich für Angèle Tersluisen, außerplanmäßige Professorin für Hauskybernetik an der Uni Kaiserslautern, die Frage, ob der Weg, den die Architektur und mit ihr die Fensterindustrie eingeschlagen haben, der sinnvolle ist: die Nutzung solarer Gewinne sei elementar, heute mehr denn je. Gewinne seien allerdings nur nutzbar, wenn die Verluste gering sind – das sei eine bauphysikalische Tatsache. Beide Anforderungen, Gewinnen und Sparen, seien somit untrennbar verbunden. Die enorm niedrigen Uw-Werte des heutigen High-Tech-Produktes Fenster hätten dazu geführt, einschichtig zu denken, dem Fenster in einer Konstruktionsschicht alle Funktionen, teils auch gegensätzliche, zuzuschreiben. Es stellte sich die grundlegende Frage, ob die dynamische Betrachtung der Bauteile, eine Trennung der Funktionsschichten, nicht doch die effizientere sei.

Licht ist das grundlegende Element, das es uns ermöglicht, Raum wahrzunehmen und Raum zu spüren. Licht macht Materie spürbar und erlebbar, Licht braucht wiederum die Materie, um selber spürbar und erlebbar zu sein. Die Schatten, der Wechsel von Hell und Dunkel, die feinen und die klaren Abstufungen sind es, die Licht wahrnehmbar werden lassen. Licht stellt die Beziehung zwischen Innen und Außen her, es bildet Schwellen und Übergänge, verortet den Betrachter im Raum. Licht macht Distanzen lesbar.

Natürliches Licht ist veränderlich, flüchtig, nicht greifbar, an den Zyklus der Sonnenbahn gebunden. Sonnenlicht bedeutet Lebensrhythmus. Ohne Sonnenlicht wäre kein Leben möglich. Denn Licht bedeutet Energie. Architektur ist im Grunde nichts anderes, als die präzise Anordnung von Licht und Schatten, Masse und Material. Und doch bleibt Licht im Raum oftmals Zufall.

Fenster sind die Bauteile, die das Licht in den Raum einlassen, bedeutende architektonische Elemente also, denen besondere Aufmerksamkeit gelten sollte. Streift man durch unsere Wohngebiete, begegnet man der Realität. Aufgedunsen wirkende Kunststoffrahmen umgreifen nicht selten großformatige, klare Gläser. Oft sind Fenster auf Grund der enormen Konstruktionsmaße praktisch nur noch in der Kippstellung zu öffnen. Veränderliche Elemente wie Klappläden oder aufstellbare Rollos sucht man meist vergebens.

Fenster können bequem im Online-Shop bestellt werden. Man wählt die Maße, das Material und die Wärmedurchgangskoeffizienten (1) für Rahmen (Uf) und Glas (Ug) als Indikatoren für gesetzlich zu reduzierende Wärmeverluste, hinzu kommen gegebenenfalls Lüftungselemente und der gedämmte Rollokasten – vor allem bei Sanierungen werden Fenster auf diese Weise ausgewählt. Fenster werden als die Schwachstellen der Wand betrachtet: der Uw-Wert ist der einzig energetisch relevante Wert bei der Fensterauswahl per Mausklick und meist alleiniger Austauschgrund für alte Fenster. Für die Neuwahl gilt: bei einteiligen, großen Fenstern sind die Verluste geringer, als bei zwei- oder mehrteiligen, eine Fensterflügel-Kleinteiligkeit wird durch Aufkleben von optisch trennenden Rahmenteilen lediglich vorgetäuscht. Die Handhabbarkeit beim Lüften tritt scheinbar energetisch begründet in den Hintergrund.

An Siedlungshäusern, die nach und nach von ihren jeweiligen Eigentümern saniert werden, kann man derartige Entwicklungen eindrücklich ablesen: Die neuesten Fenster mit den mutmaßlich geringsten Uw-Werten haben den größten Rahmenanteil oder anders herum betrachtet den geringsten Verglasungsanteil – je nach Fenstergröße und „Design“ beträgt der Glasanteil weniger als 50 Prozent der Rohbauöffnung. Die Lichtwirkung im Inneren, der Ausdruck des Äußeren, des Hauses, der Siedlung, treten neben dem zu verbessernden Wärmedurchgangskoeffizienten des neuen Fensters zurück.

Ursprünglich waren Fenster tatsächlich gravierende, energetische Schwachstellen. Unsere Behausungen wiesen zunächst nur Öffnungen für den Eingang und für den Rauchabzug auf. Diese Öffnungen wurden im Laufe der Zeit temporär mit Tierfellen oder Tüchern verhängt, um Verluste zu begrenzen.(2) Es kamen Lichtöffnungen hinzu, die zunächst so klein gehalten wurden, dass die Belichtung tagsüber maximal, die Verluste gleichzeitig minimal waren. Verglasungen waren zwar bereits seit dem Römischen Reich bekannt (3), dienten jedoch in unseren Breiten erst wesentlich später als transparenter Raumabschluss. Erst mit aufkommendem gehobenen Lebensstil entwickelten sich Verglasungen zum Standardelement – die Öffnung wurde zum Fenster, die Fenstermaße wuchsen, vor allem in den Städten.

In unserer Klimazone wirkten Fenster als dynamische, nicht selten räumlich wirkende Bauteile – mehrschichtig, filternd, in der Funktion und Lichtwirkung dem Jahres- und Tageszyklus folgend. Im Winter vorgehängte Außenfenster und zugezogene Innengardinen reduzierten den Wärmedurchgang durch zwei zusätzliche, annähernd ruhende Luftschichten temporär. Ähnliches erzielten nächtlich geschlossene Fensterläden. Noch heute prägen mehrschichtige Fensterkonstruktionen das Bild vieler Altstädte.

Verlust und Gewinn
Diese dynamisch wirkenden Konstruktionen sind im Vergleich zu einschichtigen hoch effektiv. Werden zwei Fenster zu einem Kastenfenstersystem hintereinander geschaltet, verbessert sich der Wärmedurchgangskoeffizient. Nach DIN (4) setzt sich der Gesamtwiderstand aus den Einzelwiderständen der Fenster, der Luftschicht und der Übergangswiderstände innen und außen zusammen. Hieraus ergibt sich für ein Kastenfenster (5), welches aus zwei einfachen Holzfenstern mit Einscheibenverglasung gebildet wird, eine Reduktion des Uw-Wertes von ca. 4,6 W / (m²·K) auf ca. 2,2 W / (m²·K). Die Verluste eines Holz-Kastenfensters sind demnach rechnerisch geringer als die der später entwickelten Isolierglas-Fenster.(6) Die Dichtigkeit der Konstruktionen hat ebenso Einfluss auf die Größe der Verluste: mehrschichtige Konstruktionen verbessern bei gleichem Standard des Einzelfensters die resultierende Dichtigkeit.

Neben den Verlusten spielen die möglichen Gewinne eine entscheidende Rolle. Die Gewinne richten sich nach dem Grad der Besonnung beziehungsweise der Verschattung, der Fensterausrichtung, dem Rahmen- oder Glasanteil und der Konstruktionsart des Glases. Glas ist nicht in der Lage, den gesamten Anteil solarer Energie durchzulassen: ein Teil wird reflektiert, ein Teil an der Scheibenoberfläche in Wärme umgewandelt und an die Umwelt abgegeben, Teile durch das Glas geleitet und teils nach innen, teils nach außen abgegeben. Der Anteil der Strahlungs- und Wärmeenergie, der durch die Scheibe hindurch in den Innenraum gelangt, wird durch den Gesamtenergiedurchlassgrad angegeben. Der Gesamtenergiedurchlassgrad liegt für Einscheibenglas bei circa g=0,85 [% / 100]. Dieser Wert besagt, dass etwa 85 Prozent der Strahlungsenergie als Energie durch die Glasscheibe durchgelassen werden: der Wert ist Indikator für die Größe der möglichen Energiegewinne. Werden nun zwei Gläser hintereinander geschaltet, vergrößern sich die Reflexions- und Absorptionsanteile durch die hinzukommende Glasoberfläche: der g-Wert der Gesamtkonstruktion sinkt, es kommt weniger Energie im Innenraum an. Für dynamisch bedienbare Kastenfenster bedeutet dies, dass vier Modi mit vier unterschiedlichen Werte-Kombinationen zur Verfügung stehen.

Beide Fenster sind geschlossen: U-Wert und Wärmeverluste sind minimal, der Gesamt-energiedurchlass ist geringer als das Produkt beider einzelnen g-Werte, hinzu kommen Teile der Wärmegewinne, die durch Absorption im Kastenzwischenraum entstehen. Dieser Modus ist in der kalten, strahlungsärmeren Zeit nützlich.

Das äußere Fenster ist geöffnet, das innere geschlossen: Uw-Wert und g-Wert entsprechen denen des inneren Fensters. Das innere Fenster ist durch die Lage innerhalb der Wandkonstruktion teilverschattet, der U-Wert, also der Wärmedurchgang, ist höher als bei geschlossenem Kastenfenster. Dieser Modus ist in der warmen Übergangszeit sinnvoll.

Das innere Fenster ist geöffnet, das äußere Fenster geschlossen: U-Wert und g-Wert entsprechen dem des äußeren Fensters. Der Modus ist in der strahlungsreichen kalten Zeit effektiv.

Beide Fenster sind geöffnet: zur Nachtauskühlung sowie Stoßlüftung werden beide energetischen Kennwerte eliminiert.

Die vier Modi ergeben vier verschiedene Wertekombinationen und entsprechend vier Funktionsqualitäten. Kommt die Verwendung von innen angebrachten textilen Vorhängen oder außenliegenden Holzläden hinzu, potenzieren sich die Möglichkeiten. Außenliegende Läden bieten effektiven temporären Wärmeschutz für die Nacht.

Der Gesamtenergiedurchlassgrad ist bei allen Fensterkonstruktionen, ob einschichtig oder mehrschichtig, eine entscheidende Größe. Untersuchungen zeigen folgendes (7):
Je höher der Gesamtenergiedurchlassgrad ist, desto höher sind die solaren Gewinne, desto geringer ist der Heizwärmebedarf. Dies gilt auch in Nordausrichtung. Ein außenliegender Sonnenschutz verhindert die sommerliche Überhitzung.

Je geringer der Uw-Wert, desto geringer sind die Verluste, desto geringer ist der Heizwärmebedarf und desto höher ist die Nutzbarkeit der vorhandenen solaren Gewinne.
Ein geringer Gesamtenergiedurchlassgrad kann einen geringeren Uw-Wert kompensieren, sogar ins Negative kehren, so dass ein Fensteraustausch im ungünstigsten Fall trotz Reduktion des Uw-Werts zur Erhöhung des Heizwärmebedarfes führen kann.

Zwei Einzelfenster mit Uw=1,43 W / (m²·K) (g=0,64) ergeben innerhalb einer Kastenfensterkonstruktion einen Ubtw=0,7 W / (m²·K). Verglichen mit einem Passivhausfenster mit identischem Uw-Wert (g=0,59) sind die Verluste nominal identisch, die Gewinne auf Grund der dynamischen Wirkung durch den variablen g-Wert und durch Teil-Absorption im Kasteninneren in alle Himmelsrichtungen orientiert höher. Der resultierende Heizwärmebedarf ist beim Kastenfenster im Vergleich zum einschichtigen Passivhausfenster deutlich niedriger. Passivhaus-zertifizierte Kastenfenster sind heute marktfähig.

Technisch gilt, dass der mögliche Gesamtenergiedurchlassgrad mit der Scheibenzahl sinkt, dennoch sind bei Drei-scheiben-Passivhaus-Verglasungen g-Werte über 0,6 möglich, allerdings selten. Manuel Demel vom IFT Rosenheim sagt hierzu: „In der Praxis beobachten wir, dass die gesetzlichen Regelungen zu einseitig optimierten Produkten geführt haben. Oft verbessern die Hersteller die U-Werte mit viel Aufwand um einige Hundertstel, während eine deutliche Verbesserung beim g-Wert – also bei den solaren Gewinnen – viel einfacher gewesen wäre.“(8) Öffentliche Stellungnahmen wie diese sind ungemein wichtig, sie führen zum Umdenken und läuten ein neues Bewusstsein ein.

Nutzung solarer Gewinne
Licht bedeutet zudem Wohlbefinden, psychisch wie physisch. Unser vergleichsweise rasanter Gesellschaftswandel von der Agrar- über Industrie- und Dienstleistungs- hin zur Netzwerkgesellschaft führte dazu, dass wir den Großteil unseres Alltags in Räumen verbringen. Mangelerscheinungen in Folge zu geringen Kontaktes mit Sonnenlicht sind heute keine Ausnahme mehr, ein resultierender Vitamin-D-Mangel führt zu verschiedenen gesundheitlichen Problemen. Spätestens, wenn Mediziner einen Zusammenhang zwischen unseren Architekturen und Mangelerscheinungen herstellen, merken wir, dass das Nutzen solarer Energie nicht nur aus energetischen Aspekten heraus nachhaltig ist.(9)

Gewinnen und Sparen sollte die Devise sein: die Nutzung solarer Gewinne ist aus verschiedenen Gründen elementar, heute mehr denn je. Gewinne sind allerdings nur nutzbar, wenn die Verluste gering sind – das ist eine bauphysikalische Tatsache. Beide Anforderungen, Gewinnen und Sparen, sind untrennbar verbunden. Die Frage entweder oder stellt sich, zumindest im Bereich des Wohnungsbaus aus meiner Sicht nicht. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Weg, den Architektur und folgend die Fensterindustrie eingeschlagen haben, der sinnvolle ist. Die enorm niedrigen Uw-Werte des heutigen High-Tech-Produktes Fenster haben dazu geführt, einschichtig zu arbeiten, einschichtig zu denken, dem Fenster in einer Konstruktionsschicht alle Funktionen, teils auch gegensätzliche, zuzuschreiben, mit allen Vor- und Nachteilen, die der Ansatz mit sich bringt. Es stellt sich die grundlegende Frage, ob die dynamische Betrachtung der Bauteile, eine Trennung der Funktionsschichten, nicht doch die effizientere ist.

Anmerkungen
1 Uw= U-Wert des Fensters (window), Uf= U-Wert des Rahmens (frame), Ug= U-Wert des Glases (glas)
2 vgl. Hermann Klos: Das Kastenfenster im 20. Jahrhundert, Sonderdruck (mit Ergänzungen) aus: Denkmalpflege in Baden-Württemberg: 39. Jahrgang, 4 / 2010
3 Thea Elisabeth Heavernick: Römische Fensterscheiben (Glastechnische Berichte 27, 1954, 464-466), in: Beiträge zur Glasforschung, S.24-27
4 DIN EN ISO 10077-1: 2010-05
5 Fenster der Normmaße 1,48 m x 1,23 m
6 Zur energetischen Effektivität von Kastenfenstern vgl. EnEV 2009, Anlage 3 (zu den §§ 8 und 9), 2) „(…) Werden Maßnahmen (…) an Kasten- oder Verbundfenstern durchgeführt, so gelten die Anforderungen als erfüllt, wenn eine Glastafel mit einer infrarot-reflektierenden Beschichtung (…) eingebaut wird.“
7 vgl. Angèle Tersluisen: Konzepte zur Planung und Bewertung energiegewinnender Bauteil- und Raumstrukturen im Wohnungsbau, Syntagma, Freiburg 2012, S.75 ff
8 vgl. Manuel Demel / Norbert Sack / Patrick Wortner: Das Fenster der Zukunft, in: Detail Green 02 / 11, Institut für Internationale Architektur-Dokumentation, München 2011, S.56-59
9 vgl. J. Matthias Wenderlein: Nachhaltigkeitsaspekte aus der Medizin: Vitamin-D-Versorgung – für Architekten eine Herausforderung, in: greenbuilding 01-02 | 2012, S.23 ff.

Apl. Prof. Dr.-Ing. Angèle Tersluisen (*1977) studierte nach einer Bauzeichnerlehrer Architektur an der TU Darmstadt und der ETH Zürich (bis 2007). Anschließend war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Entwerfen und Wohnungsbau, Fachbereich Architektur an der TU Darmstadt. 2012 erfolgte ihre Promotion an der TU Darmstadt. Seit 2017 ist sie außerplanmäßige Professorin für Hauskybernetik am Fachbereich Architektur der TU Kaiserslautern.

Dieser Text wurde zum ersten Mal publiziert in der architekt 5/2012 zum Thema „Sparen oder Gewinnen. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel.

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