Armin Nassehi

Fortschritt als Metapher der Moderne

Architektur als Konstruktionssystem

Ich beginne mit einer starken These: Die Metapher des Fortschritts hat vor allem eine Berufsgruppe fest im Griff, die der Architekten nämlich. Sie sind wahrscheinlich die Gruppe, die mit am stärksten mit der Metapher des Fortschritts verbunden ist. Eine Fortschrittsorientierung ist geradezu unvermeidlich, wenn sie etwas bauen müssen.
Zum besseren Verständnis werde ich die Fortschrittsidee in der Epochenschwelle der Moderne an autoritativen Texten rekonstruieren, dann den Plausibilitätsverlust, aber auch die Plausibilitätskontinuität der Fortschrittsidee im 19. und 20. Jahrhundert beschreiben und am Ende zu der Frage kommen, warum ausgerechnet die Architektur am Fortschritt festhält.

Betrachtet man die Begründung des Fortschrittsbegriffs als Metapher, findet sich oft der Hinweis darauf, dass bereits unsere religiöse Tradition eine lineare Zeitperspektive hat und so etwas wie eine Fortschrittsidee formuliert. Ist also die Fortschrittsidee religiös – womöglich die Religion der Moderne, strukturell ähnlich der Eschatologie? Nein, das ist sie nicht. Ich zitiere Hans Blumenberg: „Es gibt keine Anhaltspunkte für eine Umsetzung der Eschatologie in die Fortschrittsidee. Die entscheidende formale Differenz ist diese: Die Eschatologie redet von einem in die Geschichte einbrechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis, die Fortschrittsidee extrapoliert von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur aus in die Zukunft.

Das Eschaton, in der Mitte der Zeiten, repräsentiert durch den Tod Jesu Christi, ist keine Fortschrittsmetapher in dem Sinne, dass Gegenwart dadurch bestimmt sei, dass man so etwas wie einen Einbruch des Heils in jede Gegenwart hat und am Ende der Zeiten eine Erlösung stattfindet. Die Fortschrittsidee arbeitet genau anders herum, sie wirkt mit dem Hinweis darauf, dass die Gegenwart in einer fortschreitenden Zeit selbst das Ergebnis des Fortschritts ist, und auf weitere Fortschritte hofft. Nachdem die frühe Neuzeit, insbesondere ihre Politik, das Problem der Gestaltbarkeit der Welt noch im Kontingent werdender Erhaltung des Bestehenden sah.“

Die frühe Neuzeit hatte vor allem das große Problem, wie man in einer komplexer werdenden Welt alle Dinge so belassen kann, wie sie einmal gewesen sind. Auf so eine Frage kommt man übrigens nur, weil die Dinge sich von selbst nicht so verhalten, dass sie immer bleiben, wie sie gewesen sind, deshalb muss man Energie darauf verwenden, damit sie so bleiben können. In der frühen Neuzeit wird das Erlebnis der Unbestimmtheit, der Kontingenz, der Unbekanntheit der Kultur und der Zukunft mehr und mehr unter die Ägide des Zukünftigen, das eigentliche Ziel jedes Geschehens, gestellt. Das Neue in Wissenschaft, Pädagogik, Politik und Wirtschaft beginnt nicht mehr bedrohlich zu sein. Michel de Montaigne hat im 16. Jahrhundert formuliert: „Eine Wahrheit ist nicht deshalb vernünftiger, weil sie alt ist.“ So heißt es dann nur einige Jahre später bei Francis Bacon: „Schon das günstige Vorurteil für die Alten ist aber ganz grundlos und steht fast mit dem Worte selbst im Widerspruch, denn es gebührt dem späteren mündigeren Zeitalter der Welt, also unseren und nicht jenen jüngeren Zeiten, worin die sogenannten Alten lebten, der Name des Altertums. Jene Zeit ist in Rücksicht auf die Unsere zwar älter, aber in Rücksicht der Welt selbst jünger.“

Man stelle sich solche Sätze in einer Welt vor, in der alle Geltung, die einmal existierte, vor allem dadurch Geltung ist, dass sie aus den unvordenklichen Zeiten stammt. Montaignes Zeitverständnis bringt zur Geltung, dass die Wahrheit einer Epoche eher ein Problem der Substanz dieser Wahrheit, als ein Problem der Zeit sei, – damit setzte er sich sowohl von der transzendenten Heilsgeschichte der göttlichen Kairoi ab, als auch von der Begeisterung der Renaissance für die Antike. Epochen sind potentiell gleich gut oder gleich schlecht. Sie sind alle gleich nah zu Gott.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Bacon dagegen verzeitlicht noch einmal die Differenz der verschiedenen Zeiten, die Abfolge der Epochen sei ein Reifungsprozess von der jungen Antike zur älteren Gegenwart, wobei er die Geschichte selbst als Gebärerin der Wahrheit betrachtet. Er nennt, ich zitiere nochmals „die Wahrheit – eine Tochter der Zeit, nicht des Ansehens“. Was übrigens auch bedeutet, dass man die Wahrheit durch das Ansehen selbst verfehlen kann. Es ist nicht ausgemacht, dass der Fortschritt denjenigen, die da fortgeschritten werden, gefallen muss. Alles, was als gesellschaftliche Tätigkeit geschieht, muss nun unter dem Banner der Geschichte zu höherem, besserem, perfekterem Streben stehen – und Kraft dieses Strebens eingemustert in einen Sinnhorizont, der erneut dem Ganzen einen Sinn gibt. Man erfindet den Begriff der Neuzeit.

Neuzeit ist die Zeit, die selbst historisiert wird – und damit werden Geschichte und Fortschritt sinngleiche Kategorien. Empirisch dagegen kommen diese Begriffe wie Fortschritt und Geschichte nicht im Singular vor, sondern immer im Plural. Es gab zunächst keinen Fortschritt, sondern Fortschritte: in Technik und Wissenschaft, in der Staatskunst, in der ästhetischen Kunst, im Ökonomischen. Die Komplexität der Gesellschaft erzwang es geradezu, eine Zukunftsorientierung hineinzubringen. Beispielsweise hat der Zinsmechanismus in der Ökonomie keine andere Funktion, als in unperfekteren Zeiten die Möglichkeiten dafür zu vermitteln, in der Gegenwart einen Gewinn zu erwirtschaften, der eigentlich erst in der Zukunft erwirtschaftet werden kann. Architekten kennen das: sie brauchen zunächst das Geld zum Bauen, um mit dem Gebauten etwas zu verdienen.

In dieser Fortschrittsorientierung wurde in Amsterdam die „Leihe“ erfunden, und zwar unter den Protestanten, die wiederum in Kontakt zum Judentum standen. Wenn man investiert, ist die Investition, die man eingeht, nur dann sinnhaft, wenn davon ausgegangen werden kann, dass daraus ein Mehrwert erwirtschaftet wird. Man denke beispielsweise an die berühmte Schrift „Der Fürst“ von Macchiavelli: Wenn man weiß, ob man seinem politischen Gegner die volle Wahrheit sagen sollte oder nicht, dann müsste man eine Idee davon haben, dass man morgen die Macht bekommen wolle. Tugendhafter ist der Politiker, der in der Lage ist, die Wahrheit so lange zurückzuhalten, dass ein Zins in der Zukunft erwirtschaftet werden kann.Oder Handwerker investieren in neue technische Ideen, das heißt, sie investieren jetzt und wissen, dass es frühestens morgen funktioniert.

Und was machen Wissenschaftler? Wissenschaftler haben keinen Respekt vor der Vergangenheit, sie weisen nach, dass die Wahrheiten, die gegolten haben, falsch sind. Wir glauben, Wissenschaften würden Wahrheiten produzieren, das Gegenteil ist der Fall: sie produzieren Unwahrheiten, und zwar frühere Unwahrheiten. Und sie müssen damit rechnen, selbst in der Zukunft widerlegt zu werden. Wie also wird aus der Pluralität der Fortschritte der Fortschritt?

Erst zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hat sich dieser kollektive Singular „Fortschritt“ herausgebildet und soll zum einen die Erfahrung der einzelnen Funktionsbereiche der Gesellschaft sowohl deskriptiv als auch normativ auf den Begriff bringen. Zum anderen aber geht es um ein Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, nach der Selbstbeschreibung der Epoche. Das Medium dieser Form ist die Zeit – in Gestalt der Geschichte als gerichtetem Prozess.

Man braucht also zunächst eine Zukunftsorientierung, um riskante Strategien einleiten zu können, bei denen man den Erfolg dessen, was man tut, erst in der Zukunft sehen wird. Solch eine semantische Strategie kann man nicht aus den jeweils eigenen Tätigkeiten entwerfen, sondern man muss eine zentrale Grundidee haben, so dass einen die Zukunft für das belohnen wird, was in der Gegenwart stattfindet – und zwar generell, unabhängig von dem, was geschieht. Jürgen Habermas schreibt in seinem Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ von 1986 die berühmten Sätze: „Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne sieht sich ohne Möglichkeit der Ausflucht an sich selbst verwiesen“. Das erklärt die Irritierbarkeit ihres Selbstverständnisses, ihre Dynamik und die ruhelos bis in unsere Zeit fortgesetzten Versuche, sich selbst festzustellen.

Erstaunlich scheint mir weniger zu sein, dass die Moderne ihre Normativität aus sich selber schöpfen muss, je dynamischer die Zeiten sind. Erstaunlich finde ich, dass sie sich überhaupt zur Legitimation ihrer normativen Strukturen aufgefordert sieht. Stellt man sich etwa die Renaissance vor, in der es um die Restituierung alter antiker Kulturgehalte ging, so ist dort von Legitimationsproblemen im engeren Sinn noch kaum die Rede, weil man wusste, was die perfektible Form ist. Die substantielle Größe und Vollkommenheit der antiken Kulturgehalte bedurfte keiner Legitimation. Vielleicht ist das Griechentum, wie es im französischen und deutschsprachigen Denken so stark gemacht wurde, ein funktionales Äquivalent für das Eschaton, das man natürlich nicht mehr in Anspruch nehmen konnte, weil diejenigen, die das Eschaton verwaltet haben, gegen den Fortschritt gearbeitet haben. Also brauchte man eine andere Quelle – und am besten eine vorchristliche. Auch die frühneuzeitlichen potestas waren noch im 16. und 17. Jahrhundert bei Francesco Suarez Ausdruck für den Einklang zwischen menschlicher und göttlicher Ordnung, die durch den Ursprung der potestas bei Gott resultiert. Erst später, bei vollzogener Säkularisierung und zu Beginn der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, wird die Normativität von Macht in der Politik, aber auch von wirtschaftlichem, juristischem oder pädagogischem Handeln legitimationsbedürftig, weil alles, was geschieht, sich im Horizont anderer Möglichkeiten ereignet.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Die Gesellschaft in ihren Teilen wird erfolgreicher – und zwar sehr erfolgreich – mit der Idee einer konkreten empirischen Fortschrittserfahrung, die tatsächlich stattfindet. Man kann dies anhand der Entstehung unterschiedlicher semantischer Reflexionstheorien der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft rekonstruieren. Es entsteht eine ökonomische Wissenschaft, eine Wissenschaft über die Wissenschaft – eine Wissenschaftstheorie, eine wissenschaftliche Form von Politik, ein wissenschaftliches Nachdenken über das Pädagogische usw. All dies war sehr erfolgreich, passte aber nicht zusammen. Eine semantische Leerstelle entstand. Die Frage war, wie diese Teile miteinander verbunden werden können.

Der semantische Trick war die Singularisierung des Fortschritts – im Begriff der Geschichte und des Fortschritts, beide als Kollektivsingulare, die die Geschichten und die Fortschritte in Wissenschaft, Kunst, Recht, Moral, Politik und Ökonomie universalisiert haben. Politik, Recht, Moral, Ökonomie und Wissenschaft treten damit zwar mit unterschiedlichen Farben an, ihr Ziel aber ist das Gleiche: dem Fortschritt und der neuen Zeit zu ihrem Recht zu verhelfen. Man beachte die grundlegende Semantik der französischen Revolution – Marie Jean Antoine de Condorcet schreibt 1794: „(…) dass die Natur der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenze gesetzt hat. (…) ohne Zweifel können diese Fortschritte schneller oder langsamer sein, doch nie werden es Rückschritte sein (…) wenigstens solange sich die Erde ihren Platz im System des Universums behält.“ Das heißt auf Deutsch: Es gibt kein zurück.

Interessant daran ist, dass sich dies auf das Selbstverständnis der Moderne auch in ihren Theorien auswirkt. Es gibt keine Theorie der Moderne, die es für denkbar hält, dass es Rückschritte im geschichtlichen Prozess geben könnte. Evolutionstheorien, Differenzierungstheorien, Systemtheorien, Entwicklungstheorien sind Modelle, die auf Differenzierung, Spezialisierung und Integration hin gedacht werden. Es gibt auch empirische Hinweise darauf, dass das irgendwie falsch sein könnte, aber dieses Modell ist so stark, dass man sich nicht vorstellen kann, dass es empirisch unterbrochen wird. Die Entzweiungen der Moderne, die man dann erfahren hat – auf der einen Seite die Idee eines einheitlichen Bewegungsgesetzes, auf der anderen Seite Entzweiungen – haben das Ganze durch die Umstellung von der Einheit auf die Differenz aus dem Blick geraten lassen. Umso wichtiger war es, diesen Verlust semantisch einzuholen. Ich zitiere den preußischen Staatsphilosophen Hegel: „Das Wahre ist das Ganze.“ (Vorrede zur Phänomenologie des Geistes)

Man könnte jetzt fragen, ob es auch das Wahre nicht gibt, wenn wir des Ganzen verlustig gegangen sind. Es bedarf der Zeit als Möglichkeitsbedingung des Wahren, denn nur in ihr kann es entstehen. Hegel fährt deshalb fort: „Das Ganze ist das nur durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist und hierin eben besteht seine Natur, wirkliches Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein“. Er schreibt weiter: „Das Wahre ist die fortschreitende Bewegung des Insichselbstreflektierens, das sich in der Geschichte ereignet“. Es hört sich sehr eschatologisch an, aber es ist zumindest ein Hinweis darauf, dass diese semantische Überreaktion ein Beleg dafür ist, wie schwer es offenbar ist, diese empirischen Fortschritte zu einem einzelnen Fortschritt zusammendenken zu können, um sich die Sicherheit zu vermitteln, dass man aus diesem Weg nicht heraus kann. Empirisch wissen wir – das ist ein soziologischer common sense –, dass die Modernisierung des 18. und 19. Jahrhunderts insbesondere durch den Funktionsverlust der Religion und der traditionellen Lebensformen erhebliche Kosten verursacht hat.

Es ist das Grundmotiv der aufgeklärten Form, über die Aufklärung durch Fortschritt nachzudenken. Der Fortschritt schreitet fort, aber wir müssen vorsichtig damit umgehen, weil er Kosten produziert. Die Diagnosen reichen von Max Webers These von der Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit und des Sinnverlustes der modernen Welt bis zu Habermas‘ Diagnose von der Fragmentierung des Bewusstseins und der Verknappung der Ressource Sinn. Die Frage war also, wie kann man in der Sozialdimension einholen, was in die Zeit ausgelagert wurde. Dafür gab es empirisch nur eine einzige Lösung: die Nation – als eine Semantik, die die auseinanderstrebenden Momente der Gesellschaft unter einem emotionalen und normativen Dach zusammenführen wollte. Die Nation stellte dafür eine Kontinuität zu einem Früher her, die es gar nicht gab. So konnte die Nation mit ihrem Rekurs auf das Alte, das dafür eigens erfunden werden musste, damit es als Nation funktionierte, zum Agent des Neuen und des Fortschritts werden.

Die Ambivalenz des modernen Nationalstaates – und nicht nur des Nationalstaates, sondern der Idee der einheitlichen, ethnisch reinen Nation – besteht unter anderem darin, dass sie zwar vorgeblicherweise an ältere Traditionen anschließt, gleichzeitig aber der einzige Ort war, an dem so etwas wie Fortschritt stattgefunden hat. Wir können das 19. Jahrhundert mit der Entstehung der modernen Nationalstaaten durchaus als die Epoche feiern, in der die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft tatsächlich sehr produktiv aufeinander bezogen werden konnten – mit allen Katastrophen, die dann hinterher produziert wurden. Was die Nation für die Sozialdimension ist, sind Fortschritt und Geschichte für die Zeitdimension. Wir erleben permanent Ungleichzeitigkeiten des Gleichzeitigen. Ich will noch einmal Hegel zitieren aus dem programmatischen ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus. Er sagt „(…) die Mythologie muss philosophisch werden und das Volk vernünftig“. Das kann nur dort stattfinden, wo wir so etwas wie ein gemeinsames soziales Band haben, das über Allem steht, und das ist die Nation.

Mein Argument ist nicht nur, dass wir so etwas wie eine gerichtete Form in der Zeit haben, sondern dass es auch nur dort funktionieren kann, wo man wenigstens simulieren kann, dass diese unterschiedlichen Systemgeschichten in einer Hand liegen. Dafür hat die Weltgeschichte bis jetzt nur die Nation hervorgebracht. In Parenthese formuliert: Es ist interessant, dass sich die realsozialistischen Staaten, übrigens auch außerhalb Europas, spätestens dann, wenn sie sich in ökonomischen Krisen befanden, renationalisiert haben.
In dieser Idee des Fortschritts, wie ich sie entworfen habe, kann man entdecken, wo ich das empirische Grundproblem sehe: nämlich in der Synchronisation von Unterschiedlichem.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Es ist eigentlich ein Manko der modernen Gesellschaft, dass diese nicht aus einem Guss ist. Unser Bild und Intuition der Gesellschaft scheint aber stets zu imaginieren, als müsse sie aus einem Guss sein – damit wir sie entsprechend steuern können. Das operative Problem der modernen Gesellschaft besteht darin, dass die unterschiedlichen Systemgeschichten nicht unter einer Ägide operieren können. An zwei Beispielen will ich versuchen, dies zu erläutern: Zum einen am Problem unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Bildung, Politik, generatives Verhalten sind langsam. Wenn man unser Bildungssystem ändern wollte, damit sich das Personal der Gesellschaft verändert, so müsste man wahrscheinlich zwanzig Jahre lang warten, bis es greift. Auch bei politischen Entscheidungen geht das nicht von jetzt auf gleich, sondern der demokratische Prozess baut sogar künstlich Langsamkeit ein: Selbst wenn alle Beteiligten wollen, dass etwas ganz Bestimmtes gilt, muss ein Weg eingehalten werden, der sehr lange dauert. Wirtschaft, Wissenschaft und Medien dagegen sind sehr schnell. Sehr schnell heißt: es sieht potent aus und es scheint, als könne man gewissermaßen Fortschritte sofort erzielen. Das hat auch damit zu tun, dass die Halbwertszeiten dieser Semantiken vergleichsweise kurz sind, aber schon die Unterschiedlichkeit dieser Geschwindigkeiten ist ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft nicht aus einem Guss ist.

Als zweites Beispiel nenne ich Organisationen: Was bei der Beschreibung der modernen Gesellschaft oft vergessen wird, ist, dass fast alle ihre Entscheidungen in Organisationen stattfinden. Was sind Organisationen? Zum Beispiel Universitäten, Ministerien, Unternehmen oder auch Architekturbüros – dort wird versucht, temporär Unterschiedliches miteinander durch Entscheidungen kompatibel zu machen. Exakt deshalb sind wir in und mit Organisationen meist unzufrieden, weil die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem eine Eigendynamik auslöst, die sich schwer steuern lässt. Und genau deshalb fällt es so schwer, das, was Organisationen organisieren, wirklich zu verändern und zu verbessern. Wie versuchen wir also die Welt zu verbessern? In dem wir nicht die Sache selbst ändern, sondern nur an den Organisationsstrukturen drehen: Wir werben für größere Cluster, wenn kleine da sind, oder für kleinere Cluster, wenn große vorhanden sind, wir werben für unterschiedliche Formen von Zuständigkeiten, wir lenken Geldströme um, wir organisieren bestimmte Formen von Partizipation, oder verhindern sie…

Spannend daran ist, dass wir eigentlich nur herumdoktern, was wir bei Nichtpassung anders nicht passend machen können – dann verzweifeln wiederum alle, die eine inhaltliche Idee haben –, aber das sollte man nicht prinzipiell gering schätzen. Mir jedenfalls ist eine Gesellschaft lieber, bei der nur an Organisationen gedreht wird, als eine Gesellschaft mit einer zentralen Steuerungsinstanz, die dann apodiktisch sagen könnte, was zu tun sei.

Parallel zu dieser Erfahrung sind im 19. und 20. Jahrhundert Theorieformen entstanden, die dies aufgenommen haben – beispielsweise Nietzsches Nihilismuskritik als Frontalangriff auf die Fortschrittsidee. Seine Formel gegen den Fortschritt lautete: Die ewige Widerkehr des Gleichen statt einer ständigen Selbstvervollkommnung. Nietzsche meinte damit nicht, dass wir in eine mythische Gesellschaft zurückgehen, sondern dass jede Gegenwart neue Lösungen finden müsse, da diese eben nicht logisch aufeinander aufbauten. Weitere Beispiele sind Heideggers Idee des Gestells – dass wir jedes mal neu hineingestellt sind und nicht auf die Vergangenheit vertrauen sollen –, oder Gehlens Figur der Posthistorie, oder Baudrillards Aussage, dass wir über den Endzustand bereits hinausgeschossen seien.

Wir sind inzwischen daran gewöhnt, über die moderne Gesellschaft sowohl Krisendiagnosen als auch Risikodiskurse zu führen. Die entscheidende Zeitstruktur der modernen Gesellschaft ist nicht mehr der Fortschritt, sondern das Risiko. Risiko meint die Erwartung von Schäden durch jetzige Entscheidungen, bis in die private Lebensführung hinein: Wir sterben nicht mehr am Leben, sondern an falschem Gesundheitsverhalten, am falschen Essen. Wir sind daran gewöhnt, jetzige Entscheidungen auch auf eine Zukunft zuzurechnen, aber auf eine Zukunft, in der Schäden dadurch entstehen, dass wir die Dinge jetzt tun. Es gibt ein großes Misstrauen jedem Konstrukteur gegenüber.
Nun aber zu den Architekten: Architekten aber sind letztlich Agenten des Fortschritts, selbst wenn sie das Gegenteil wollten.

Die Fortschrittsmetapher hat viel mit der Zurechnung des Konstruktionsprinzips an einen Konstrukteur zu tun. Wenn es stimmt, was Blumenberg sagt, dass wir gewissermaßen das Eschaton nur so denken können, dass der Konstrukteur der Welt, Gott, an einer bestimmten Stelle dezisionistisch hineinragt und es aus der Ewigkeitsperspektive in die chronologische Zeit bringt, sind wir jetzt Menschen, die im Fortschritt das Richtige tun müssen. Marx hat ähnliches gesagt: „Wir können den Gang der Zeiten nicht ändern, wir können ihn aufhalten oder beschleunigen, aber nicht ändern. Aber wir müssen es selber tun.“ Und René Descartes hat 1673 im Discours de la méthode Folgendes geschrieben: „Denn man mag zwar, wenn man die Gebäude der alten Städte jedes für sich betrachtet, sie gerade so kunstvoll oder selbst kunstvoller finden, als die der neueren Städte, sieht man aber ihre Anordnung an, und bemerkt, wie hier ein großes, dort ein kleines steht, wie sie die Straßen krumm und ungleich machen, so sollte man sagen, dass eher der Zufall als der Wille vernunftbegabter Menschen sie so angeordnet hat.“

Diese Sätze stehen für zweierlei: einerseits für die Idee, dass der Fortschritt einer einheitlichen Vernunft, einer Idee, einem Willen entspricht, einem weltlichen Willen und damit keine Eschatologie ist und deshalb konstruiert, geplant, gebaut werden muss. Es muss ein Subjekt geben, dem man zurechnet, wie diese Gestalt aussieht, die eine Architektur besitzt. Wir nehmen diesen Begriff der Architektur als Metapher für den Bauplan. Zugleich stehen diese Sätze für eine konkrete Art von Architektur: Schon 1673 geschrieben für die Architektur der Moderne nämlich – für den Neuen Purismus, die Wiener Frühmoderne, für die Wohnmaschine Le Corbusiers, für die technologische Architektur Mies van der Rohes, gar für Oscar Niemeyers Brasilia und schließlich für die rationalistische Uniformität des sogenannten Internationalen Stils.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Es geht nicht darum, wie das Ästhetische aussieht, sondern man kann im Ästhetischen selbst einen Konstruktionsplan sehen. Darauf kommt es Descartes an. Es geht nicht um eine konkrete Lösung, sondern um die Frage, ob das, was wir sehen, Ergebnis eines blinden Evolutionsprozesses ist oder das Ergebnis eines Konstruktionsprinzips. Was das Konstruktionsprinzip bedeutet, kann man nur sehen, wenn man vernünftig ist.
Die architektonische Moderne heißt Moderne, weil sie am Konstruktionsprinzip des Geraden, des nicht Ungleichen und Krummen, des Vernünftigen ansetzt. Also an dem Prinzip, das die Metapher des Fortschritts in der Moderne ausmacht.

Empirisch kann man es sehr gut daran sehen, dass Architekten beispielsweise oft über Dinge gefragt werden, die mit Architektur im engeren Sinne gar nichts zu tun haben. Sie werden danach befragt, wie wir leben sollen. Und zwar präskriptiv über Pläne, in denen Familienrealitäten vorgezeichnet werden oder in denen gesagt wird, wie man arbeiten soll. Die Idee, wie eine Kleinfamilie funktioniert, hat viel damit zu tun, wie wir Kleinfamilien in Schachteln packen, und diese Schachteln haben wiederum viel damit zu tun, was eine Kleinfamilie sein soll. Eine Wohnungstür, die prinzipiell zu ist, ist ein Hinweis auf die Differenzierung des Familiensystems in Einzelfamilien, und umgekehrt erfordert diese Differenzierung eine Tür – und das machen Architekten dann.

Die Paradoxie der Architektur besteht darin, dass das Entworfene und Geplante tatsächlich gebaut wird – nicht alles, aber prinzipiell schon. Architektur hinterlässt Spuren, die zeitfester sind als das, was wir in dieser Gesellschaft kennen. Selbst das dekonstruktivistischte, das schrägste Gebäude trägt die Paradoxie in sich, gebaut worden zu sein. Der Architekt bleibt, ob er will oder nicht, ein Garant von Kontrolle, Stabilität, Permanenz und Fortschritt in einer Welt, in der es exakt dies nicht mehr gibt. Im Sinne dieser Stofflichkeit, Stabilität und zeitlichen Extension des architektonischen gilt für Jacques Derrida die Architektur „als letzte Festung der Metaphysik“, weil sie eine Präsenz präsentiert, die nicht nur für sich steht, sondern sowohl für andere als auch für später. Architektur ist eine sichtbare Zumutung im Vergleich zu anderen Zumutungen, die verschwinden, sobald sie da waren. Wenn man beispielsweise die Geschichte der modernen Gesellschaft schreiben wollte, so müsste man in Archiven wälzen, die Geschichte der Architektur kann man schreiben, indem man durch die Städte geht. Es bleibt dem Architekten nichts anderes übrig, als Protagonist des Fortschritts zu sein, weil er eben der Konstrukteur ist, dem die Konstruktion zugerechnet wird. Diesem tun übrigens auch Planungskatastrophen keinen Abbruch, weil dadurch die Repräsentation von Präsenz erst recht sichtbar wird.

An den drei folgenden Figuren kann man sehen, wie dieser Habitus des Architekten funktioniert. Ich zitiere Adolf Loos aus „Ornament und Verbrechen“: „… aber der mensch unserer zeit, (…) der aus innerem drange die wände mit erotischen symbolen beschmiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. (…) was aber beim papua und beim kinde natürlich ist, ist beim modernen menschen eine degenerationserscheinung. ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornaments aus dem gebrauchsgegenstande“ .
Interessant daran ist das Präskriptive: die Idee. Loos ist ein Fortschrittstheoretiker, weil er genau beschreiben kann, dass es einen Zugzwang der Entwicklung gibt, er kann präskriptiv sagen, dass dieser Zugzwang auf einem Konstruktionsprinzip beruht, das den anderen sagt, wie sie leben sollen.

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Triptychon, Detail, ca. 1503 / 1504

Die zweite Figur ist Rem Koolhaas mit einem Zitat aus „Stadt ohne Eigenschaften“: „Die traditionelle Stadt ist sehr von Regeln und Verhaltenscodizes besetzt. Die Stadt ohne Eigenschaften ist frei von eingefahrenen Mustern und Erwartungen. Es sind Städte, die keine Forderungen stellen und dadurch Freiheit schaffen. Eine Stadt wie Dubai hat 80 Prozent Einwanderer, Amsterdam 40 Prozent. (…) für diese Bevölkerungsgruppen ist es einfacher, durch Dubai, Singapur oder die HafenCity zu laufen, als durch schöne mittelalterliche Stadtkerne. Denn die strahlen für diese Menschen nichts als Ausschluss und Zurückweisung aus. In einem Zeitalter der massenhaften Immigration muss es vielleicht auch zu einer massenhaften Ähnlichkeit der Städte kommen. Diese Städte funktionieren wie Flughäfen, die immer gleichen Geschäfte an den immer gleichen Stellen. Alles ist über die Funktion definiert, nichts über die Geschichte. Das kann auch befreiend sein.“ Rem Koolhaas ist wohl noch nie durch die Fußgängerzonen der deutschen Kleinstädte gegangen… Aber die Idee ist womöglich der Habitus, präskriptiv sagen zu können, dass man konstruiert und das Konstruierte dann da steht. Wir konstruieren permanent, aber die Konstruktion dekonstruiert sich durch das Vergessen selbst.

Als letztes Beispiel zitiere ich Patrick Schumacher aus „The Autopoeisis of Architecture“: „Architecture is not just one of several academic disciplines, its comparable to the different disciplines that segment the autopoetic system of science. Architecture is a separate autopoetic function system within functionally differentiated society with its own universal and exclusive domain of competency of the other autopoetic function systems.“ Aus soziologischer Sicht ist das großartiger Unsinn. Interessant ist aber, mit welchem Selbstbewusstsein hier postuliert wird, dass Architektur mindestens eines der Funktionssysteme der Gesellschaft sein muss – die Theorie also, dass Architektur ein exklusives Problem der modernen Gesellschaft löst und damit sozusagen alles, was mit Entwurf und Lösung zu tun hat, innerhalb dieses Systems stattfindet. Und weiter: dass man mit dieser Art von Theorie jedoch nichts machen kann, wenn man sie nicht auf die Idee der Konstruktion und damit des Fortschritts appliziert. Deshalb abschließend: Architektur selbst ist eine Fortschrittsmetapher.

Prof. Dr. Armin Nassehi studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie und Soziologie in Münster und Hagen und wurde 1992 zum Dr. Phil in Soziologie promoviert, 1994 erfolgte die Habilitation. Nassehi ist seit 1998 Inhaber der Lehrstuhls I für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, seit 2002 Mitglied im Vorstand des Humanwissenschaftlichen Zentrums der LMU, seit 2009 stellvertretender geschäftsführender Vorstand. Armin Nassehi ist ebenfalls Mitglied im Vorstand des Münchner Kompetenzzentrums Ethik, Mitglied des Konzils der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und im Hochschulrat der LMU.

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