der erste stein: daniel persson

Schnee / Pauspapier

Der erste Stein kann gelegt oder geworfen werden. Unter dieser Rubrik erscheinen Beiträge, die beides vermögen: Es sind theoretische Texte von Autoren mit Thesen zur architektonischen Praxis, die kontrovers diskutierbar sind. Daniel Persson bringt den Stein ins Rollen: Diskutieren Sie mit.

Der Schnee, der während der Nacht gefallen ist, übt seine Hegemonie aus. Der Schneeräumdienst ist in den wichtigsten Teilen und Anlagen der Stadt unterwegs, aber nicht hier. Der Schnee liegt wie Pauspapier über einer alten, zerknitterten Zeichnung. Das bloße Versprechen einer anderen Interpretation.

Ein Schneepflug bewegt sich langsam auf der Hauptstraße vorbei. Die Blinklichter, die sich auf dem Schneepflug drehen, projizieren monochromes Gelb auf die ansonsten graue Welt. Der Schneepflug ist irgendwo anders hin unterwegs. Der Himmel ist schwarz und wird auch in der nächsten Zeit nicht kobaltfarben werden. Das Gebiet ist still, außer einigen Pendlern, die versuchen, ihre Autos vom Schnee zu befreien oder in Zeitlupe durch den liegengebliebenen Niederschlag schleichen, um den nächsten Zug zu erreichen.

Die Sohlen der Pendlerschuhe treffen nicht auf den Zementboden. Füße waten durch den frischen Schnee. Es knirscht, wenn der Schnee unter den Sohlen zusammengedrückt wird, wenn die Schneeflocken brechen und sich aneinander reiben. Die Welt hört sich anders als gestern morgen an. Millionen von hexagonalen Wasserkristallen, die alle unterschiedlich und schön sind, unregelmäßig gestapelt, mit Luft dazwischen, filtern die Schallwellen. Das Geräusch der Autotüren, die sich öffnen und schließen, klingt dumpf. Das Hintergrundrauschen der Stadt und der Infrastruktur, die ihr dient, ist verschwunden. Klänge sind leichter zu unterscheiden. Geräusche aus der Umgebung hören sich verhältnismäßig lauter an als am letzten Morgen. Ein paar Vögel singen im Gehölz.

Details sind verschwunden, die Welt hat die Auflösung als Werkzeichnung verloren. Nur die Umrisse sind da, die Massen der Gebäude, die Kronen der Bäume, die Topographie. Die graphischen Zeichen der Straßen – Kompositionen aus Linien, einige in unendlichen Wiederholungen, an die sich jeder Bürger unter Androhung von Vergeltung halten muss – sind schneebedeckt. Die unscheinbare, aber dingliche Grenze des Bordsteins bleibt ebenfalls verborgen. Die Augen können nicht mehr unterscheiden, wo die Straße Pflaster wird, wo Parkplätze zum Park, Fußweg zur Wiese, Spielplatz zu Blumenbeet.

Die Pendler, der Zeitungsausträger, die wenigen, die schon mit ihren Hunden unterwegs sind, versuchen ihr Bestes, um sich genauso wie gestern zu verhalten. Die Regeln, wie man sich zur materiellen Welt verhält, sind so wirkungsvoll gelernt, dass sie zu einem festen Teil des Bewusstseins geworden sind. Man geht auf dem gepflasterten Weg. Man passt auf den Bordstein auf. Man fährt die Linien entlang. Die Bewegung folgt fast immer einem Plan, den jemand anders vor langer Zeit gemacht hat. Aber manchmal scheren einige Leute aus. Laufen neben der Pflasterung. Stolpern über den Bordstein. Fahren die Kurve zu weit und landen auf der anderen Fahrbahn der Straße. Alle Pannen werden gleich behoben.

Grenzen werden überdeckt. Bewegung wird nicht länger durch physische Details gesteuert. Das Pauspapier wird ausgelegt. Es ist leer. Jeder versucht sein Bestes, um sich genauso zu verhalten, als ob alles genauso wie gestern wäre.

In den Park und, weiter, auf den Friedhof, haben seit dem Schneefall erst einige ihre Füße gesetzt. Weich bedeckt der Schnee fast alles. Wie der Morgen zum Tag wird, nimmt die Anzahl der Fußabdrücke zu, die den Schnee kreuzen. Ein Bewegungsdiagramm beginnt sich auf dem Pauspapier abzuzeichnen. Ein Diagramm des Versuchs, sich wie jeden Tag zu bewegen. Einige gepflasterte Gehwege werden häufig benutzt, einige gar nicht. Die Fußspuren zeigen Richtungen an. Eine nähere Untersuchung führt zu lockeren Mutmaßungen über demographische Sachverhalte. Die Verteilung der Fußgrößen und der Schuhtypen erzählt eine Geschichte, genauso wie die Markennamen, die in die Sohlen eingeprägt sind und jetzt in den Schnee gestanzt werden. Ein Paar Air Jordan 6.

Das Bewegungsdiagramm zeigt auch andere Eindrücke als die von Füßen. Hasen bewegen sich mit wenig Rücksicht auf menschliche Grenzen. An einem Punkt sieht es so aus, als hätte dort eine Hasenversammlung stattgefunden, aber es lässt sich nicht feststellen, ob die Hasen gleichzeitig da waren; Zeit ist nur ungefähr Teil des Diagramms. Die Hasenspuren folgen einer kaum erkennbaren Logik, haben aber ein erkennbares Muster, eine Gewichtung, sie sind kein zufälliges Hin- und Hergekreuze auf einer beliebigen Oberfläche. Die Hasenversammlung wird unterbrochen durch die Spuren von einem Paar Elstern, die spielerisch herum gesprungen sind, um die Schneewelt zu erkunden. Oder vielleicht sind es Krähenfüße gewesen. Ein Fuchs ist diagonal über die große Wiese gestreift, um nach Hasen oder nach leichterem Fang bei den Müllcontainern hinter den Gebäuden auf der anderen Seite Ausschau zu halten.

Wenn der Tag zu Ende geht, führen immer mehr Spuren nebeneinander her, kreuzen und überlappen sich. Viele überlappende Fährten bilden einen Pfad, werden normativ, Füße treten auf das schon Betretene. Einige der gepflasterten Wege unter dem Schnee haben immer noch keine Entsprechungen durch Spuren auf der Oberfläche. Nur wenn ein Abdruck über einem anderen liegt, lässt sich erkennen, in welcher Reihenfolge zwei nebeneinander liegende Spuren entstanden sind. Es bleibt unbekannt, ob die Wesen, die die Fährten hinterlassen haben, dort innerhalb von wenigen Sekunden, innerhalb von Stunden oder innerhalb von Tagen vorbeigekommen sind. Waren sie zusammen unterwegs, ist der eine dem anderen gefolgt, war es dieselbe Person mit unterschiedlichen Schuhen? Das Pauspapier füllt sich mit Informationen und Erzählungen, aber sein schöpferisches Potential liegt noch brach. Die Ausnahme ist der Kindergartennachmittag im Park: Zehntausende von kleinen Fußabdrücken, Spuren, die kreuz und quer laufen, Schneeengel, Schneeringkämpfe, Schneeburgen, Schneeskulpturen, Schnee-Unsinn. Kein Respekt für alte, aber vielleicht die Konstitution neuer Grenzen. Diese Spuren bringen tatsächlich das ganze Diagramm durcheinander.

Wenn der Frühling kommt, ist das Pauspapier vergessen, wenn es überhaupt jemals Teil des Bewusstseins war. Auf den Zweigen der blühenden Bäume singen neue Vögel verschiedene Lieder. Im Park gibt es einen matschigen Weg, den es vorher nicht gab. Als hier noch Schnee lag, ist hier ein Schneepflug vom gepflasterten Weg abgewichen und hat einen Ausritt auf die Wiese unternommen. In einer schlingernden Kurvenfahrt hat er den Schnee weggefegt und gleichzeitig auch den Rasen darunter. Man könnte es für das Ergebnis des erfreulichen Verständnisses für das Pauspapier halten, aber es war wahrscheinlich ein Fahrfehler. Es ist die einzige Spur, die geblieben ist.

Daniel Persson

Daniel Persson studierte Architektur an der Akademie der Schönen Künste in Kopenhagen und an der Melbourne University. Er machte seinen Master an der Universität von Lund, wo er heute lehrt. Seit 2011 betreibt er in Malmö das Büro „bryn space“, das sich mit experimenteller Architektur jenseits der traditionellen Gattungs- und Materialgrenzen beschäftigt. Der vorliegende Text erhielt 2012 beim Architekturtextwettbewerb „Time and Space“ der Henning Larsen Foundation den 2. Preis.

Übersetzung aus dem Englischen: Andreas Denk.

Foto: UHH EW MZ (CC BY 2.0 via flickr.com)

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