Dornröschen und seine Geschwister
Etwas vereinfacht lässt sich zwischen zwei Sorten von Denkmälern unterscheiden: den „gewollten“ auf der einen Seite und den „gewordenen“ auf der anderen. Der erste Typus ist von Anfang an als Erinnerungsort konzipiert, der zweite wird erst durch einen juristischen Akt, geregelt durch ein Denkmalschutzgesetz, dazu erhoben. Ein Objekt gilt dann als bedeutender Zeuge aus „vergangener Zeit“. Andreas Hild beschäftigt sich in seinem Beitrag mit diesem Prozess des Werdens und stellt sich die Frage, inwieweit es einer steigenden Umbauquote entgegen stehen könnte.
Der Charakter eines gewordenen Denkmals ist zu einem sehr wesentlichen Teil zeitlich bestimmt.(1) Konsequenterweise fordern die entsprechenden Gesetze und Verordnungen eine gewisse Mindestanzahl an Jahren, die seit der Entstehung eines betreffenden Gebäudes „vergangen“ sein sollte. Zumeist wird hierfür eine Spanne von mindestens einer Generation zugrunde gelegt(2), grob gesprochen sind das ungefähr dreißig Jahre. Diese Verknüpfung ist interessant, verstehen wir doch unter Generation auch eine bestimmte gesellschaftliche Altersgruppe, die in Kindheit und Jugend durch ähnliche Umstände und Erlebnisse geprägt wurde. Der in den einschlägigen Verordnungen und Kommentaren verwendete Begriff stellt so eine Verbindung her zwischen dem Denkmal und den Erfahrungen einzelner Menschen.

Walter Crane, Ausschnitt aus dem Bilderbuch The Sleeping Beauty, 1876, George Routledge & Sons
Hermann Lübbe stellt diesen Zusammenhang sogar in den Mittelpunkt seines Verständnisses von Denkmalschutz. Sagt er doch, dass dieser vor allem dazu diene, einen „änderungsbedingten kulturellen Vertrauensschwund“ zu kompensieren.(3) Der Philosoph ist überzeugt, dass der Wandel von Lebenswelten in Folge des aktuellen Fortschrittsstrebens so rasant vor sich geht, dass ihn die Menschen als schmerzhaften Verlust bis hin zur tiefen inneren Verunsicherung erleben. Die emotionalen und kulturellen Anknüpfungspunkte verschwinden schneller, als neue Verbindungen entstehen. Deshalb ist die oben erwähnte Relation zwischen Denkmalschutz und menschlicher Erfahrung so wesentlich. Nach Lübbes Analyse nimmt die empfundene Geschwindigkeit der Veränderungsprozesse systematisch zu, weil die Grenze zum „Alten“, „Veralteten“ durch allgemeine Beschleunigungstendenzen zunehmend an die Gegenwart heranrückt.(4) In der Folge bräuchte man immer schneller immer mehr Denkmäler, um dem besagten Vertrauensschwund vorzubeugen. Tatsächlich sieht Lübbe das als Problem. Er knüpft daran eine Denkmalpflegekritik, die allerdings nur schwer in den architektonischen Diskurs zu integrieren ist.
Neben dem Nachweis eines bestimmten, nach lebenszeitlichen Maßstäben definierten Alters, fordert die Denkmalpflege auch die Einordnung des betreffenden Gebäudes in ein abstraktes historisches System. Es geht dabei um die im weitesten Sinne kunsthistorische Bedeutung des einzelnen Objekts. Unter anderem dieses Auswahlkriterium unterscheidet Baudenkmale von Oldtimern. Anders als bei Automobilen, die nur alt genug werden müssen, damit der Halter entsprechende Steuererleichterungen in Anspruch nehmen kann, ist bei Gebäuden nicht das Baujahr alleine ausschlaggebend für den Schutzstatus. Erst wenn zusätzlich weitere Denkmaleigenschaften bestätigt werden, kann ein Eintrag in die entsprechende Liste erfolgen.
Dieser Vorgang unterliegt seinerseits einer Fülle von Regeln, wie sie beispielsweise im bayerischen Denkmalgesetz beschrieben sind. Dabei ist genau zu prüfen, ob Kriterien wie geschichtliche, künstlerische, städtebauliche, wissenschaftliche oder volkskundliche Relevanz erfüllt sind. Erst wenn ein Gebäude als Zeugnis für eine bestimmte historische Epoche oder Begebenheit gelten kann, steht fest, dass sein Erhalt, wie es heißt, „im Interesse der Allgemeinheit“ ist.(5) Jedes Denkmal wird also auf zwei zeitlich bestimmten Achsen eingeordnet, entlang individuell erlebter Geschichte zum einen und einer abstrakten Geschichtsschreibung zum anderen. Idealerweise stehen dabei lebensgeschichtliche und historische Bedeutung in Kongruenz zueinander. Das betreffende Gebäude hat eine gewisse Spanne überdauert und ist zugleich geschichtlich bedeutend.

Walter Crane, Ausschnitt aus dem Bilderbuch The Sleeping Beauty, 1876, George Routledge & Sons
Als Konsequenz wird es sozusagen der Veränderung entzogen. Wie das Dornröschen im Märchen schlummert es, ohne zu verfallen, geschützt von einer dichten Hecke aus moralischen und ästhetischen Postulaten sowie juristischen Verordnungen. Zwar lässt sich häufig eine Erlaubnis für Modifikationen erwirken, dann kann sozusagen ein Prinz die Dornen durchschreiten. Aus Sicht der institutionellen Denkmalpflege jedoch bleibt der zeitlich unbegrenzte, ungestörte Schlaf der Idealzustand. Einmal verliehen, wird der Schutzstatus nur im absoluten Ausnahmefall revidiert. Im wirklichen Leben sind die Schutzmechanismen natürlich keine Hecken, sondern Verordnungen, Denkmalbeamte, Steuererleichterungen und anderes. Sie aufrechtzuerhalten bringt einen gesellschaftlich nicht unerheblichen Aufwand mit sich. Wir lassen uns das Aus-der-Zeit-nehmen des Gebäudes, den Schlaf des Dornröschens, also durchaus etwas kosten. Zweifellos steigen die entsprechenden öffentlichen Aufwendungen mit der Zahl der zu erhaltenden Denkmäler.
In der Welt der Museen und Archive gibt es den Begriff des „Reliktmengenwachstums“. Diesbezüglich wird diskutiert, wie man einer über die Zeit teilweise ungeheuer anwachsenden Zahl an Exponaten und Relikten begegnen könne. Dabei wird mitunter die Abgabe von Museumsstücken und sogar die Vernichtung (Kassation) von Dokumenten in Erwägung gezogen. Es ergibt wenig Sinn, solche Ansätze auf den Bereich der baulichen Denkmäler zu übertragen. Diese bleiben im Normalfall ja im jeweiligen Eigentum ihrer Besitzer und können deshalb auch nicht mit Gewinn für die Allgemeinheit veräußert werden. Ihr Abriss zum Zweck einer Reduzierung scheidet aus naheliegenden Gründen ebenfalls aus. Nachdem – abgesehen vom Fall der teilweisen oder kompletten Zerstörung des Objekts – auch keine Entlassung aus der Liste vorgesehen ist, nimmt die Zahl der Bau- und Bodendenkmäler über die Jahre hin systematisch zu. Selbst bei sehr gedehnter Auslegung des Kriteriums einer Generation sind die Gebäude, die in den 1960er- und 1970er-Jahren errichtet wurden, schon geraume Zeit in Reichweite einer möglichen Denkmalwerdung. Die Jahrgänge der 1980er- und 1990er-Jahre stehen längst an. Droht auch der Denkmalpflege ein „Reliktmengenwachstum“?

Carl Offterdinger, Ausschnitt aus dem Bilderbuch Dornröschen, um 1885
Die Zahl der in Deutschland bestehenden Denkmäler zu ermitteln, ist gar nicht so einfach, weil die Zuständigkeit bei den Ländern liegt und jedes von ihnen seine Listen leicht unterschiedlich definiert und führt. Die Tatsache, dass es nicht nur Einzeldenkmäler, sondern auch Ensembles gibt, macht die Sache nicht einfacher. Die unterschiedlichen Quellen grob zusammenfassend kann man bundesweit von ungefähr 660.000. Baudenkmälern ausgehen. Das sind etwa drei Prozent des Gebäudebestands von ungefähr 22 Millionen Gebäuden. Wobei die Zahl der Nichtwohngebäude stark von der jeweiligen Definition abhängt.(6)
Die Zahl der drei Prozent Denkmäler hat sich vermutlich seit Einführung der Denkmalgesetze nur sehr langsam erhöht. Würde also die bisherige Praxis der Eintragung beibehalten, sollte man meinen, dass die künftigen Anstiege verkraftbar wären. Entsprechend argumentierte auch das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege, als es 2018 prognostizierte, dass die Vorqualifizierung von Bauten der 1960er- und 1970er-Jahre zu einem Anstieg von nicht mehr als einem Prozent der Denkmäler führen würde. Das wären deutschlandweit etwa 6000 Gebäude.(7)
Möglicherweise aber verdankt sich diese zurückhaltende Schätzung unter anderem der Absicht, beruhigende Signale an die Politik zu senden. Denn die Größenordnung, mit der wir es zu tun haben, ist beeindruckend. Die heute gültigen Denkmalschutzgesetze sind nach 1945 entstanden, also auch angesichts eines durch den Zweiten Weltkrieg verschuldeten Mangels an Altbauten. Ganz anders die Situation heute: Schätzungsweise 60 Prozent des deutschen Wohngebäudebestands wurden vor 1979 errichtet, 36 Prozent davon, also sieben Millionen Gebäude, sind zwischen 1950 und 1979 entstanden, davon sind 5,6 Millionen Einfamilienhäuser. Es ist eine riesige Masse an Immobilien, die mittlerweile ein Alter erreicht hat, in dem sich die Frage nach einer Denkmalwürdigkeit stellt. Nichtwohngebäude sind hier noch nicht einmal erfasst.
Aus (kunst)historischer Perspektive allein wäre es vielleicht trotzdem denkbar, die Auswahl auf einige besonders repräsentative Bauwerke des fraglichen Zeitraums zu reduzieren. Bereits heute ist es in Denkmalämtern üblich, alte Jahrgänge von Bauzeitschriften hinsichtlich besonders gelungener Projekte zu sichten. Diese Art der Selektion macht nochmals deutlich, dass die gängigen Auswahlkriterien vor allem einen theoretischen, innerarchitektonischen Diskurs abbilden. Dagegen ist der kulturelle Vertrauensschwund, dem es ja laut Lübbe zu begegnen gilt, eng an das Lebensumfeld, an die Erinnerungen einzelner Menschen gebunden. Insofern wäre zu erwarten, dass die Zahl der geschützten Gebäude in etwa proportional zur Zahl der vorhandenen steigen müsste. Wenn wir also weiterhin individuelle Bindungen angemessen berücksichtigen wollen, dann muss künftig eine wesentlich höhere Zahl an Häusern in ihrem baulichen Charakter erhalten werden.

Carl Offterdinger, Ausschnitt aus dem Bilderbuch Dornröschen, um 1885
Vielleicht aber ist es gar nicht die bloße Menge künftiger Denkmäler, die im Mittelpunkt des Interesses stehen sollte. Viel gravierender erscheint, dass es offenbar immer schwieriger wird, persönliche Erfahrungen in einen bislang hauptsächlich kunsthistorisch geprägten Diskurs zu integrieren. Schon heute ist es aus dieser Perspektive heraus erstaunlich, dass kein wesentlicher Anteil der rund 16 Millionen bestehenden Ein- und Zweifamilienhäuser geschützt ist. Immerhin wird in ihnen eine sehr wesentliche Lebensform der Menschen manifest, auch wenn häufig die Ausformulierung der Gebäude keine höheren kunsthistorischen Weihen beanspruchen kann. Angesichts der Gebäudemassen der 1960er und 1970er-Jahre sind die Aspekte der lebensweltlichen und kunsthistorischen Bedeutung offenbar zunehmend schwierig zu synchronisieren. Möglicherweise geraten sie hier sogar in einen gewissen Widerspruch. Die Frage ist also weniger, mittels welcher Auswahlmechanismen die Denkmalpflege dem „Reliktmengenwachstum“ begegnen will, sondern eher, wie sie ihren Auftrag zur Kompensation eines kulturellen Vertrauensschwunds künftig interpretieren möchte.
Auf jedes Dornröschen kommen, rein statistisch, etwa 30 ungeschützte Geschwister, deren mögliche emotionale Bedeutung meist nicht mit einer hohen kunsthistorischen Relevanz einhergeht. Mit der in Zukunft hoffentlich steigenden Umbauquote stellt sich umso mehr die Frage, wie es gelingen kann, neben der reinen Bausubstanz auch identitätsstiftende Merkmale der Architektur zu erhalten. Wie also geht die Denkmalpflege mit all diesen Gebäuden um? Sich auf die Position des Historikers als Wächter des Dornröschens zurückzuziehen, ist da möglicherweise zu wenig. Viele der Geschwister haben gerade auch eine emotionale Funktion und benötigen eine entsprechende Beachtung. Vielleicht könnte diese Würdigung ja viel weniger museal daherkommen als die klassische Denkmalpflege. Vielleicht würde es ja genügen, bei einer anfallenden Umgestaltung bestimmte charakteristische Elemente des Bestands zu schützen? Ein Unterschied in der Behandlung oder auch eine breitere gesellschaftliche Basis der Eintragungspraxis könnte hier helfen.

Walter Crane, Ausschnitt aus dem Bilderbuch The Sleeping Beauty, 1876, George Routledge & Sons
Wie auch immer das in der Realität aussähe, könnte man so die Bezüge auf unterschiedliche Zeitsysteme sichtbar machen, die heute ja eher verschleiert werden. So etwas wird nicht ohne Konflikte zu haben sein. Zum einen ist eine Kategorisierung der Denkmäler im Denkmalgesetz nicht vorgesehen. Zum anderen würde auch eine vielleicht demokratisch legitimierte offenere Auswahl in jedem Fall tiefgreifende Konsequenzen für die Denkmalpraxis haben. Allerdings: Sobald es nicht mehr gelingt, die beiden Zeitachsen von Denkmalschutz in einer gemeinsamen Auswahl von Gebäuden zu vereinen, ist eine Differenzierung unvermeidlich. Der gesellschaftliche Aufwand, den wir „im Interesse der Allgemeinheit“ für Dornröschens Schlaf in Kauf nehmen, lässt sich langfristig nur rechtfertigen, wenn Denkmalpflege zu den beiden ihr immanenten Aufgabenbereichen eine konsistente Haltung einnimmt. Die kunsthistorisch möglichst korrekte Auswahl typischer Gebäude ist dabei genauso zu berücksichtigen wie die Bestimmung emotionaler Anknüpfungspunkte. Spielt sich der Denkmalschutz allein auf einer akademischen Ebene, jenseits der Lebenswirklichkeit einer Mehrheit ab, gerät seine Akzeptanz in Frage.
Ob es dagegen gelingen kann, dem Gros der Gebäude mit engem Bezug zur erlebten Zeit einzelner Menschen einen angemessenen Platz einzuräumen, hängt nicht zuletzt davon ab, wie hoch die Aufwendungen für ihren Schutz sein werden. Vielleicht müssen Dornröschens Geschwister nicht einmal mit Dornenhecken eingehegt, aber zumindest im übertragenen Sinne mit Blumenrabatten gekennzeichnet und herausgehoben werden, damit eine gesellschaftliche Wertschätzung auch für die Masse dieser Gebäude sichtbar wird.
Prof. Dipl.-Ing. Andreas Hild (*1961) studierte Architektur an der ETH Zürich und der TU München. 1992 gründete er zusammen mit Tillmann Kaltwasser das Büro Hild und Kaltwasser Architekten. Seit 1999 in Partnerschaft mit Dionys Ottl, seit 2011 mit Matthias Haber: Hild und K Architekten. Nach verschiedenen Lehraufträgen und Gastprofessuren wurde Hild 2013 auf die Professur für Entwerfen, Umbau und Denkmalpflege an der TU München berufen. Von 2017 bis 2021 leitete er als Dekan die dortige Fakultät für Architektur. Andreas Hild ist Mitglied des Redaktionsbeirats dieser Zeitschrift, er lebt und arbeitet in München.
Fußnoten
1 Bayerisches Denkmalschutzgesetz https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayDSchG
2 Eberl, Spennemann, Schindler, Friedrich, Gerstner: Bayerisches Denkmalschutzgesetz Kommentar 8. Überarbeitete Auflage Kohlhammer.
3 Lübbe Hermann: Im Zug der Zeit, Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. 2003, S. 58.
4 Lübbe, Hermann: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen. London 1982.
5 Gesetz zum Schutz und zur Pflege der Denkmäler, (Bayerisches Denkmalschutzgesetz – BayDSchG), vom 25. Juni 1973, (BayRS IV S. 354) BayRS 2242-1-WK
6 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/06/PD18_208_216.html.
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Kultur/Publikationen/Downloads-Kultur/spartenbericht-baukultur-5216206189004.pdf?__blob=publicationFile
7 Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, ISSN 2193-6390 Nr. 6 2016