Das 23. Berliner Gespräch des BDA

Die Welt im Netz

Die Hashtag-Mentalität der Internet-Ära hat in den letzten Jahren das Schlagwort der Digitalisierung in die Hitliste der meistverwendeten Leerformeln gehievt. Nie ist vollständig deutlich, was Politik oder Wirtschaft meinen, wenn das Schlagwort fällt. Ist es die Versorgung der Gesamtbevölkerung mit hyperschnellem Breitband-Netz? Ist es die intelligente Steuerung der Stadt im Sinne einer Smart-City? Ist es die Revolutionierung der Arbeitswelt durch Robotik? Sind es führerlos fahrende Autos, ferngesteuerte Hausfunktionen, Smartphone-gesteuerte Straßenleuchten, implantierte Messgeräte, die Körperdaten an Ärzte und Krankenkassen versenden? Sind es „soziale“ Netzwerke oder der Online-Verkauf von Alltagsdingen mit computergesteuertem Versand und Haus-zu-Haus-Lieferung durch Drohnen? Sind es soziale, kulturelle, ökonomische oder politische Ziele, die sich mit der Digitalisierung verbinden lassen? Und mit welcher Priorität werden sich diese Verknüpfungen herstellen lassen?

Ein Blick in unsere gesellschaftliche und politische Gegenwart belegt, dass wir in einer Zeit und einer Welt leben, in der sich viele Menschen verunsichert fühlen. Die gewohnten politischen Verhältnisse erscheinen nicht mehr so festgefügt wie noch vor einem Jahrzehnt; die Dominanz der westlichen Welt ist merklich ins Wanken geraten, weil die von ihr selbst bewirkte Globalisierung Folgen zeitigt, die die gewohnten Lebensverhältnisse – auch hier bei uns – in Frage zu stellen vermögen. Plötzlich konkurrieren Gesellschaften und Teile von Gesellschaften in einer Weise, wie wir sie nicht mehr kannten: Klimawandel, Migration, vermeintliche und tatsächliche wirtschaftliche und politische Unsicherheiten. Die Gesellschaft hat Risse bekommen, die die Politik so schnell, wie sie entstanden sind, gar nicht lösen kann.

Gründe für diese Unsicherheiten liegen aber nur mittelbar in Flüchtlingsströmen, Dieselverboten oder der zunehmenden Politikverdrossenheit abgehängter Bevölkerungsteile. Es ist wahrscheinlich das subkutane Gefühl von „einem Ende der Welt, wie wir sie kannten“, wie ein hellsichtiges Buch von Klaus Leggewie und Harald Welzer von 2010 heißt. Zu dem Umbruch, den viele ahnen, gehört natürlich der kaum noch aufzuhaltende Klimawandel. Und es gehört auch die Digitalisierung dazu, die von vielen als Parallele zur ersten industriellen Revolution interpretiert wird.

Ob dieser Schritt in eine digitalisierte Welt einer sein wird, der unsere Gesellschaft noch weiter desintegriert oder ob die sozialen Bindungskräfte, der gesellschaftliche Zusammenhalt groß genug sind, um die Herausforderungen, die uns bevorstehen, zu kompensieren, ist eine Frage, die wir mit Engagement, aber ohne Vorurteile in uns und zwischen uns bewegen müssen.

Der Philosoph Richard David Precht hat es so formuliert: „Die Frage ist nicht, wie werden wir leben? Sondern: Wie wollen wir leben?“ Ob das alle aus eigenem Willen entscheiden können, bleibt offen. Wichtig wäre es, dass über alle offenen Fragen sich eine breite gesellschaftliche Debatte entwickelt, wie sich die Digitalisierung in Deutschland, in Europa und der Welt gestalten lässt und was die Kriterien dafür sein sollen.

Was die Digitalisierung eigentlich genau meint, wissen längst nicht alle, was sie bedeutet, ahnen nur wenige. Welche Folgen sie haben mag, weiß wahrscheinlich keiner so genau. Weltweit operierende Großkonzerne, die Verbraucherdaten auf Vorrat sammeln, die Manipulation von Kaufverhalten und politischer Meinungsbildung über soziale Netzwerke, neue Handels- und Dienstleistungformen wie Amazon, AirBnB, Uber, Foodora und die vielen anderen gastronomischen Lieferservices, Arztsprechstunden im Internet, Partnerschaftssuche durch Mausklick: Die Ergebnisse dieser Dissoziation der menschlichen Kommunikation scheinen on the long run mehr zu sein als nur Segnungen des technischen Fortschritts.

Foto: shutterstock

Allein bei einer eigentlich simplen Sache wie dem halbautomatisierten, vielleicht später dann autonomen Fahren von Autos gehen die Meinungen weit auseinander. Während die eine Seite die Bequemlichkeit und die vermeintlich größere Unfallvermeidung als Vorteile verkauft, sieht die andere Seite in den „Assistenzsystemen“ lauernde Gefahren. Problematisch werde es, weil Automaten nicht von einem Tag auf den anderen die gesamte Verantwortung übernähmen, meint ein ADAC-Experte, sondern sie auf lange Zeit in unterschiedlicher Weise mit dem menschlichen Fahrer teilen. Der Mensch ist also gefordert, immer genau im Auge zu haben, wann die Automatik fährt und wann er selbst eingreifen muss. Unfallversicherer haben herausgefunden, dass Fahrer bis zu 15 Sekunden brauchen, um Kontrolle über das Verkehrsgeschehen zu erlangen. Dann ist es meistens schon zu spät. „Es ist noch gar nicht absehbar, ob und wann fahrerloses Fahren jemals im Privatfahrzeug angeboten wird“, sagt der ADAC-Vizepräsident Marko Gustke.

Umso mehr erfreut die Roboterrobbe „Paro“, die tatsächlich für viele Demenzkranke ein Ankerpunkt in der sozialen Realität sein kann: Das weiche Plüschtier mit Merkmalen des Kindchenschemas kann die Augen öffnen und schließen und Geräusche produzieren, wenn es gestreichelt wird. So regt die Stoffrobbe zur Kontaktaufnahme, zu Fürsorge und zum „Liebhaben“ an und gibt Menschen in fortgeschrittenem Lebensalter in einem kleinen Ausschnitt einen Sinn des Lebens zurück. Dass die Übernahme der Pflege durch Roboter mehr als nur ein politisch opportunes Remedium gegen den eklatanten Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften im Pflegebereich ist, das lediglich die unzulänglichen Arbeitsbedingungen und die miserable Bezahlung von menschlichen Pflegern kaschiert, ist die Kehrseite der technizistischen Medaille. Bisher haben Politik und Gesellschaft die Konsequenzen der höheren Lebenserwartung kaum erfasst geschweige denn bewältigt.

Aber auch viele andere Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung verändern das soziale Miteinander, die Qualität und Quantität von Arbeitsplätzen und damit das Gesellschaftssystem, wie wir es kennen. Roboter und Computer könnten schon heute jede vierte Arbeitskraft ersetzen: Das wären rund acht Millionen Jobs, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ergibt, das zur Bundesagentur für Arbeit gehört. Besonders die nur mit low skills Befähigten, also die schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitnehmer seien in Gefahr – nämlich zu mehr als zahlenmäßig der Hälfte – von Maschinen ersetzt zu werden. Der Trost, dass der Maurer bei Regen nicht mehr auf die Baustelle muss, ist keiner, wenn er gar keinen Arbeitsplatz mehr hat, zu dem er wenigstens bei Sonnenschein ausrücken könnte. Härtere Prognosen gehen davon aus, dass die westlichen Gesellschaften knapp die Hälfte aller Arbeitsplätze verlieren könnten.

Für den Soziologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge ist das allerdings lediglich eine „neoliberale Erzählung, mit der den Menschen Angst gemacht wird“. Genau wie bei Erfindung des Autos oder des Computers überwögen auch bei der Digitalisierung schließlich die Vorteile. Butterwegge geht davon aus, dass durch die Digitalisierung Arbeitsplätze entstünden, die „wir jetzt noch gar nicht kennen“. Die gegenteilige Auffassung vertritt wiederum Richard David Precht. In seinem Buch „Jäger, Hirten, Kritiker“ hat er sich mit genau diesen Folgen der Digitalisierung beschäftigt. Er geht von einem „digitalen Tsunami“ aus, der Auswirkungen wie das erste Maschinenzeitalter haben wird. Precht glaubt, „dass wir in eine Zeit kommen, in der ein Teil jener Berufe, die man algorithmisieren kann, tatsächlich algorithmisiert wird, und zwar überall dort, wo Menschen nicht dezidiert Wert darauf legen, mit Menschen zu tun zu haben“. Auch Precht sieht als gegeben an, dass bestimmte Berufsgruppen besonders anfällig für einen Ersatz durch Maschinen sind: Alle Fahrtätigkeiten, jede Form von Fließbandarbeit, Angestellte und Sachbearbeiter in Büros und Behörden könnten betroffen sein.

Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen die schlussendliche Lösung sein kann, wie manche Politiker, Sozialwissenschaftler und auch Precht es empfehlen, bleibt weiterhin unklar. Auf der politischen Ebene ist das Thema angeschnitten, aber nie zu Ende diskutiert worden. Die deutschen Parteien verstehen unter Digitalisierung bisher vor allem den Breitbandausbau, also eine Beschleunigung des Datenaustauschs, die seit einem Dezennium immer wieder beschworen, aber sehr mühsam umgesetzt wird. Die FDP hat sich gar in dem Bemühen, sich als coole Fortschrittspartei zu profilieren, zu dem naiven Wahlkampfslogan „Digitalisierung first, Bedenken second“ hinreißen lassen. In den Wahlprogrammen haben – außerhalb der bloßen Schlagwortnennung – Überlegungen zu Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sozialität unserer Gesellschaft oder auf den Arbeitsmarkt allerdings fast keine Rolle gespielt.

Im Dezember 2018 hat die Bundesregierung eine KI-Strategie vorgestellt, also ein Konzept für den Umgang mit künstlicher Intelligenz. KI sieht man inzwischen als „Treiber der Digitalisierung und Autonomer Systeme in allen Lebensbereichen“. Analog zu immer wiederkehrenden Absichtserklärungen zum flächendeckenden Breitbandausbau enthält das Papier viele Inhalte, die bereits 2014 im Rahmen der „Digitalen Agenda“ der großen Koalition vorgestellt worden waren – und die meist Agenda geblieben sind. Experten haben das Papier trotz gebetsmühlenartig vorgetragener Allgemeinplätze dennoch begrüßt: „Das Arbeitsleben und wie wir mit Maschinen interagieren, Justiz und Privatsphäre, Wissenschaft und die Gesellschaft als Ganzes werden einen bislang kaum absehbaren Transformationsprozess durchlaufen“, glaubt Professor Christian Stöcker von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg.

Mit Bezug auf die regierungsseitig proklamierte „Industrie 4.0“ findet sich auch in dem Papier der Bundesregierung die Aussage, dass „KI zu einer neuen Stufe der Veränderung von Arbeit (…), mit deutlichen Unterschieden zu bisherigen Stufen der Automatisierung und Digitalisierung“ führen werde. Deshalb seien alle bisherigen Beschäftigungsprognosen und -szenarien zu hinterfragen und die Strategien zur Gestaltung und weiteren Humanisierung von Arbeit“ neu zu justieren. Was das genau heißt, lässt sich im Moment nicht voraussagen.

Neben Arbeit und Handel rücken immer mehr die Struktur der Stadt und die Architektur in den Interessenfokus der Digitalisierung. Die Folgen für Entwurf und Bau sind bisher nur in geringen Dimensionen absehbar: In immer größerem Maße scheint es sich anzubieten, Entwurf und Ausführung integral anzugehen, immer mehr verschmelzen die Fähigkeiten von Architekt und Software-Ingenieur zu einer Produktionsform von Architektur, die seit den Umwälzungen der 1. und 2. Industrialisierungsphase einen in seinen Auswirkungen bisher unabsehbaren dritten Schritt bedeuten. Auch hier sind nicht nur die Folgen für das Bauwesen bisher unabsehbar, sondern auch die Veränderungen, die unsere architektonischen und städtischen Räume, Materialität, Sozialität und die menschliche Wahrnehmung nolens volens betreffen werden.

Deshalb fragt das Berliner Gespräch 2018 nach den Dimensionen und Folgen der sogenannten Digitalisierung für den Menschen, für die Stadt, das Land und für die Architektur. Es sind dabei der Soziologe Dirk Baecker von der Uni Witten/Herdecke, Silke Franke von der Hanns-Seidel-Stiftung in München, Peter Jakubowski vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn, Sigrid Brell-Cokcan von der RWTH Aachen, Marco Hemmerling von der TH Köln und schließlich der Architekturkritiker Christian Holl aus Stuttgart. Ergänzt wird diese Dokumentation um ein Gespräch, das Sven Schneider von der Bauhaus-Universität Weimar und David Kasparek anlässlich des 100. Geburtstags des Bauhauses zum Thema Digitalisierung geführt haben.
Andreas Denk

Artikel teilen:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert