Heiner Farwick

Der Fortschritt, die Architektur und die Architekten

Das 18. Berliner Gespräch des BDA

Der Diskurs des diesjährigen 18. Berliner Gespräch widmet sich dem Thema „Fortschritt“. Er fragt nach dessen Relevanz und dessen Implikationen für Architektur und Stadt. „Fortschritt“ – was meinen wir damit? Schneller, höher, weiter, mehr – sind das die Parameter des Fortschritts? Die Kritik am technoiden Streben, nach dem Drang und dem Bedürfnis, all das umzusetzen, was technisch möglich und machbar erscheint, ist nicht neu. Beispielhaft steht der französische Philosoph Rousseau, der sich zur Zeit der Aufklärung radikal gegen den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt wandte. So war das verheerende Erdbeben 1755 in Lissabon für ihn Anlass, die zunehmend an Einwohner wachsenden Städte zu kritisieren. Würden die Menschen hingegen im harmonischen Einklang mit der Natur leben, könnte kein Erdbeben ein so großes Leid verursachen, so seine Erklärung.

Angesichts der Tatsache, dass in diesem Jahr – 2013 – erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben, erscheint uns diese Kritik geradezu romantisierend. Aber Rousseaus Kritik ist im Grunde politischer Natur. Er war der Ansicht, dass technische und wissenschaftliche Entwicklungen unsere Welt und unser Zusammenleben verändern. Dadurch verändere sich der Mensch und die Folge seien Habgier, moralische Korruption und Betrug.

Fortschrittskritik begleitet spätestens seit diesem Zeitpunkt ein Streben, das sich nicht dem „Wahren“ und „Schönen“ verschrieben hat. Dennoch gab es Phasen eines geradezu euphorischen Fortschrittsglaubens, wie dies in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Fall war. Der Wettlauf ins All, die Erfindung des Siliziumchips 1965 mit der weitreichenden Veränderung der Arbeitswelten, die daraus resultierten, die Entwicklung der Anti-Baby-Pille 1961 oder die friedliche Nutzung der Kernkraft wurden als „Segnungen des Fortschritts“ gefeiert. „Fortschritt“ war technischer Fortschritt. Wir alle kennen die heute eher erheiternden Visionen atomgetriebener Automobile oder vollautomatisierter Haushalte.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Die Visionen dieses unbändigen Fortschrittsglaubens zeigte sich auch in den Bildern unserer Städte: Unterwasserstädte, „Walking Cities“, wie sie in den 1960er Jahren von archigram entwickelt wurden, oder die Bildung von verkehrsröhrenverstrebten Mega-Cities. Fortschritt war gut. Architektur, die dies widerspiegelte, war gut.
Dann kam in den siebziger Jahren das Nachdenken. Die „Grenzen des Wachstums“ wurden aufgezeigt, blinder Fortschrittsglaube wurde kritisiert. Zukunftsängste machten sich breit.

Nachdenklichkeit über unsere Entwicklung ist auch heute wieder oder immer noch festzustellen. Kann man – mit dem Blick auf die 1970er Jahre – auch von einer „Renaissance der Nachdenklichkeit“ sprechen? Wohin gehen wir eigentlich in unserem unaufhörlichen Fortschritt? Wohin wollen wir eigentlich noch wachsen? Oder mit Günter Grass gefragt: Müssen wir erlernen, den Stillstand im Fortschritt zu erkennen, um den Fortschritt zu ermessen?

Wenn wir uns besinnen und nach dem Sinn des Fortschritts für unser Gemeinwesen fragen, könnte man zur Auffassung kommen, dass Fortschritt heute ein entpolitisierter Euphemismus für die Sicherung von Wettbewerbspositionen an einem globalisierten Güter- und Dienstleistungsmarkt sind. Doch muss das Ziel nicht darin bestehen, Fortschritt im Sinne eines disziplinüber-greifenden Erkenntnisinteresses zu praktizieren, das sich der Lösung der deutlich erkennbaren Probleme des 21. Jahrhunderts widmet? Somit würde Fortschritt im Dienst der Menschlichkeit stehen, sich, genauer gesagt, in einem interdisziplinären Verständnis den künftigen Herausforderungen zuwenden, die sich an unser Gemeinwesen stellen.

Und wir Architekten müssen uns die Frage stellen, welche Verantwortung wir übernehmen wollen und können. Die sich an unsere Städte stellenden Herausforderungen sind hinreichend bekannt. Die energetischen und materiellen Ressourcenengpässe, der Umweltwandel, die globale Migration, die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung und die zunehmende Segregation der Gesellschaft bestimmen künftig noch mehr als jetzt die Frage nach einer guten und richtigen Gestalt unserer Lebensräume.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Diese Komplexität, diese Vielschichtigkeit in unseren Städten können wir nicht durch Einzelergebnisse von Klimaforschern, Migrationswissenschaftlern, Medizinern oder Materialwissenschaftlern in den Griff bekommen. Aber auch Architekten allein können diese Fragen nicht lösen.

Dennoch: Architektur ist das Medium, und Architektur ist die Disziplin, um zukunftsfähige Antworten in eine gebaute Lebenswelt zu überführen. Architektur kann diese Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie als eine isolierte Spezialdisziplin verstanden und praktiziert wird. Aus dieser Erkenntnis heraus erhebt der BDA – orientiert am Ideal des Humboldtschen Wissensethos – die Forderung nach einem integralen Denken für das Schaffen von Architektur.

Wir müssen erkennen und anerkennen, dass wir das Wesen eines Sachverhalts wesentlich tiefer durchdringen und andere Ergebnisse, andere Sachverhalte, andere Wissenschaften in unsere Analyse einbinden müssen. Hierfür steht der Begriff der Querschnittswissenschaft, in der sich Wissenschaften und Kulturtechniken gegenseitig bereichern. An diesem erkenntnisorientierten Austausch wird sich die Architekturdiskussion in erheblichem Maße beteiligen müssen.

Es ist nicht der naive Glaube an die Zukunftsverheißungen eines vermeintlich besseren Fortschritts, der uns bewegt, mit dem heutigen Berliner Gespräch nach einem geänderten Bild des Fortschrittsverständnisses zu fragen. Es ist vielmehr unsere Überzeugung, dass wir den Erkenntniszuwachs in unterschiedlichen Fachdisziplinen – gemeinhin den Fortschritt – in einem ganzheitlichen Sinn einsetzen müssen, um stärker als bisher dessen soziale Implikation für die Gestaltung unserer Städte nutzen zu können.

Das 18. Berliner Gespräch lädt in diesem Sinne zu einer Diskussion über das interdisziplinäre Arbeiten an unserem Lebenskosmos Stadt ein.

Dipl.-Ing. Heiner Farwick studierte Architektur und Städtebau an der Universität Dortmund, wo er 1989 diplomierte. Von 1990 bis 1991 arbeitete er im Architekturbüro Hans Busso von Busse (München). 1992 erfolgte die Gründung des Büros farwick + grote architekten und stadtplaner, Ahaus / Dortmund. Seit Dezember 2013 ist Heiner Farwick Präsident des BDA.

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert